Eine Bildungsreise
Im Juni vor zwei Jahren
Diesmal schien mit unserem Urlaub alles schiefzugehen. Dabei hatte ich mich auf die Reise ins schottische Hochland besonders gefreut. In meiner verträumten Art versorgten mich die alten Geschichten und Sagen von einsamen Mooren, düsteren Burgen, Barden und Druiden, geheimnisvollen Steinkreisen und wundersamen Wesen, die fern vom menschlichen Getriebe noch in der ungezähmten Natur existierten, mit sehnsüchtigen Fantasien.
Seit zwei Tagen waren wir unterwegs, und der heutige war für mich ungewöhnlich anstrengend gewesen, denn Tante Henrietta hatte sich eine Magenverstimmung zugezogen.
Tante Henrietta, die ältere Schwester meiner Mutter, kümmert sich seit deren Tod vor zwölf Jahren um mich. Inzwischen hatte ich zwar mein sechsundzwanzigstes Jahr erreicht, aber sie fühlte sich noch immer für mich verantwortlich. Vor allem, was meine Urlaube anbelangte. Sie war eine äußerst disziplinierte Frau, die die Aufgabe sehr ernst nahm, mir Haltung und Weltkenntnis mitzugeben. Darum machten wir jedes Jahr gemeinsam eine Bildungsreise. Nach meinen Wünschen selbstverständlich. Und auf ihre Kosten.
Das Unglück begann beim Mittagessen. Meine Tante machte es sich immer zur Pflicht, in jedem Land die typischen Gerichte zu essen, koste es sie, was es wolle. In Schottland musste es daher das Scotch Haggis sein, ein mit Innereien gefüllter Schafsmagen. Ich bin eigentlich auch ganz aufgeschlossen, was landestypisches Essen betrifft, aber hier war die Grenze des Erträglichen erreicht. Ich bestellte gedünsteten Lachs für mich. Tante Henrietta hatte mich missbilligend angesehen und todesmutig eine üppige Portion Schaf verspeist.
Das anschließende Geschaukel des Busses auf den schmalen, gewundenen Straßen war keine gute Kombination im Zusammenspiel mit diesem Gericht. Sie begann blasser und blasser zu werden und drückte sich verzweifelt ein Taschentuch an den Mund. Über das Tuch hinweg schenkte sie mir einen Blick, als ob ich schuld an dem Zustand der Straße sei.
Unsere Gruppe setzte sich überwiegend aus älteren Damen ohne Anhang zusammen. Sie waren uns fremd, bis auf eine Dame. Es war reiner Zufall, dass Hilde Liebmann, die mit Tante Henrietta seit vielen Jahren lose befreundet war, ebenfalls diese Reise gebucht hatte. Über die klebrige Art und Weise, wie sie sich uns sofort anschloss, war ich nicht sehr glücklich. Aber Tante Henrietta hatte mich nur warnend angesehen, als ich leise protestieren wollte. Trotzdem hatte sie sich nicht besonders intensiv mit ihr unterhalten. Frau Liebmanns Redeschwall versiegte denn auch bald in Tante Henriettas zugeknöpftem Schweigen.
Sie würde uns während der nächsten zwei Wochen erhalten bleiben, und bei dem Gedanken musste ich einen leichten Überdruss unterdrücken. Auch mich kannte sie schon seit meiner Kindheit, darum war ich für sie immer noch die kleine »Maggi«, obwohl ich es inzwischen vorzog, Margita genannt zu werden.
Als wir am Schlosshotel Drumnadruid Castle gegen vier Uhr aus dem Bus kletterten, grummelte Tante Henrietta leise vor sich hin. Ihr Missfallen galt dem Dudelsackspieler, der vor dem Tor des Hotels posierte und ziemlich schräg »Amazing Grace« pfiff. Wenn sie das Taschentuch nicht an die Lippen gepresst hätte, hätte sie es sich wahrscheinlich in die Ohren gestopft. Das zumindest konnte ich verstehen, wenngleich unsere anderen Mitreisenden mit verklärten Augen stehen blieben und zuhörten.
»Ach, Henrietta, ist das nicht originell, uns mit diesem alten Brauchtum zu empfangen. Ich bin sicher, wir werden uns hier sehr, sehr wohlfühlen«, säuselte Frau Liebmann neben uns.
»Urrgh!«, antwortete meine Tante vielsagend.
»Hach, dieses bezaubernde alte Schloss mit den trutzigen Türmen. Hoffentlich bekommen wir ein Zimmerchen da oben. Nicht, Maggi, dir würde das doch auch gefallen?«
Ich war unhöflich, aber Hilde Liebmann ging mir mehr und mehr auf die Nerven. Alles und jedes musste sie kommentieren, das war ihre hervorstechendste Eigenschaft. Den gesamten Nachmittag hatte sie schon ihre verbalen Schwallduschen über uns ergossen. Darum antwortete ich nun mit einem ähnlich erstickten Laut wie zuvor Tante Henrietta.
»Oh, und da ist auch schon unser Gastgeber, der Schlossherr. Seht mal, sogar im Kilt! Welchem Clan er wohl angehört? Ich habe schon sooo viel über diese Tartarenmuster gelesen. Er muss uns alles, alles erzählen!«
Ich sehnte mich inzwischen auch nach einem Taschentuch, aber nicht, um es mir an die Lippen zu pressen, sondern um Frau Liebmann damit zu knebeln. Manchmal habe ich solche gesellschaftlich nicht akzeptablen Sehnsüchte. Ich lasse es allerdings nicht zu, dass sie mich überwältigen, und zum Glück hatte der Busfahrer mittlerweile das Gepäck ausgeladen. Die hektische Sicherung des Eigentums begann. Zwanzig erfahrene Busreisende stürzten sich auf die Koffer und Taschen. Im unbekümmerten Leichtsinn meiner Jugend wartete ich einfach, bis alle ihre Besitztümer an sich genommen hatten und nur noch meine Tasche und Tante Henriettas Schalenkoffer neben dem Bus standen. Aber dieses Vorgehen ersparte mir ein paar blaue Flecke.
Allerdings nicht die Vorhaltungen von Tante Henrietta.
»Worauf wartest du so lange? Willst du, dass sich Hilde Liebmann an meinem Gepäck vergreift? Siehst du nicht, dass ich mich zu schwach fühle, mich um die Sachen zu kümmern?«
»Doch, Tante, das sehe ich.«
Ich wuchtete meine Tasche mit dem Riemen über die Schulter und versuchte, auch den sperrigen Koffer zu bewegen. Vorn, vor dem Eingang, bildeten unsere Mitreisenden schon einen Pulk, und ich schleppte mich mühsam die Auffahrt hoch, als ein Jeep mit einer Staubwolke an mir vorbeischoss und mich fast zu Fall brachte. Die Türen öffneten sich, und drei junge Männer sprangen heraus. Ihnen folgte langsamer, aber erheblich graziöser, eine Dame. Weißblondes, kinnlanges Haar glänzte wie ein Helm in der Sonne, die Seidenbluse und die grauen Flanellhosen saßen faltenlos und untadelig. Sie legte ihrem schwarzhaarigen Begleiter die Hand vertraulich auf die Schulter.
»Was ist das denn? Bustouristen? Wie absolut grässlich. Kenneth! Ken!? Ich dachte, ihr hättet ein einigermaßen stilvolles Haus ausgesucht, wenn es schon abseits in der Wildnis liegen muss. Und dann Kegelklubs in ganzen Busladungen – das ist doch unmöglich!«
Die Dame betrachtete uns über ihre aristokratische Nase hinweg, als wären wir aus der Köderdose der beiden Angler gekrochen, die sich ebenfalls dazugesellten.
»Das hat John-Tom geregelt. Wo ist der?«
»Kommt mit dem nächsten Jeep.«
Der dunkelhaarige junge Mann sah zu mir hin, und mich durchzuckte einen winzigen Augenblick der Gedanke, ich müsse ihn schon mal gesehen haben. Aber das konnte unmöglich sein, und er machte sich auch gleich bei mir unbeliebt, als er mit dem Finger auf mich zeigte und rief: »Hey, Sie da! Gehören Sie auch zu dem Klub da vorn?«
»Sie da« kann ich noch weniger leiden, als Maggi genannt zu werden. Dieser Mann, dem Aussehen und Benehmen nach eindeutig aus der Gattung karrierefixierter Jungmanager, weckte das Schlimmste in mir. Ich betrachtete mich gewöhnlich als eine graue Maus, aber in Momenten, in denen man mich derart herablassend behandelt, kriecht etwas Urtümliches meinen Rücken empor. Ich fühlte, wie meine Augen sich verengten und die Luft um mich herum kühler wurde.
»Ja, ich gehöre auch zu den Bildungsreisenden, die hier gebucht haben«, antwortete ich mit einer feinen Betonung auf dem Wort »Bildung«.
Es war ein glatter Schuss ins Knie.
»Ach ja, Bildung. Die wollen Sie sich auch noch aneignen? Dann achten Sie nur darauf, die passenden blauen Strümpfe anzuziehen, wenn’s dann so weit ist.«
Der Mensch drehte sich um, und ich wurde von einer zweiten Staubwolke umhüllt, denn der nächste Jeep preschte heran. Kaum war der Fahrer ausgestiegen, wurde er mit den Worten »John-Tom, was ist denn das für eine Pleite?« empfangen.
Knurrend zerrte ich das Gepäck Richtung Eingang. Ich fand mich leise schnaufend – Tante Henrietta pflegte offenbar Bleibarren in ihrem Koffer zu transportieren – in der Halle wieder, wo man sich um die Rezeption drängelte. Wenigstens hatte der Dudelsackspieler sein Ständchen beendet, und endlich bestand die Geräuschkulisse nur noch aus den lautstarken Anweisungen, mit denen sich die leicht Schwerhörigen über die Zimmerverteilung verständigten. Im Grunde konnte ich die Empörung der jungen Manager nachfühlen. Unsere Gruppe benahm sich nicht eben kultiviert.
Da es noch eine geraume Zeit dauern konnte, bis ich an die Reihe kam, hatte ich Muße, mich umzusehen. Im Gegensatz zum äußeren Erscheinungsbild von Drumnadruid Castle, das zu einem großen Teil aus Anbauten aus dem späten neunzehnten Jahrhundert bestand, schien die Halle zur ursprünglich mittelalterlichen Bausubstanz zu gehören. Sie wirkte recht anheimelnd. In einem riesigen Kamin brannte ein mächtiges Torffeuer, denn der Frühsommer war noch kühl und...