Vita Classica (eBook)
480 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-400251-4 (ISBN)
Steffen Möller, Jahrgang 1969, ist in Wuppertal aufgewachsen. Nach dem Philosophie- und Theologie-Studium in Berlin ging er 1994 nach Polen, wo er zunächst als Deutschlehrer arbeitete und später den Kartoffelbauern Stefan Müller in der TV-Serie 'M jak Milosc' spielte. Heute ist er, gleich nach dem Papst, der bekannteste Deutsche jenseits der Oder. 2006 erschien in Polen sein Buch über die polnische Mentalität, das sofort zum Bestseller wurde. Kabarett-Auftritte führen ihn mittlerweile auch immer häufiger nach Deutschland. Für seine Verdienste um das deutsch-polnische Verhältnis erhielt Möller 2005 das Bundesverdienstkreuz und 2008 den Prix du Livre européen. Am 11.März 2011 erhält Möller den ITB BuchAwards 2011 in der Kategorie »Das besondere literarische Reisebuch«.
Steffen Möller, Jahrgang 1969, ist in Wuppertal aufgewachsen. Nach dem Philosophie- und Theologie-Studium in Berlin ging er 1994 nach Polen, wo er zunächst als Deutschlehrer arbeitete und später den Kartoffelbauern Stefan Müller in der TV-Serie "M jak Milosc" spielte. Heute ist er, gleich nach dem Papst, der bekannteste Deutsche jenseits der Oder. 2006 erschien in Polen sein Buch über die polnische Mentalität, das sofort zum Bestseller wurde. Kabarett-Auftritte führen ihn mittlerweile auch immer häufiger nach Deutschland. Für seine Verdienste um das deutsch-polnische Verhältnis erhielt Möller 2005 das Bundesverdienstkreuz und 2008 den Prix du Livre européen. Am 11.März 2011 erhält Möller den ITB BuchAwards 2011 in der Kategorie »Das besondere literarische Reisebuch«.
i Outing
Man darf nie vergessen,
dass die klassische Musik heute bestenfalls
fünf bis sieben Prozent
des Tonträgerangebots ausmacht.
Eric Hobsbawm [1]
Seit der Pubertät verstecke ich es. Aber nun ist Schluss mit der infantilen Geheimniskrämerei. Demnächst werde ich vierzig Jahre alt, Zeit für einen Schlussstrich unter die elende Heuchelei.
Eigentlich seltsam, dass ich mich nicht schon früher dazu durchringen konnte. Woran lag es? Fiel meine Jugend nicht in die Zeit der großen, bahnbrechenden Outings? Zerknirschte Heroinsüchtige wie Christiane F., zerrüttete Sexprotze wie Michael Douglas, fröhlich aufspielende Homosexuelle wie Elton John – aber auch geläuterte RAF-Terroristen, reumütige Sektenmitglieder, trockene Alkoholiker: für jeden war etwas dabei.
Irrtum, so schien es lediglich. Denn meine Perversion war trotz allem nicht dabei. Seit fast dreißig Jahren fehlt mir nun der Vorbild-Exhibitionist, am besten ein Leadgitarrist, ein Modedesigner oder ein Suhrkamp-Philosoph, der eine Bresche in die Mauer des Schweigens interviewen würde. Nicht einmal in Frauenzeitschriften, den breit schäumenden Heckwellen der Aufklärung, wurde mein Problem einer kritischen Spalte gewürdigt.
Und so tappe ich immer noch in der Schmuddelzone der Gesellschaft.
Heute aber will ich reden, in der vagen Annahme, dass es Leute wie mich in allen Winkeln des 21. Jahrhunderts geben muss, von der Wetterfee bis zum ICE-Schaffner.
Ihnen allen rufe ich zu: Bleibt an euren Arbeitsplätzen. Ich tue es für euch. Ich habe meinen Job gekündigt, eine anonyme Ferienwohnung gemietet, sitze gelöst auf einem Balkon in Südeuropa, mit Blick auf die schneebedeckten Alpen, und rufe allen Nachbarn zu – während im Hintergrund das Finale von Beethovens Eroica unter Hermann Scherchen jubelt:
ICH BIN EIN KLASSIK-FAN.
Meine Nöte beginnen bereits damit, dass mir keine bessere Bezeichnung für mich einfällt als das niedliche »Klassik-Fan«. Zuletzt benutzt habe ich das grauenvolle Wort zwangsweise an einem Oktobernachmittag in London. Als Höhepunkt eines schönen Sightseeing-Weekends hatte ich mir den Besuch im Kulturkaufhaus Virgin in der Oxford Street aufgespart.
Eine Weile lang schaute ich mir die CDs im Erdgeschoss an, dann begriff ich: Hier lag keine Klassik. Für solche Ware war das Erdgeschoss mal wieder viel zu schade. Per Rolltreppe fuhr ich in den ersten Stock hinauf und sah eine mindestens fünfzigköpfige Menschenmenge versammelt, meist Teenager in schwarzen T-Shirts. Sie drängelten sich vor einer gelb-schwarzen Leine und versperrten mir so den Durchgang zum zweiten Stockwerk, wo sich die Klassik befand. Hinter der Leine stand ein Autogrammtischchen, das von vier Securitys bewacht wurde. Banner und Handzettel kündigten eine Band an, die System of a Down heißen und in wenigen Minuten an diesem Tischchen Platz nehmen sollte, um ihre neue CD zu signieren.
Die Stars schienen bereits im Anmarsch zu sein, denn die Stimmung war freudig erregt, alles rief durcheinander. Ich drängelte mich bis zur Absperrleine durch; dank allgemeiner Vorfreude und englischer Höflichkeit war dies anstandslos möglich. »To the Classic Department«, raunte ich einem der Securitys leise ins Ohr und deutete zur Rolltreppe. Der Schwarzuniformierte verstand mich nicht: »Pardon?« Unter den Jugendlichen entstand Unruhe. Man argwöhnte einen abgefeimten Autogrammjäger, der sich die Pole-Position sichern wollte. »I am a classic fan«, flüsterte ich etwas lauter. Unterstützend deutete ich mit dem Arm hinauf ins zweite Stockwerk. Nun verstand mich der Wachmann und hob ruhig die gelb-schwarze Leine hoch, so dass ich auf die Rolltreppe springen konnte.
Mutterseelenallein fuhr ich in den zweiten Stock hinauf, die Menge schaute mir verblüfft hinterher. Rasch durcheilte ich die menschenleeren Jazz- und Weltmusik-Korridore und klinkte die Glastüre der Klassik-Abteilung auf. Die Atmosphäre verwandelte sich schlagartig; sie erinnerte jetzt an einen edlen Möbelladen mit schweren Perserteppichen. Aus den Deckenlautsprechern ertönte leise das Klaviertrio in H-Dur von Johannes Brahms. Ich befand mich in einer der größten Klassik-Abteilungen Europas; es war die Krönung meiner gesamten Englandreise. Hier gab es so gut wie jede lieferbare Klassik-CD.
Auf meine Frage nach Aufnahmen des Dirigenten Jascha Horenstein geleiteten mich zwei diskrete Verkäufer, die ein von Kunden weitgehend unbelästigtes Leben führten, zu einem Regal, das eigens mit »Horenstein« beschriftet war. Solche Sonderregale für Geheimtipp-Dirigenten gab es allenfalls in einem Dutzend Klassik-Abteilungen weltweit. Sofort erblickte ich eine langgesuchte Sammelbox mit raren Horenstein-Aufnahmen aus den fünfziger Jahren. Es war das Glück.
Zwei Stunden später verließ ich den schalldichten Klassik-Käfig, ein rot-weißes Virgin-Plastiktütchen mit elf CDs in der Hand, und fuhr wieder die Rolltreppe hinunter. Im ersten Stock war kein Mensch mehr zu sehen; nur Reste des geplatzten Absperrungsbandes sowie zerknüllte Flyer auf dem Erdboden kündeten von dem Menschenauflauf, der hier getobt hatte, während ich fünf Meter höher die Wonnen erfüllter Sehnsucht kostete.
Im Parterre wurde ich vom Wachmann höflich auf den nahenden Ladenschluss hingewiesen. Es war derselbe, dem ich mich als »classic fan« geoutet hatte. Guckte er mich zufälligerweise ein bisschen komisch an? Zweifel beschlichen mich, ob man auf Englisch überhaupt »classic fan« sagte.
*
Es betrübt mich aufrichtig, dass ich mich in einem so wesentlichen Punkt wie dem Musikgeschmack von den meisten Zeitgenossen unterscheide. Generell misstraue ich Sektierern, die sich in Privatwelten einkapseln, und rühme mich, ein Offener, Neugieriger, Wandlungsfähiger zu sein, der die europäische Integration unterstützt, Rezensionen der aktuellen Kinofilme studiert und SMS-Nachrichten mit dem Schnellschreib-System T9 tippt. Wer dieses System noch nicht kapiert hat und auf seinem Handy mühselig herumdrückt, statt flamingohaft über die Tasten zu huschen, muss sich herbe Vorwürfe von mir gefallen lassen.
Wie konnte es ausgerechnet mir passieren, im schallsicheren Ghetto der Klassik zu landen, dessen Abmessungen von Claudio Monteverdi bis Luigi Dallapiccola, von Johann Joseph Fux bis Hans Werner Henze reichen? Wie konnte die angelsächsische U-Musik, das wichtigste Integrationsmedium, die letzte Religion des Abendlandes, an mir abperlen wie an einem ungläubigen Atheisten?
Kein Jazz, kein Pop, kein Rock, keine Weltmusik – nein, kein einziger mildernder Umstand ist mir anzurechnen. Und so geht das seit meinem dreizehnten Geburtstag. Oh, wäre ich doch erst mit dreißig an die Klassik geraten, als Spätbekehrter! So aber wechselte ich direkt vom Stimmbruch in die Frührente. Alles wurde kompliziert – Pubertät, Schulzeit, Studium, meine ganze »Sozialisierung«. Im Fall eines Klassik-Fans sollte man zutreffender von einer »Asozialisierung« sprechen. Wie viel glaubwürdiger, kritikgefeiter stünde ich heute da, könnte ich mit einem breiten Grinsen verkünden: »Natürlich habe auch ich mit fünfzehn Jahren AC/DC, Police und Supertramp gehört. Aber dann, gegen Ende meiner irrenden Jugend, erlebte ich eine zünftige Bekehrung. Ich mutierte vom Judas-Priest besessenen Saulus zum Mendelssohn flötenden Paulus.«
Doch nein, es war mir nicht gegeben, musikalisch korrekt aufzuwachsen. Die U-Musik – ich boykottierte sie und habe mir in dreizehn Schuljahren vielleicht dreizehn Songs überspielt. Meine heiße Liebe gehörte Bruckners 7. oder Schostakowitschs 15. Symphonie. Und für diese Liebe litt ich, in brüsker Abkehr von allem, was da »achtziger Jahre« hieß. Wenn auf Klassenfahrten oder Partys – raren Partys! Einen Klassik-Fan lädt doch keiner ein – über Pop- und Rockgruppen gefachsimpelt wurde, konnte ich nicht einmal mitlästern.
Zentrale Elemente einer modernen Bildung fehlen mir heute so sehr, dass meine Umgebung mich beim Kneipenschunkeln oft ungläubig mustert: »Das kennst du nicht? Du kennst nicht ›Child in time‹ von Deep Purple?« Nein, ich kenne es wahrhaftig nicht. Mein erster Discobesuch fand im fernen Freiburg statt; da war ich zwanzig Jahre alt. John Lennons »Imagine« habe ich zum ersten Mal in einem polnischen Dorf vernommen, mit sechsundzwanzig Jahren. Kurz vorher, 1994, besuchte ich mein erstes Rockkonzert, Pink Floyds Auftritt im Berliner Olympiastadion, aber nur, weil man mich als Brezelverkäufer einstellte.
*
Im Eingangsbereich des Kopenhagener und auch des Hamburger Hauptbahnhofs werden die Passanten seit einigen Jahren von klassischer Musik berieselt; zuletzt hörte ich dort den zweiten Satz von Mendelssohns Violinkonzert e-moll. Hinter der provokanten Maßnahme steckt aber kein Geige spielender Bahnhofsdirektor, sondern knallharte Soziologie. Polizeiliche Studien haben nämlich ergeben, dass Boccherini, Haydn und Brahms die Zahl der Drogensüchtigen und Penner erheblich vermindern. Sei es, dass klassische Musik sogar eine Bahnhofshalle beseelt – weil sie vielleicht ein Gefühl von gutbürgerlichem Wohnzimmer erzeugt, in dem herumzurotzen schwerer fällt –, sei es, dass Violinkonzerte abstoßend wirken wie einst Walnussbäume, die die Insekten von den Bauernhöfen abhalten sollten: Ein Bahnhof wird sicherer, wenn er von einem Klassik-Mantel umhüllt wird. Auch die Rucksack-Touristen haben weniger Lust, ihre Isomatten auszurollen. Wenn ich...
Erscheint lt. Verlag | 29.1.2010 |
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Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
Literatur ► Romane / Erzählungen | |
Schlagworte | Anton Bruckner • Berlin • Essay • Johann Sebastian Bach • Jugendorchester • Klassik • Klavierunterricht • Krakau • Musikgeschichte • Romantik • Sachbuch • Symphonie • Warschau |
ISBN-10 | 3-10-400251-7 / 3104002517 |
ISBN-13 | 978-3-10-400251-4 / 9783104002514 |
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