Eine Faust voll Sonne

Überlebensgedichte
Buch | Softcover
159 Seiten
2011
Zambon Verlag & Vertrieb
978-3-88975-175-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Eine Faust voll Sonne - Ferruccio Brugnaro
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Gedichte eines venezianischen Arbeiters

Ferruccio Brugnaro, Chemiearbeiter in Porto Marghera seit Beginn der 50er Jahre, wurde 1936 in Mestre geboren, ist Autodidakt und lebt in Spinea (Venedig). Er war für viele Jahre aktives Betriebsratsmitglied im Chemiekonzern Montefibre-Montedison und für Jahrzehnte eine der wichtigsten Persönlichkeiten in den Kämpfen der Arbeiterbewegung. 1965 beginnt Brugnaro in den Stadtvierteln, in den Schulen und unter den kämpfenden Arbeitern seine Gedichte, Erzählungen und Gedanken auf Flugblättern zu verteilen. Er ist einer der ersten in Italien, der Gedichte auf Flugblättern verbreitet. An den Mauern von Orgosolo (Sardinien) lassen sich noch in den 70er Jahren die von ihm geschriebenen Gedichte lesen. Er hat in vielen Zeitschriften publiziert, darunter La Fiera Letteraria, Letteratura, Nuovi Argomenti und Tempi Moderni. Teile seiner als Flugblätter veröffentlichten Texte werden vom Verlag Bertani gesammelt und unter den Titeln Vogliono cacciarci sotto (1975), Dobbiamo volere (1976) und Il silenzio non regge (1978) veröffentlicht. 1977 werden einige seiner Gedichte von dem Liedermacher Gualtiero Bertelli vertont. Brugnaros Gedichte werden in zahlreiche Anthologien aufgenommen, darunter Il pubblico della poesia, Poesia e realtà, Scrittori e industria, Cent’anni di letteratura, Poeti del dissenso und L’altro novecento. Zusammen mit anderen Arbeitern gründet er 1980 in Mailand die Zeitschrift abiti-lavoro, die Arbeiterliteratur veröffentlicht. 1984 erscheint im Auftrag der Genossenschaft Punti di mutamento das Werk Poesie. Im Oktober 1990 werden an die Mauern von Venedig und Mestre 500 Plakate mit Brugnaros Gedichten gegen den Krieg angebracht. Die gleichen Plakate werden im Januar 1991 auf den öffentlichen Plätzen in Rom angeschlagen. 1996 erscheint in der Zeitschrift Viceversa in Barcelona eine Auswahl seiner lyrischen Texte in einer spanischen Übersetzung von Carlos Vitale. 1997 werden elf seiner Gedichte von Kevin Bongiorni und Reinhold Grimm ins Englische übersetzt und in das Pembroke Magazine, eine internationale Zeitschrift der Universität von North Carolina, aufgenommen. 1998 erscheint in den Vereinigten Staaten im Verlag Curbstone sein Gedichtband Fist of Sun, in der Übersetzung des amerikanischen Dichters Jack Hirschman. In den letzten Jahrzehnten wurden seine Gedichte auch in Deutschland, Griechenland, England und China veröffentlicht. Im Jahr 2000 übersetzt Jack Hirschman für den Verlag Deliriodendron Press Partial portrait of Maria. 2002 erscheint in Frankreich im Verlag Editinter die Anthologie Le Printemps murit lentement, in der Übersetzung des Dichters Jean-Luc Lamouille, und in Italien veröffentlicht der Verlag Campanotto Ritratto di donna. 2004 werden in Spanien seine Gedichte unter dem Titel No puedo callarte estos días, in der Übersetzung von Teresa Albasini Legaz, veröffentlicht. 2005 erscheint das Buch Portrait of a Woman, in der Übersetzung von Jack Hirschman, in Berkeley. Und 2006 erscheint Verranno i giorni im Verlag Campanotto. 2007 nimmt Brugnaro am Poetry Festival in San Francisco teil. 2008 erscheinen in Frankreich im Verlag Editinter das Buch Ils veulent nous enterrer, in der Übersetzung von Béatrice Gaudy, und in Italien bei Bohumil das Hörbuch La mia poesia nasce come rivolta. Seine Texte erscheinen regelmäßig in internationalen Tageszeitungen und Zeitschriften. brugnaro

DIE GED ICHTE VON FERR UCC IO BRUGNAR O Die Gedichte von Ferruccio Brugnaro fordern uns heraus, sie zunächst einmal einzuordnen. Aber sie lassen sich nicht in den zahlreichen Strömungen der italienischen Literatur unterbringen. Jedwede Zuordnung in diese oder jene Strömung der italienischen Poesie wäre anzuzweifeln. Zahlreiche und teilweise lobenswerte Versuche wurden unternommen, um eine Verbindung zwischen dem Humus, in dem Brugnaros Lyrik entsteht, und den naturalistischen Erfahrungen der Nachkriegszeit (1945-1956) zu ziehen. Auch wenn diese Versuche uns als Anregung dienen, weit zu den Wurzeln einer literarischen Produktion zurückzugehen, die ab den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts sich außerhalb der Kultur der herrschenden Klasse entwickelt, überwiegen gewichtige Gründe, die uns überzeugen, dass im Rahmen der heutigen italienischen Literatur das Werk Brugnaros eine Einzelerscheinung ist. L iteratur und Arbeitswelt In der italienischen Literatur werden die industrielle Revolution und die Geburt des modernen Arbeiters mit großer Verzögerung wahrgenommen. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts treten in einem bekannten Werk der katholischen Romantik zwei Textilarbeiter auf, denen aus christlicher Perspektive einiges Interesse geschenkt wird.1 In den letzten dreißig Jahren des 19. Jahrhunderts werden die sozialen Probleme – aufgrund der Konzentration großer proletarischer Massen in den neu entstehenden industriellen Zentren – von kleinen intellektuellen Randgruppen wahrgenommen, die aber dem Aufkommen einer selbstbewussten und organisierten Arbeiterklasse kaum Aufmerksamkeit schenken und mehr oder weniger mitfühlend das Leben der Ärmsten der Gesellschaft beschreiben. Die Schriftsteller des Verismus sind am Industrieproletariat völlig desinteressiert und befassen sich hauptsächlich mit den regionalen Eigenarten der bäuerlichen Welt, die die die italienische Gesellschaft bis zum ersten Weltkrieg prägte. Die Bauern waren für sie ein Sinnbild der sozialen Starre und des unabwendbaren Schicksals der Besiegten. All diese unterschiedlichen literarischen Äußerungen über die Arbeitswelt entstehen außerhalb dieser Welt. Auch wenn im Laufe der Jahrhunderte über die Welt der Bauern eine Art folkloristisches Kulturgut gesammelt wurde, hatte das Industrieproletariat und die Arbeiterklasse bis zur zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts keine eigenständige literarische Stimme. Von diesen literarischen Äußerungen, die wichtig für die Erzählliteratur sind, aber in der Poesie fast völlig fehlen, sind im Werk von Ferruccio Brugnaro keine Spuren zu finden. Der Diskurs wird noch komplexer, wenn man seine Gedichte mit denen vergleicht, unterstützt wird. Der Zweite Weltkrieg und in Italien insbesondere der zwanzig Monate lang andauernde Befreiungskampf vom Nazifaschismus haben die sozialen und kulturellen Beziehungen zwischen den Klassen tiefgehend verändert: Die vom Proletariat in diesem Befreiungskampf übernommene Rolle hat bewirkt, dass – nach dem Ende des Kampfes – Arbeiter und Bauern sich nicht mehr in die Rolle der Unterdrückten zwingen lassen. Und die Arbeiterklasse drängt nunmehr danach, die Führungsrolle zu übernehmen. Auch wenn sie ihr Ziel nicht erreicht, wird sie doch zur Mitgestalterin des sozialen und politischen Lebens, obwohl es ihr noch immer an Instrumenten der Kommunikation und der Kulturarbeit mangelt. Das Kriegstrauma, die moralische Krise, von der sich Italien mittels des Befreiungskampfes mühsam erholt, hat die Intellektuellen, die meistens aus kleinbürgerlichen Schichten stammen, tief beeinflusst. In der Resistenza haben die Intellektuellen neben dem Proletariat gekämpft, ohne die Führungsrolle wie üblich zu übernehmen: Die Intellektuellen haben im Proletariat die politische Organisationsfähigkeit und seine politische Perspektive, die Gesellschaft sozial und moralisch zu erneuern, erkannt. Und von diesen Intellektuellen – Filmleuten, Bildhauern, Schriftstellern, Dichtern – geht eine treibende Kraft aus, die von den politischen, wirtschaftlichen und gewerkschaftlichen Organisationen des Proletariats und allen damit verbundenen kulturellen Strukturen unterstützt wird, und es entsteht eine Strömung, die als Neo-realismus bekannt wird. Den ausländischen Leser wollen wir hier nicht mit den ihn wenig interessierenden Definitionen aufhalten, wir möchten aber betonen, dass der Neorealismus in seinem kurzen Leben eine Variante des Populismus war – und zwar die national-populäre Variante – und somit die Geschichte und die Kultur des gegenwärtigen Italiens sicher nicht negativ beeinflusst hat. Der Schriftsteller Asor Rosa schreibt: „Der Populismus als Tendenz zeigt sich im Allgemeinen bei jenen Schriftstellern oder bei jenen Strömungen, die die nationale Literatur vor Augen haben und sich dem Problem der politischen und ideologischen Hegemonie stellen.“ Bei diesen handelt es sich um eine „sehr lebendige intellektuelle Schicht, die aber nicht zu einer politischen Klasse wird 5 und deshalb ihre gesamten progressiven Ideen in eine Mythisierung des Volkes“ steckt. „Welches sind grundsätzlich die Eigenschaften des Populismus?“, fragt sich Asor Rosa6 und liefert auch die Antwort: „Die Überzeugung, wenn auch mit graduellen Unterschieden, dass das Volk in sich positive Werte besitzt, die der korrupten Gesellschaft, der Ungerechtigheit des Schicksals und der Menschen, der brutalen Gewalt der Ungleichheiten entgegenzusetzen sind.“ Die von Asor Rosa so klar gelieferte Definition des Populismus lässt aber unberührt die Zweideutigkeit, die mit dem Begriff Volk verbunden ist. Und wenn wir hier diesen Aspekt der Kritik von Asor Rosa erwähnen, so wollen wir doch nicht die ganze Geschichte dieses Begriffes aufrollen – von den gegensätzlichen katholischen und laienhaften Idealisierungen der Romantik, bis zu denjenigen der Demokratie zu den Zeiten des italienischen Risorgimento im 19. Jahrhundert, von der angeblichen Objektivität der Veristen bis zu den verschiedenen Selbstannahmen der Volksvertreter im 20. Jahrhundert – trotzdem erscheint es uns aber zweckmäßig zu bemerken, dass die italienische Literatur nach den Jahren des Widerstandes eine andere Realität widerspiegelt. Und hier zeigt sich dann der Begriff Volk in seinem wesentlichen Kern: In die Literatur findet Eingang der genaue und unmissverständliche Begriff der Klasse. Nicht mehr demütige, besiegte, nicht mehr nur einfache Bauern, nicht mehr nur passive oder hilflose Objekte der Geschichte, sondern aktive und militante Subjekte der Geschichte. Und doch wird diese Welt der Arbeit – jetzt nunmehr hauptsächlich als Industriearbeit – von draußen dargestellt, ist nicht in der Lage, sich selber zu repräsentieren. Sie findet aber Eintritt in die Poesie, mit schwachen Stimmen, ohne ein nationales Echo. In den Jahren nach 1960 bedeutet die politische Niederlage der fortschrittlichen Demokratie in Italien (hiermit ist die KPI gemeint, A.d.Ü) das Ende des Neorealismus in der Filmwelt und das Verschwinden der national-populären Literatur, die sich damals auf kultureller und künstlerischer Ebene gezeigt hatte. In der Darstellung der Industrie- und Arbeitswelt erscheinen neue Interpretationsformen, die komplexer und dialektischer sind als die einfachen und grundsätzlich optimistischen Formen, die unmittelbar nach der Befreiung herrschten. In den Romanen von Ottieri, Volponi, Levi, Bianciardi8 existiert die große moderne Fabrik nicht nur als Ort der Entfremdung (ein Begriff, der über die Marx’sche Definition hinausgeht), sondern die Fabrik, nicht mehr der Mensch, ist der eigentliche Protagonist, nämlich der Moloch, der sowohl den Menschen als auch die ihn umgebende Gesellschaft auffrisst. Es gibt jetzt keine Sicherheit ausstrahlenden Hegemonien mehr. Überrascht von neuen und unvorhergesehenen gesellschaftlichen und industriellen Entwicklungen – die innere Migration, die explosionsartige Entwicklung der Chemieindustrie im Vergleich zu der traditionellen Metallverarbeitung und der Maschinenproduktion, das Verschwinden überholter Produktionsmethoden und die neue Arbeitsorganisation – verlieren die Schriftsteller jegliches Interesse für die Arbeitswelt. Der italienische Kapitalismus, der sich wirtschaftlich und politisch in der ersten Hälfte der 60er Jahre konsolidiert hat, feiert die Siege des Konsumismus und schafft es, die latenten Widersprüche, die typisch für diese Entwicklung sind, zu neutralisieren. Auf literarischer Ebene dominiert die Ideologie der herrschenden Klasse9 und doch entwickeln sich innerhalb dieser gefestigten Struktur neue Bewegungen, mit neuen Anforderungen, die nicht nur wirtschaftlicher, sozialer und politischer Art sind, sondern zum ersten Mal auf die gesamte Gesellschaft Einfluss nehmen: auf die Sitten, auf die Beziehungen zwischen Leben und Kultur, auf die Art und Weise, wie sich Hunderte und Hunderte von Frauen und Männer äußern, die in der Vergangenheit keine eigene Stimme hatten. Innerhalb dieser neuen realen Welt, die aus Italien ein modernes Industrieland macht, entwickelt sich die künstlerische Kreativität der Arbeiter – noch vor dem Aufkommen der Arbeiter- und Studentenkämpfe in den Jahren 1968 bis 1970. Ohne unmittelbare Bindungen zur Kunst- und Literaturtradition der herrschenden Klasse verwenden diese kreativen Künstler ungehemmt die verschiedenartigsten Ausdrucksformen, ohne sich auf die normalen Strukturen des Kulturmarktes zu stützen, indem sie ganz neue, selbständig verwaltete, wenn auch vergängliche Strukturen schaffen. Allmählich beginnen Namen und Texte von Vincenzo Guerrazzi, Luigi Di Ruscio, Tommaso Di Ciaula, Egidio Ferrero10 in den Fabriken, in den Schulen, in den besetzten Universitäten Verbreitung zu finden. In Marghera (Venedig), bei den Arbeiterdemonstrationen, unter Tausenden von Flugblättern, die die Zeit des Kampfes und die Themen der politischen Debatte begleiten, gehören die Gedichte von Ferruccio Brugnaro unumstößlich dazu. D ichtung und Fabrik Ferruccio Brugnaro ist den politischen Aktivisten, den Protagonisten der Arbeiterversammlungen nicht unbekannt, denn er ist einer der Gewerkschaftsführer des großen Industriekonzerns Petrolchimico, der von den 50er bis zu den 90er Jahren das produktive und soziale Leben in Venetien geprägt hat. Brugnaros Dichtung, die anscheinend aus der Fabrik stammt, diese dann aber verlässt, macht seine Arbeits- und Kampfkollegen zunächst stutzig, denn sie verstehen, dass diese harten Verse, ohne Zugeständnisse an Rhythmus und Wortwahl, genau das sagen, was die Arbeiter selbst nicht ausdrücken können. Und diese Verse verunsichern auch diejenigen, die sich in Konflikten, in der Schule und in der Kultur auf die Arbeiterklasse beziehen, ohne dass sie selbst den Alltag, der die Entfremdung des Arbeiters verursacht, kennen. Und die Verbreitungsart der ersten Verse von Brugnaro selbst scheinen ihre Instrumentalisierung beim Klassenkampf zu rechtfertigen, scheinen die zurückhaltende Aufnahme durch die Berufskritiker aus den Kreisen der offiziellen Kultur zu rechtfertigen. Brugnaro wird einer neuen typologischen und kulturellen Kategorie zugeteilt, derjenigen des „Arbeit-Dichters“. Und doch befreit in jenen Jahren die leise Stimme von Andrea Zanzotto Brugnaros Dichtung aus solchen Stereotypen und beginnt eine kritische Erörterung zu liefern, die erst viele Jahre später wiederentdeckt wird.11 „In der Poesie von Brugnaro erscheint eine Realitäti, die sich entsetzlich derjenigen des Krieges nähert: Das ist die Realität in der Fabrik … heute … In diesen Versen finden wir die bleichen Morgen der Hölle nach den Schichten, den Rauch und den Lärm, die einen aufzehren, den kleinen Tod, die undefinierbare und unaufhaltbare Veränderung der Menschen, die zu einer leblosen Sache werden. Man erlebt also, nach heutigen Begriffen, eine ähnliche Erfahrung, wie der Dichter Ungaretti sie in den Schützengräben von Carso während des Ersten Weltkriegs machte, eine Erfahrung, die heute überhaupt nicht als außergewöhnlich, die sogar als banal erscheint, eine Erfahrung, die kein Ende zu nehmen scheint und den Menschen in Stein oder plastisch-chemisches Material verwandelt. Die Fabrik, wie sie uns von Brugnaro vorgestellt wird, ist heute der Ort der Negation des Menschlichen – genau wie es die Schlachtfelder von Ungaretti waren. In diesem Bild gibt es aber auch Unterscheidungsmerkmale. Denn die Fabrik ist ja – grundsätzlich – ein positiver Ort, der es dem Menschen gestattet, zu produzieren, etwas zu geben, sich also zu befreien und die anderen zu befreien: Sie wäre der Sitz einer natürlichen Vitalität, mehr als man dies zugeben will. Die Fabrik ist kein Schützengraben. Und wenn sie etwas Schlimmeres als ein solcher Graben werden sollte, dann ist dies auf die entmenschlichende Kraft der sozialen Strukturen zurückzuführen“. Selbstkritisch, auch wenn die Selbstkritik in diesem Fall ohne Belang ist – könnten wir sagen, dass wir Brugnaros Gedichte als eine Art Fabriktagebuch gelesen und wahrgenommen haben. Ein Tagebuch, in dem der Dichter – unter dem Einfluss der sich ständig wiederholenden Arbeitsbewegungen – ein unausweichliches Schicksal ohne Grund und Ziel beschreibt. Wenige Jahre später wurden seine Verse in einem Band gesammelt12 und gestatteten uns, seine Themen und seinen Stil objektiver zu betrachten, die Besonderheiten zu entdecken, die ihn zu einem literarischen Fall machen, der in der heutigen italienischen Literatur einmalig ist. Und wir bemerken dabei, dass in der Poesie von Brugnaro paradoxerweise die Fabrik nicht existiert. In seinen Versen steht niemals, wie man arbeitet, welche Materialien und welche Werkzeuge benutzt werden, was man produziert (nur einmal wird PVC genannt): In seiner Dichtung ist die Fabrik ein Ort, an welchem der Mensch unter dem Zwang einer allgegenwärtigen, nicht metaphysischen Kraft steht. Aber es ist immer der Mensch und nicht die Fabrik, die Brugnaros Dichtung fokussiert. Dieser Schwerpunkt schließt ein für alle Mal die bequeme Ettikettierung aus, mit der man – bewusst oder unbewusst – versucht hat, Brugnaro an Rand der offiziellen Literatur zu drängen. D ie Horizonte eines Dichters. Ferruccio Brugnaro akzeptiert und lebt die Wirklichkeit, er ist ein Dichter der Menschen, ihrer Wünsche, ihrer Klagen und Hoffnungen. Er befreit geduldig und beharrlich seine eigene menschliche Anspannung von der alles einnehmenden Monotonie der Zeit in der Fabrik – jeden Tag, alle Tag. Er verliert sich nicht in den Arbeitsrhythmen, die Geist und Körper lähmen: In diesen seinen Gedichten sind die Arbeiter niemals eine Masse, kein Forschungsobjekt für angepasste Soziologen, sondern Menschen, die gemeinsame, solidarische Werte vertreten. Und so erblüht seine Dichtung in der Suche nach der Menschlichkeit, die unter der erzwungenen Uniformität der Arbeitskleidung, während die Säuren unbemerkt zuschlagen, in der tristen Peripherie weiterlebt: Es ist nicht nur der Schmetterling, der sich niederlässt auf einem Fuß oder die Amsel, die sich in der großen Fabrikhalle verirrt hat, die uns eine lyrische Empfindung schenken. Es ist seine große Fähigkeit, die Ausdauer desjenigen, der sein Haus in der grauen Vorstadt heiter und mutig grün haben will. Es ist seine Fähigkeit, seine Poesie, seine Stimme aus den Toren der Fabrik hinausgehen zu lassen. Draußen wartet ein anderer Kampf, der vielleicht leichter ist, aber auch hinterhältiger. Mit diesem Kampf fordert er zu einer erneuten Bewusstwerdung auf. Und dies ist der Kampf gegen die subtile Entfremdung der modernen Gesellschaft, die die Herrschenden ohne Ideale und vom Konsumismus erstickt haben wollen. Eine Gesellschaft, die jede Veränderung verhindert und in die Menschen geschichtslos leben sollen. Die Spannung seiner Dichtung öffnet uns neue Horizonte: So wie in der Fabrik einfache Gesten zeigen können, dass der Mensch gegen die zermalmenden Räder des Kapitals rebelliert. So sagt uns der Dichter, dass Millionen von Menschen tagtäglich gegen die Macht des Kapitals und gegen das Gesellschafts- und Lebensmodell, das uns diese Macht aufzwingt, kämpfen. Und dies sagt er uns mit seinen bewährten Mitteln, mit seinem auffordernden Rhythmus, seinen unablässigen Wiederholungen, mit denen er den Reichtum der Gefühle ans Licht bricht. Es sind diese Gefühle, die wiederum machen, dass der Mensch Mensch bleibt und kein Objekt oder Werkzeug wird. Seine Poesie ist ein Aufschrei gegen ferne und ungerechte Kriege, sie ist eine Stimme der Brüderlichkeit, aber auch eine über sich selbst erstaunte Fähigkeit, einfache und tiefe Gefühle auszusprechen. Ohne die im Menschen verwurzelte Intimität und Individualität zu gefährden, entnimmt der Mensch, der Dichter neue Stärke, um die Macht der Menschlichkeit gegen das Unmenschliche, das uns zu vernichten versucht, zu betonen. Wir haben bereits erwähnt, dass seine ersten Gedichte kein Fabriktagebuch waren; jetzt sagen wir, dass das Teilportrait von Maria, das in dieser Sammlung enthalten ist, auf keinen Fall ein privates Tagebuch ist: Es ist Teil einer Lebensanschauung, die allgemein und wahrhaftig ist und ein unverzichtbarer Ausdruck seiner Gedichte ist. Ferruccio Brugnaro erscheint in der gegenwärtigen italienischen Literatur als einer der Wenigen, welche vom täglichen Arbeiterleben erzählen. Seine absolut reine und vollkommen wahre Stimme ist die Stimme einer neugeborenen Menschheit, zart, unsicher, aber lebendig. Innerhalb einer mächtigen, gebieterischen Welt, die trotz ihrer Anmaßung unbemerkt schon die Keime ihres Todes in sich birgt. Francesco Moisio, April 2006

Erscheint lt. Verlag 15.5.2011
Sprache deutsch; italienisch
Original-Titel Un Pugno di Sole
Maße 140 x 210 mm
Gewicht 165 g
Einbandart Paperback
Themenwelt Literatur Zweisprachige Ausgaben Deutsch / Italiensich
Schlagworte Arbeiterpoesie • Überlebensgedichte • Venezianer
ISBN-10 3-88975-175-X / 388975175X
ISBN-13 978-3-88975-175-1 / 9783889751751
Zustand Neuware
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