Der Verschollene (eBook)

Roman

(Autor)

Jost Schillemeit (Herausgeber)

eBook Download: EPUB
2009 | 1. Auflage
432 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-400169-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der Verschollene -  Franz Kafka
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Mit dem Werkbeitrag aus Kindlers Literatur Lexikon. Mit dem Autorenporträt aus dem Metzler Lexikon Weltliteratur. Mit Daten zu Leben und Werk, exklusiv verfasst von der Redaktion der Zeitschrift für Literatur TEXT + KRITIK. Der 16-jährige Karl Roßmann aus Prag bricht auf, um in ?Amerika? (unter diesem Titel erschien der Roman zuerst 1927) ein neues Leben zu finden. Hier, in dieser radikal modernen und technisierten Welt, stehen ihm alle Türen offen. Kafkas Roman ist von der Vision der Freiheit und der grenzenlosen Möglichkeiten des Menschen geprägt. »Am schönsten an diesem Werk ist die tiefe Melancholie, die es durchzieht: hier ist der ganz seltene Fall, daß einer ?das Leben nicht versteht? und recht hat.« Kurt Tucholsky

Franz Kafka wurde am 3. Juli 1883 als Sohn jüdischer Eltern in Prag geboren. Nach einem Jurastudium, das er 1906 mit der Promotion abschloss, trat Kafka 1908 in die »Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt« ein, deren Beamter er bis zu seiner frühzeitigen Pensionierung im Jahr 1922 blieb. Im Spätsommer 1917 erlitt Franz Kafka einen Blutsturz; es war der Ausbruch der Tuberkulose, an deren Folgen er am 3. Juni 1924, noch nicht 41 Jahre alt, starb.

Franz Kafka wurde am 3. Juli 1883 als Sohn jüdischer Eltern in Prag geboren. Nach einem Jurastudium, das er 1906 mit der Promotion abschloss, trat Kafka 1908 in die »Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt« ein, deren Beamter er bis zu seiner frühzeitigen Pensionierung im Jahr 1922 blieb. Im Spätsommer 1917 erlitt Franz Kafka einen Blutsturz; es war der Ausbruch der Tuberkulose, an deren Folgen er am 3. Juni 1924, noch nicht 41 Jahre alt, starb.

I Der Heizer


Als der siebzehnjährige Karl Roßmann, der von seinen armen Eltern nach Amerika geschickt worden war, weil ihn ein Dienstmädchen verführt und ein Kind von ihm bekommen hatte, in dem schon langsam gewordenen Schiff in den Hafen von Newyork einfuhr, erblickte er die schon längst beobachtete Statue der Freiheitsgöttin wie in einem plötzlich stärker gewordenen Sonnenlicht. Ihr Arm mit dem Schwert ragte wie neuerdings empor und um ihre Gestalt wehten die freien Lüfte.

»So hoch«, sagte er sich und wurde, wie er so gar nicht an das Weggehn dachte, von der immer mehr anschwellenden Menge der Gepäckträger, die an ihm vorüberzogen, allmählich bis an das Bordgeländer geschoben.

Ein junger Mann, mit dem er während der Fahrt flüchtig bekannt geworden war sagte im Vorübergehn: »Ja haben Sie denn noch keine Lust auszusteigen?« »Ich bin doch fertig«, sagte Karl ihn anlachend und hob, aus Übermut und weil er ein starker Junge war, den Koffer auf die Achsel. Aber wie er über seinen Bekannten hinsah, der ein wenig seinen Stock schwenkend sich schon mit den andern entfernte, merkte er, daß er seinen Regenschirm unten im Schiff vergessen hatte. Er bat schnell den Bekannten, der nicht sehr beglückt schien, um die Freundlichkeit, bei seinem Koffer einen Augenblick zu warten, überblickte schnell die Situation um sich bei der Rückkehr zurechtzufinden und eilte davon. Unten fand er zu seinem Bedauern einen Gang, der seinen Weg sehr verkürzt hätte, zum erstenmal versperrt, was wahrscheinlich mit der Ausschiffung sämtlicher Passagiere zusammenhieng, und mußte sich seinen Weg durch eine Unzahl kleiner Räume, fortwährend abbiegende Korridore, kurze Treppen, die einander aber immer wieder folgten, ein leeres Zimmer mit einem verlassenen Schreibtisch mühselig suchen, bis er sich tatsächlich, da er diesen Weg nur ein oder zweimal und immer in größerer Gesellschaft gegangen war, ganz und gar verirrt hatte. In seiner Ratlosigkeit und da er keinen Menschen traf und nur immerfort über sich das Scharren der tausend Menschenfüße hörte und von der Ferne wie einen Hauch das letzte Arbeiten der schon eingestellten Maschine merkte, fieng er ohne zu überlegen, an eine beliebige kleine Türe zu schlagen an, bei der er in seinem Herumirren stockte. »Es ist ja offen«, rief es von innen und Karl öffnete mit ehrlichem Aufatmen die Tür. »Warum schlagen Sie so verrückt auf die Tür?« fragte ein riesiger Mann, kaum daß er nach Karl hinsah. Durch irgendeine Oberlichtluke fiel ein trübes oben im Schiff längst abgebrauchtes Licht in die klägliche Kabine, in welcher ein Bett, ein Schrank, ein Sessel und der Mann knapp neben einander wie eingelagert standen. »Ich habe mich verirrt«, sagte Karl, »ich habe es während der Fahrt gar nicht so bemerkt, aber es ist ein schrecklich großes Schiff.« »Ja da haben Sie recht«, sagte der Mann mit einigem Stolz und hörte nicht auf an dem Schloß eines kleinen Koffers zu hantieren, den er mit beiden Händen immer wieder zudrückte, um das Einschnappen des Riegels zu behorchen. »Aber kommen Sie doch herein«, sagte der Mann weiter, »Sie werden doch nicht draußen stehn.« »Störe ich nicht?« fragte Karl. »Ach wie werden Sie denn stören.« »Sind Sie ein Deutscher?« suchte sich Karl noch zu versichern, da er viel von den Gefahren gehört hatte, welche besonders von Irländern den Neuankömmlingen in Amerika drohen. »Bin ich, bin ich«, sagte der Mann. Karl zögerte noch. Da faßte unversehens der Mann die Türklinke und schob mit der Türe, die er rasch schloß, Karl zu sich herein. »Ich kann es nicht leiden, wenn man mir vom Gang hereinschaut«, sagte der Mann, der wieder an seinem Koffer arbeitete. »Da lauft jeder vorbei und schaut herein, das soll der Zehnte aushalten.« »Aber der Gang ist doch ganz leer«, sagte Karl, der unbehaglich an den Bettpfosten gequetscht dastand. »Ja jetzt«, sagte der Mann. »Es handelt sich doch um jetzt«, dachte Karl, »mit dem Mann ist schwer zu reden.« »Legen Sie sich doch aufs Bett, da haben Sie mehr Platz«, sagte der Mann. Karl kroch so gut es gieng hinein und lachte dabei laut über den ersten vergeblichen Versuch sich herüber zu schwingen. Kaum war er aber drin, rief er: »Gotteswillen, ich habe ja ganz an meinen Koffer vergessen.« »Wo ist er denn?« »Oben auf dem Deck, ein Bekannter gibt acht auf ihn. Wie heißt er nur?« Und er zog aus einer Geheimtasche, die ihm seine Mutter für die Reise im Rockfutter angelegt hatte, eine Visitkarte. »Butterbaum, Franz Butterbaum.« »Haben Sie den Koffer sehr nötig?« »Natürlich.« »Ja warum haben Sie ihn dann einem fremden Menschen gegeben?« »Ich hatte meinen Regenschirm unten vergessen und bin gelaufen ihn zu holen, wollte aber den Koffer nicht mitschleppen. Dann habe ich mich auch noch verirrt.« »Sie sind allein? Ohne Begleitung?« »Ja, allein.« Ich sollte mich vielleicht an diesen Mann halten, gieng es Karl durch den Kopf, wo finde ich gleich einen bessern Freund. »Und jetzt haben Sie auch noch den Koffer verloren. Vom Regenschirm rede ich gar nicht«, und der Mann setzte sich auf den Sessel, als habe Karls Sache jetzt einiges Interesse für ihn gewonnen. »Ich glaube aber, der Koffer ist noch nicht verloren.« »Glauben macht selig«, sagte der Mann und kratzte sich kräftig in seinem dunklen kurzen dichten Haar. »Auf dem Schiff wechseln mit den Hafenplätzen auch die Sitten, in Hamburg hätte Ihr Butterbaum den Koffer vielleicht bewacht, hier ist höchstwahrscheinlich schon von beiden keine Spur mehr.« »Da muß ich aber doch gleich hinaufschauen«, sagte Karl und sah sich um wie er herauskommen könnte. »Bleiben Sie nur«, sagte der Mann und stieß ihn mit einer Hand gegen die Brust geradezu rauh ins Bett zurück. »Warum denn?« fragte Karl ärgerlich. »Weil es keinen Sinn hat«, sagte der Mann. »In einem kleinen Weilchen gehe ich auch, dann gehn wir zusammen. Entweder ist der Koffer gestohlen, dann ist keine Hilfe und Sie können ihm nachweinen bis an das Ende Ihrer Tage oder der Mensch bewacht ihn noch immer, dann ist er ein Dummkopf und soll weiter wachen oder er ist bloß ein ehrlicher Mensch und hat den Koffer stehn gelassen, dann werden wir ihn bis das Schiff ganz entleert ist, desto besser finden. Ebenso auch Ihren Regenschirm.« »Kennen Sie sich auf dem Schiff aus?« fragte Karl mißtrauisch und es schien ihm, als hätte der sonst überzeugende Gedanke, daß auf dem leeren Schiff seine Sachen am besten zu finden sein würden, einen verborgenen Haken. »Ich bin doch Schiffsheizer«, sagte der Mann. »Sie sind Schiffsheizer«, rief Karl freudig, als überstiege das alle Erwartungen, und sah den Elbogen aufgestützt den Mann näher an. »Gerade vor der Kammer, wo ich mit den Slowacken geschlafen habe, war eine Luke angebracht durch die man in den Maschinenraum sehen konnte.« »Ja dort habe ich gearbeitet«, sagte der Heizer. »Ich habe mich immer so für Technik interessiert«, sagte Karl, der in einem bestimmten Gedankengang blieb, »und ich wäre sicher später Ingenieur geworden, wenn ich nicht nach Amerika hätte fahren müssen.« »Warum haben Sie denn fahren müssen?« »Ach was!« sagte Karl und warf die ganze Geschichte mit der Hand weg. Dabei sah er lächelnd den Heizer an, als bitte er ihn selbst für das nicht Eingestandene um seine Nachsicht. »Es wird schon einen Grund gehabt haben«, sagte der Heizer und man wußte nicht recht, ob er damit die Erzählung dieses Grundes fordern oder abwehren wolle. »Jetzt könnte ich auch Heizer werden«, sagte Karl, »meinen Eltern ist es jetzt ganz gleichgiltig was ich werde.« »Meine Stelle wird frei«, sagte der Heizer, steckte im Vollbewußtsein dessen die Hände in die Hosentaschen und warf die Beine, die in faltigen, lederartigen, eisengrauen Hosen steckten, aufs Bett hin, um sie zu strecken. Karl mußte mehr an die Wand rücken. »Sie verlassen das Schiff?« »Jawoll, wir marschieren heute ab.« »Warum denn? Gefällt es Ihnen nicht?« »Ja, das sind so die Verhältnisse, es entscheidet nicht immer, ob es einem gefällt oder nicht. Übrigens haben Sie recht, es gefällt mir auch nicht. Sie denken wahrscheinlich nicht mit Entschlossenheit daran Heizer zu werden, aber gerade dann kann man es am leichtesten werden. Ich also rate Ihnen entschieden ab. Wenn Sie in Europa studieren wollten, warum wollen Sie es denn hier nicht. Die amerikanischen Universitäten sind ja unvergleichlich besser.« »Das ist ja möglich«, sagte Karl, »aber ich habe ja fast kein Geld zum Studieren. Ich habe zwar von irgend jemandem gelesen, der bei Tag in einem Geschäft gearbeitet und in der Nacht studiert hat, bis er Doktor und ich glaube Bürgermeister wurde. Aber dazu gehört doch eine große Ausdauer, nicht? Ich fürchte, die fehlt mir. Außerdem war ich gar kein besonders guter Schüler, der Abschied von der Schule ist mir wirklich nicht schwer geworden. Und die Schulen hier sind vielleicht noch strenger. Englisch kann ich fast gar nicht. Überhaupt ist man hier gegen Fremde so eingenommen, glaube ich.« »Haben Sie das auch schon erfahren? Na, dann ist gut. Dann sind Sie mein Mann. Sehn Sie, wir sind doch auf einem deutschen Schiff, es gehört der Hamburg Amerika Linie, warum sind wir nicht lauter Deutsche hier? Warum ist der Obermaschinist ein Rumäne? Er heißt Schubal. Das ist doch nicht zu glauben. Und dieser Lumpenhund schindet uns Deutsche auf einem deutschen Schiff. Glauben Sie nicht« – ihm gieng die Luft aus, er fackelte mit der Hand – »daß ich klage um zu klagen. Ich weiß daß Sie keinen Einfluß haben und selbst ein armes Bürschchen sind. Aber es ist zu arg.« Und er schlug auf den Tisch mehrmals hart mit der Faust und ließ kein Auge von ihr, während er schlug. »Ich habe doch schon auf so vielen Schiffen gedient« – und er nannte zwanzig Namen hinter einander als sei es ein...

Erscheint lt. Verlag 5.10.2009
Reihe/Serie Franz Kafka, Gesammelte Werke in der Fassung der Handschrift (Taschenbuchausgabe)
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Klassiker / Moderne Klassiker
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Amerika • Anspruchsvolle Literatur • Brunelda • Freiheit • Gesellschaft • Karl Rossmann • Landstreicher • Liftjunge • Naturtheater • New York • Oklahama • Onkel • Roman • Sozialer Abstieg • Stationendrama • Überfahrt • Verführung
ISBN-10 3-10-400169-3 / 3104001693
ISBN-13 978-3-10-400169-2 / 9783104001692
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