Lotte in Weimar (eBook)

Roman

(Autor)

Werner Frizen (Herausgeber)

eBook Download: EPUB
2009 | 1. Auflage
476 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-400301-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Lotte in Weimar -  Thomas Mann
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Grundlage für Thomas Manns Goethe-Roman ist der historisch verbürgte Besuch Charlotte Kestners Goethes Jugendliebe und Vorbild für die Figur der Lotte im »Werther« 1816 in Weimar. 1939 ist der Roman unter schwierigen Bedingungen im Exil veröffentlicht worden. Im Rahmen der »Großen kommentierten Frankfurter Ausgabe« wird »Lotte in Weimar« zum ersten Mal nach der Handschrift ediert und damit von zahlreichen Lese- und Druckfehlern bereinigt. In der Textfassung der Großen kommentierten Frankfurter Ausgabe (GKFA), mit Daten zu Leben und Werk.

Thomas Mann, 1875-1955, zählt zu den bedeutendsten Schriftstellern des 20. Jahrhunderts. Mit ihm erreichte der moderne deutsche Roman den Anschluss an die Weltliteratur. Manns vielschichtiges Werk hat eine weltweit kaum zu übertreffende positive Resonanz gefunden. Ab 1933 lebte er im Exil, zuerst in der Schweiz, dann in den USA. Erst 1952 kehrte Mann nach Europa zurück, wo er 1955 in Zürich verstarb.

Thomas Mann, 1875 – 1955, zählt zu den bedeutendsten Schriftstellern des 20. Jahrhunderts. Mit ihm erreichte der moderne deutsche Roman den Anschluss an die Weltliteratur. Manns vielschichtiges Werk hat eine weltweit kaum zu übertreffende positive Resonanz gefunden. Ab 1933 lebte er im Exil, zuerst in der Schweiz, dann in den USA. Erst 1952 kehrte Mann nach Europa zurück, wo er 1955 in Zürich verstarb.

Zweites Kapitel


Charlotte fand lange die Ruhe nicht, die sie wohl nicht einmal aufrichtig suchte. Zwar verhüllte sie, nachdem sie die oberen Kleider abgelegt und sich, mit einem Plaid bedeckt, auf einem der Betten unter dem kleinen Mullhimmel ausgestreckt hatte, ihre Augen gegen die Helligkeit der Fenster, die ohne dunklere Vorhänge waren, mit einem Schnupftuch und hielt darunter die Lider geschlossen. Dabei aber trachtete sie nach ihren Gedanken, die ihr das Herz klopfen machten, mehr, als nach dem vernünftiger Weise wünschenswerten Schlummer, und dies umso entschiedener, als sie diese Unweisheit als jugendlich, als Beweis und Merkmal innerster Unverwüstlichkeit, Unveränderlichkeit durch die Jahre empfand und sich mit heimlichem Lächeln darin gefiel. Was jemand ihr einst geschrieben, auf einem Abschiedszettel: »Und ich, liebe Lotte, bin glücklich in Ihren Augen zu lesen, Sie glauben, ich werde mich nie verändern –«, ist der Glaube unserer Jugend, von dem wir im Grunde niemals lassen, und daß er Stich gehalten habe, daß wir immer dieselben geblieben seien, daß Alt werden ein Körperlich-Aeußerliches sei und nichts vermöge über die Beständigkeit unseres Innersten, dieses närrischen, durch die Jahrzehnte hindurchgeführten Ich, ist eine Beobachtung, die anzustellen unseren höheren Tagen nicht mißfällt, – sie ist das heiter-verschämte Geheimnis unserer Alterswürde. Man war eine sogenannte alte Frau, nannte sich spöttisch auch selber so und reiste mit einer neunundzwanzigjährigen Tochter, die noch dazu das neunte Kind war, das man dem Gatten geboren. Aber man lag hier und hatte Herzklopfen genau wie als Schulmädel vor einem tollen Streich. Charlotte stellte sich Betrachter vor, die das reizend gefunden hätten.

Wer lieber nicht vorzustellen war als Beobachter dieser Herzensbewegung, war Lottchen, die Jüngere. Trotz dem Versöhnungskuß hörte die Mutter nicht auf, ihr zu zürnen der »humorlosen« Kritik wegen, die sie an dem Kleide, den Schleifen geübt, und die im Grunde dieser ganzen, so würdig-natürlich zu begründenden und dennoch von ihr als »extravagant« beurteilten Reise galt. Es ist unangenehm, jemanden auf Reisen zu führen, der zu scharfblickend ist, um zu glauben, daß man seinetwegen reist, sondern sich als vorgeschoben erachtet. Denn ein unangenehmer, ein kränkender Scharfblick ist das, ein Scheelblick vielmehr, der von den verschlungenen Motiven einer Handlung nur die zart verschwiegenen sieht und nur diese wahr haben will, die präsentablen und sagbaren aber, so ehrenwert wie sie seien, als Vorwände verspottet. Charlotte empfand mit Groll das Beleidigende solcher, ja vielleicht aller Seelenkunde und hatte nichts andres im Sinn gehabt, als sie der Tochter Mangel an Leutseligkeit vorgehalten.

Haben denn sie, die Scharfblickenden, dachte sie, nichts zu fürchten? Wie, wenn man den Spieß umkehrte und die Motive ihres Spürsinns zu Tage zöge, die sich vielleicht nicht ganz in Wahrheitsliebe erschöpfen? Lottchens ablehnende Kälte, – nun, auch sie mochte ein boshafter Scharfblick durchschauen, auch sie bot zu Einblicken Anlaß und nicht zu sonderlich gewinnenden. Erlebnisse, wie sie ihr, der Mutter, zuteil geworden, waren diesem hochachtenswerten Kinde nun einmal nicht beschieden gewesen, noch würden sie ihm seiner Natur nach je beschieden sein: ein Erlebnis wie das berühmte zu dritt, welches so fröhlich, so friedlich begonnen hatte, dann aber dank der Tollheit des einen Teiles ins Quälend-Verwirrende ausgeartet und zu einer großen, redlich überwundenen Versuchung für ein wohlschaffen Herz geworden war, – um eines Tages, o stolzes Entsetzen, aller Welt kundzuwerden, ins Überwirkliche aufzusteigen, ein höheres Leben zu gewinnen und so die Menschen aufzuwühlen und zu verwirren wie einst ein Mädchenherz, ja, eine Welt in ein oft gefährlich gescholtenes Entzücken zu versetzen.

Kinder sind hart und unduldsam, dachte Charlotte, gegen das Eigenleben der Mutter: aus einer egoistisch verbietenden Pietät, die fähig ist, aus Liebe Lieblosigkeit zu machen, und die nicht löblicher wird, wenn einfach weiblicher Neid sich darein mischte, – Neid auf ein mütterliches Herzensabenteuer, der sich als spöttischer Widerwille gegen die weitläufigen Ruhmesfolgen des Abenteuers verkleidete. Nein, das gestrenge Lottchen hatte so furchtbar Schönes und schuldhaft Todsüßes nie erfahren wie ihre Mutter an dem Abend, als der Mann in Geschäften verritten gewesen und Jener gekommen war, obgleich er vor Weihnachtsabend nicht mehr hatte kommen sollen; als sie vergeblich zu Freundinnen geschickt und allein mit ihm hatte bleiben müssen, der ihr aus dem Ossian vorgelesen hatte und beim Schmerze der Helden überwältigt worden war von seinem eigenen allerdüstersten Jammer; als der liebe Verzweifelte zu ihren Füßen hingesunken war und ihre Hände an seine Augen, seine arme Stirn gedrückt hatte, da denn sie sich von innigstem Mitleid hatte bewegen lassen, auch seine Hände zu drücken, unversehens ihre glühenden Wangen sich berührt hatten und die Welt ihnen hatte vergehen wollen unter den wütenden Küssen, mit denen sein Mund auf einmal ihre stammelnd widerstrebenden Lippen verbrannt hatte …

Da fiel ihr ein, daß sie es auch nicht erfahren hatte. Es war die große Wirklichkeit, und unterm Tüchlein brachte sie sie mit der kleinen durcheinander, in der es so stürmisch nicht zugegangen war. Der tolle Junge hatte ihr eben nur einen Kuß geraubt – oder, wenn dieser Ausdruck zu ihrer beider Stimmung von damals nicht passen wollte: er hatte sie von Herzen geküßt, halb Wirbelwind, halb Melancholicus, beim Himbeersammeln, in der Sonne, – sie geküßt rasch und innig, begeistert und zärtlich begierig, und sie hatt' es geschehen lassen. Dann aber hatte sie sich hienieden geradeso vortrefflich benommen wie droben im Schönen, – ja, eben darum durfte sie dort für immer eine so schmerzlich edle Figur machen, weil sie sich hier zu verhalten gewußt hatte wie auch die pietätvollste Tochter es nur verlangen konnte. Denn es war in aller Herzlichkeit ein wirrer und sinnloser, ein unerlaubter, unzuverlässiger und wie aus einer anderen Welt kommender Kuß gewesen, ein Prinzen- und Vagabundenkuß, für den sie zu schlecht und zu gut war; und hatte der arme Prinz aus Vagabundenland auch Thränen danach in den Augen gehabt und sie ebenfalls, so hatte sie doch in ehrlich untadligem Unwillen zu ihm gesagt: »Pfui, schäm' er sich! Daß er sich so etwas nicht noch einmal beikommen läßt, sonst sind wir geschiedene Leute! Dies bleibt nicht zwischen uns, daß er's weiß. Noch heute sag' ich es Kestnern.« Und wie er auch gebeten hatte, es nicht anzusagen, so hatte sie es doch an dem Tage noch ihrem Guten redlich gemeldet, weil er's wissen mußte: nicht sowohl, daß jener es getan, als daß sie es hatte geschehen lassen; worauf sich denn Albert doch recht peinlich berührt gezeigt hatte und sie im Lauf des Gesprächs, auf Grund ihrer vernünftig-unverbrüchlichen Zusammengehörigkeit zu dem Beschlusse gelangt waren, den lieben Dritten nun denn doch etwas kürzer zu halten und ihm die wahre Sachlage entschieden bemerklich zu machen.

Unter ihren Lidern sah sie noch heute, nach soviel Jahren, mit erstaunlicher Deutlichkeit die Miene vor sich, die er bei dem überaus trockenen Empfang gemacht, den ihm die Brautleute am Tage nach dem Kuß und namentlich am übernächsten Tage bereitet, als er abends um zehne, da sie mit einander vorm Hause saßen, mit Blumen gekommen war, die so unachtsam waren aufgenommen worden, daß er sie weggeworfen und sonderbaren Unsinn peroriert, in Tropen geredet hatte. Er konnte ein merkwürdig langes Gesicht haben damals unter seinem gepuderten über den Ohren gerollten Haar: mit großer, betrübter Nase, dem schmalen Schatten des Schnurrbärtchens über einem Frauenmündchen und schwachem Kinn, auch traurig bittenden braunen Augen dazu, klein wirkend gegen die Nase, aber mit auffallend hübschen seidig-schwarzen Brauen darüber.

So hatte er dreingeschaut den dritten Tag nach dem Kuß, als sie, dem Ratschluß gemäß, ihm in dürren Worten erklärt hatte, damit er sich danach richte: daß er nie etwas andres werde zu hoffen haben von ihr als gute Freundschaft. Hatte er denn das nicht gewußt, – da ihm bei dem klaren Entscheid geradezu die Wangen eingefallen waren und er so blaß geworden war, daß Augen und Seidenbrauen sich in sehr dunklem Kontrast aus dieser Blässe hervorgetan hatten? Die Reisende verbiß ein gerührtes Lächeln unter ihrem Tuch indem sie sich dieser unvernünftig enttäuschten Kummermiene erinnerte, von welcher sie Kestnern nachher eine Beschreibung gemacht, die nicht wenig zu dem Entschlusse beigetragen hatte, dem lieben, närrischen Menschen zum Doppelgeburtstag, seinem und Kestners, dem verewigten 28. August, zusammen mit dem Taschen-Homer die Schleife zu senden, eine Schleife vom Kleide, damit er auch etwas habe …

Charlotte errötete unter dem Tüchlein, und der Schlag ihres dreiundsechzigjährigen Schulmädelherzens verstärkte, beschleunigte sich wieder. Dies wußte Lottchen, die Jüngere, noch nicht, daß ihre Mutter in der Sinnigkeit so weit gegangen war, an der Brust des vorbereiteten Kleides, der Nachahmung des Lottekleides, die fehlende Schleife auszusparen. Sie fehlte, ihr Platz war leer, denn Jener besaß sie, der Entbehrende, dem sie sie im Einvernehmen mit ihrem Verlobten zum Trost hatte zukommen lassen, und der das gutmütig gespendete Andenken mit tausend ekstatischen Küssen bedeckt hatte … Die Pflegerin Bruder Karls mochte nur kritisch die Mundwinkel senken, wenn sie diese Einzelheit der mütterlichen Erfindung entdeckte! Zu ihres Vaters Ehren war sie erdacht...

Erscheint lt. Verlag 1.12.2009
Reihe/Serie Thomas Mann, Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Werke, Briefe, Tagebücher
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Klassiker / Moderne Klassiker
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Anspruchsvolle Literatur • Charlotte Kestner • Deutschland • Edition • Goethe • Historischer Roman • Johann Wolfgang Goethe • Jugendliebe • Künstler • Moderne • Roman • Traumpaare • Weimar • Werther • Wirklichkeit
ISBN-10 3-10-400301-7 / 3104003017
ISBN-13 978-3-10-400301-6 / 9783104003016
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