Man muss kein Held sein

Auf welche Werte es im Leben ankommt
Buch | Softcover
352 Seiten
2010
Goldmann Verlag
978-3-442-15657-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Man muss kein Held sein - Chesley B. Sullenberger, Jeffrey Zaslow
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Die Autobiographie des "Helden vom Hudson" - eine sehr persönliche, spannend erzählte Liebeserklärung an das Fliegen


Flugkapitän Chesley ("Sully") Sullenberger ist seit seiner spektakulären Notlandung auf dem Hudson River in New York im Januar 2009 auf der ganzen Welt bekannt. Der "Held vom Hudson", der mit seiner Besonnenheit und Tatkraft nicht nur seine Landsleute tief beeindruckt hat, erzählt in diesem Buch "seine" Geschichte. Was ihn letztlich zu seiner Ausnahmetat befähigte, davon geben seine Ideale und gelebten Werte Zeugnis. Es ist die sehr persönliche und spannend erzählte Geschichte eines außergewöhnlichen Mannes, der über Nacht zu Ruhm gelangte.


Chesley ("Sully") Sullenberger, geboren 1951 in Denison, Texas, ist Flugkapitän der US Airways und seit seiner spektakulären Notwasserung eines Airbus im Hudson am 15. Januar 2009 weltbekannt. Er fliegt seit seinem 16. Lebensjahr und absolvierte die U.S. Air Force Academy. Bis 1980 war er Kampfpilot bei der U.S. Air Force, danach wechselte er in die zivile Luftfahrt.

Jeffrey Zaslow, Journalist und Kolumnist beim Wall Street Journal.

Ein Flug, den man nie vergisst Der Flug dauerte nur ein paar Minuten, aber so viele Einzelheiten sind mir noch immer gegenwärtig. Der Wind kam nicht von Süden, sondern von Norden, was für diese Jahreszeit völlig ungewöhnlich war. Meine Räder verursachten ein ganz besonderes rumpelndes Geräusch, als sie über diese kleine ländliche Flugpiste im tiefsten Texas rollten. Ich erinnere mich noch an den Geruch von heißem Motorenöl, der in mein Cockpit drang, als ich mich auf den Start vorbereitete. Außerdem schwebte der Duft von frisch geschnittenem Gras in der Luft. Ich weiß noch genau, wie sich mein Körper anfühlte und wie mich dieses Gefühl erhöhter Aufmerksamkeit durchströmte, als ich zum Ende der Landebahn rumpelte, noch einmal meine Checkliste durchging und mich zum Start fertig machte. Und ich erinnere mich noch an den Augenblick, als sich das Flugzeug in die Lüfte erhob und ich ganze drei Minuten später bereits zur Landebahn zurückkehren musste. So kurz diese Zeit auch war, erforderte sie doch meine ganze Konzentration. Es ist fast so, als ob das Ganze erst gestern passiert wäre. Ein Pilot wird in seinem Leben Tausende Male starten und landen, und es wird danach meist nur eine verschwommene Erinnerung zurückbleiben. Aber da gibt es fast immer auch diesen ganz besonderen Flug, der ihn herausfordert, ihn etwas lehrt oder sogar völlig verändert. Jeder einzelne Moment dieser Erfahrung wird ihm dann für immer im Gedächtnis haften bleiben. Ich habe in meinem Leben bereits einige unvergessliche Flüge erlebt, die auch jetzt noch eine ganze Fülle von Gefühlen und Gedanken hervorrufen. Einer von ihnen führte mich an einem kalten Januartag des Jahres 2009 auf den Hudson River vor New York. Aber davor war der vielleicht wichtigste Flug der, den ich gerade beschrieben habe: mein erster Alleinflug an einem späten Samstagnachmittag von einer Graspiste in Sherman, Texas, aus. Man schrieb den 3. Juni 1967, und ich war 16 Jahre alt. Erlebnisse wie diese haben mich als Jungen, als Mann und als Piloten geformt. In der Luft und am Boden haben mich viele eindringliche Lektionen, Erfahrungen, aber auch Menschen zu dem gemacht, was ich heute bin. Dafür bin ich sehr dankbar. Es erscheint mir beinahe, als ob diese Augenblicke in meinem Leben auf einer Bank aufbewahrt worden wären, bis ich sie einmal brauchen würde. Als ich fast im Unterbewusstsein den Flug 1549 sicher auf dem Hudson landete, konnte ich auf diese Erfahrungen zurückgreifen. Mit vier Jahren wollte ich ein paar Monate lang Polizist und dann Feuerwehrmann werden. Als ich jedoch fünf wurde, wusste ich bereits genau, was ich mit meinem Leben anfangen wollte: fliegen. Diese Idee ging mir nie wieder aus dem Kopf. Vielleicht sollte ich besser sagen, dass sie in Form der Kampfflugzeuge »über mich kam«, die über meinem Elternhaus außerhalb von Denison, Texas, die Wolken durchpflügten. Wir lebten an einem See in einer schwach besiedelten Gegend 15 Kilometer nördlich der Perrin-Luftwaffenbasis. Da es dort kaum Häuser gab, flogen die Jets in einer Höhe von nur etwa 900 Metern, sodass man sie immer kommen hörte. Mein Vater lieh mir oft seinen Feldstecher, und ich schaute mit Begeisterung in die Ferne zum Horizont und fragte mich, wie es wohl dahinter aussah, was mein Fernweh nur noch steigerte. Diese Kampfjets waren nicht zuletzt deshalb so aufregend, weil sie mit ungeheurer Geschwindigkeit auf einen zurasten. Wir reden hier ja von den Fünfzigerjahren, als diese Maschinen um einiges lauter waren als die heutigen Kampfflugzeuge. Trotzdem habe ich in meinem Teil von Nordtexas nie jemanden getroffen, dem dieses Getöse etwas ausgemacht hätte. Wir hatten gerade erst den Zweiten Weltkrieg gewonnen, und unsere Luftwaffe war eine Quelle des Stolzes. Erst als sich Jahrzehnte später die Anwohner von Luftwaffenstützpunkten über den Lärm zu beschweren begannen, fühlten sich die Piloten zu einer Antwort genötigt. Sie ließen sich Autoaufkleber drucken: »DÜSENJÄGERLÄRM: DER SOUND DER FREIHEIT. Alles an diesen Flugzeugen fand ich aufregend: Ihre unterschiedlichen Geräusche, ihr Aussehen, die physikalischen Grundlagen, die es ihnen erlaubten, über den Himmel zu jagen, und vor allem die Männer, die sie mit einer solchen offensichtlichen Meisterschaft beherrschten. Ich baute mein erstes Modellflugzeug im Alter von sechs Jahren. Es war eine Replik von Charles Lindberghs Spirit of St. Louis. Ich las eine Menge über »Lucky Lindy« und begriff bald, dass sein erfolgreicher Atlantikflug nichts mit »Luck«, mit »Glück«, zu tun gehabt hatte. Er plante exakt, bereitete alles genau vor, und er gab niemals auf. Das machte ihn für mich erst zu einem echten Helden. 1962, als ich elf Jahre alt war, verschlang ich bereits alle Bücher und Magazine über das Fliegen, die ich finden konnte. In diesem Jahr unternahm ich auch meinen ersten Flug. Meine Mutter, eine Grundschullehrerin, lud mich ein, sie zu einer landesweiten Versammlung der texanischen PTA zu begleiten, eine Art Elternbeirat, die in Austin stattfand. Auch für sie war es der erste Flug. Der Flughafen Dallas Love Field lag 120 Kilometer südlich unseres Heimatortes. Als wir dort ankamen, erschien er mir wie ein magischer Ort voller überlebensgroßer Menschen - Piloten, Stewardessen und all diese gut gekleideten Passagiere, die auf dem Weg zu einem weit entfernten Ziel waren. Im Flughafengebäude machte ich vor dem frisch aufgestellten Standbild eines Texas Rangers halt. Auf der Plakette stand: EIN TUMULT, EIN RANGER. Danach wurde die Legende einer gewaltsamen Auseinandersetzung in einer texanischen Kleinstadt in den 1890er-Jahren erzählt. Der örtliche Sheriff hatte eine Kompanie von Texas Rangern angefordert, die die Gewalttätigkeiten beenden sollte. Als dann nur ein Einziger kam, waren die Leute in dieser Stadt ziemlich bestürzt. Sie hatten um Hilfe gebeten und fragten sich nun, warum man sie ihnen verweigerte. »Wie viele Tumulte gibt es denn bei euch?«, soll der Ranger gefragt haben. »Wenn es nur einen gibt, dann reicht auch ein Ranger. Das erledige ich schon.« Auf diesem Flughafen sah ich dann noch einen weiteren Helden. Damals war ich vom frühen Mercury-Weltraumprogramm absolut gefesselt. Man kann sich vielleicht vorstellen, wie begeistert ich war, als ich jetzt einen kleinen, dünnen Mann durch das Flughafengebäude spazieren sah. Er trug einen Anzug mit Krawatte und einen Hut. Sein Gesicht war mir aus dem Fernsehen gut bekannt. Es war Oberstleutnant John »Shorty« Powers, die »Stimme von Mission Control«, der als Öffentlichkeitsverantwortlicher das Mercury-Programm in ganz Amerika populär machte. Ich konnte mich jedoch nicht dazu durchringen, ihn anzusprechen. Ein Mann, der mit all diesen Astronauten redete, brauchte sicher keinen Elfjährigen, der ihn am Jackett zupfte. An diesem Tag war es bewölkt, und es regnete ganz leicht, als wir auf das Vorfeld hinaustraten, um über eine Treppe die Convair 440 der Braniff Airways zu besteigen. Meine Mutter trug weiße Handschuhe und einen Hut. Ich hatte ein Sakko und meine besten langen Hosen an. Damals reisten die Leute eben noch in ihrer Sonntagskleidung. Wir saßen auf der rechten Seite des Flugzeugs. Meine Mutter hätte auch gerne aus dem Fenster geschaut, aber sie kannte mich. »Du nimmst den Fensterplatz«, sagte sie. Noch bevor sich das Flugzeug auch nur einen einzigen Zentimeter bewegt hatte, presste ich meine Nase bereits ans Fenster und sog alles regelrecht in mich ein. Als das Flugzeug über die Startbahn raste und plötzlich abhob, waren meine Augen endgültig so groß wie Wagenräder. Mein erster Gedanke war, dass alles auf dem Boden jetzt wie eine Modelleisenbahn aussah. Mein zweiter Gedanke war der feste Wunsch, mein ganzes Leben dem Fliegen zu widmen. Es sollte jedoch noch einige Jahre dauern, bis ich wieder in die Lüfte steigen konnte. Als ich 16 war, fragte ich meinen Vater, ob ich Flugstunden nehmen dürfe. Er war im Zweiten Weltkrieg Zahnarzt bei der Navy gewesen und hatte großen Respekt vor den Fliegern, und er erkannte meinen Ehrgeiz, selbst einer zu werden. Durch einen Freund erfuhr er von einem Schädlingsbekämpfungspiloten namens L. T. Cook jr., der ganz in unserer Nähe von einem kleinen Flugfeld auf seinem eigenen Grundstück aus operierte. Vor dem Zweiten Weltkrieg war Cook Ausbilder im zivilen Pilotentrainingsprogramm der US-Bundesregierung gewesen. Zu dieser Zeit lehnten die Isolationisten noch jede Beteiligung am Krieg in Europa ab. Präsident Roosevelt wusste jedoch, dass die Vereinigten Staaten früher oder später in den Krieg eintreten würden und dann Tausende von qualifizierten Piloten benötigten. Seit 1939 wurden deshalb erfahrene Flieger wie Mr. Cook beauftragt, Zivilisten zu Piloten auszubilden. Das Programm war zuerst äußerst umstritten. Wie sich allerdings bald herausstellen sollte, halfen diese gut vorbereiteten Piloten den Alliierten, den Krieg zu gewinnen. Mr. Cook und andere Pilotentrainer wie er wurden so zu unbesungenen amerikanischen Helden. Als ich ihn kennenlernte, war er Ende 50 und ein sachlicher und primär an seinem Geschäft interessierter Mensch ohne Allüren. Die meiste Zeit flog er Schädlingsbekämpfungseinsätze. Wenn er jedoch jemandem begegnete, der den Grips und das Temperament zu haben schien, die ein Flieger benötigte, nahm er ihn als Schüler auf. Ich nehme an, dass ihm mein Aussehen ganz gut gefiel. Ich war ein groß gewachsener, ruhiger, ernster Junge und immer respektvoll gegenüber Älteren, da mich meine Eltern so erzogen hatten. Ich war auch der klassische Introvertierte, der sich nicht ständig unterhalten musste. Er sah, dass es mir mit dem Fliegen ernst war und dass ich trotz meiner zurückhaltenden Art viel Begeisterung aufbrachte. Er verlangte pro Stunde sechs Dollar für das Flugzeug, das beinhaltete sogar den Treibstoff. Für die Ausbildung selbst verlangte er weitere drei Dollar die Stunde. Meine Eltern zahlten das Flugzeug, weswegen ich ihm für eine halbe Flugstunde nur 1,50 Dollar aus eigener Tasche zahlen musste. Ich verdiente mir dieses Geld in meinem Job als Hausmeister unserer Kirche. Meine Logbücher gehen Jahrzehnte zurück, und sie enthalten die Angaben über Tausende von Flügen. Mein allererster Eintrag in meinem ersten Logbuch stammt vom 3. April 1967, als Mr. Cook mir meine ersten 30 Minuten Flugunterricht erteilte. Wir flogen in einem Tandem-Zweisitzer, einer Aeronca 7DC, ein sehr einfaches Propellerflugzeug aus den Vierzigerjahren, das nicht einmal ein Funkgerät besaß. Ich hatte fast vom ersten Moment an meine Hände am Steuerknüppel. Ich saß vorne, Mr. Cook saß hinten vor seinen eigenen Kontrollinstrumenten und tat das, was Piloten »Mitfühlen« nennen. Das bedeutete, dass er die Hände ständig über seinem Steuerknüppel schweben ließ, damit er sofort eingreifen konnte, wenn ich etwas falsch machte. Er beobachtete jede meiner Bewegungen und rief mir Anweisungen zu, wobei er den Motorenlärm übertönen musste. Wie viele Piloten in jener Zeit verwendete er dazu ein Pappmegafon, das er mir im Bedarfsfall direkt an die Ohren hielt. Er sprach allerdings nur, wenn es absolut nötig war. Ein Lob bekam ich kaum einmal zu hören. Trotzdem hatte ich in den folgenden Wochen den Eindruck, dass ich seiner Meinung nach gute Fortschritte machte. Dieses Gefühl trog mich tatsächlich nicht. Jeden Abend büffelte ich daheim für die schriftliche Pilotenprüfung. Dafür hatte ich bei einem einschlägigen Unternehmen einen Fernkurs belegt. Mr. Cook konnte erkennen, wie ernst es mir war. Manchmal kam ich zu einer Flugstunde, und er war nicht da. Ich wusste dann genau, wo er war. Ich fuhr in die Stadt, wo er in der lokalen Eisdiele einen Kaffee trank. Wenn er mich sah, trank er seine Tasse aus, legte etwas Trinkgeld auf den Tisch, und wir fuhren zusammen zurück zu seinem Flugfeld. Innerhalb von nur zwei Monaten erteilte er mir insgesamt 16 Fluglektionen, die jeweils etwa 30 Minuten dauerten. Am 3. Juni betrug meine Gesamtflugzeit 7 Stunden und 25 Minuten. An diesem Tag tippte er mir zehn Minuten nach dem Start auf die Schulter. »Also gut«, sagte er. »Lande jetzt, und rolle dann hinüber zum Hangar.« Ich tat, wie geheißen. Als wir dort ankamen, sprang er aus dem Flugzeug. »Okay«, rief er mir zu. »Steig wieder auf und lande dann dreimal hintereinander ganz allein.« Er wünschte mir nicht einmal Glück. Das war nicht seine Art. Er war jedoch keinesfalls mürrisch oder gefühllos. Er war nur in allen Angelegenheiten äußerst sachlich und nüchtern. Er hatte ganz offensichtlich entschieden: Der Junge ist soweit. Er soll es jetzt allein probieren. Er wird schon nicht vom Himmel fallen. Der packt das schon. Heute würde man einen Jungen nicht so bald alleine fliegen lassen. Die Flugzeuge sind sehr viel komplexer, außerdem muss man aus versicherungstechnischen Gründen vor dem ersten Soloflug eine Menge Vorschriften beachten. Auch das Flugsicherungssystem ist komplizierter geworden. Darüber hinaus sind wohl auch die heutigen Fluglehrer vorsichtiger und ängstlicher. An diesem Tag musste ich mich jedoch in diesem abgelegenen Teil von Texas um keine Luftverkehrskontrollen oder ausgeklügelten Regulierungen kümmern. Da waren nur ich und mein Flugzeug, und natürlich Mr. Cook, der mich vom Boden aus beobachtete. Da der Wind aus dem Norden kam, musste ich zum anderen Ende der Startbahn hinüberrollen, damit ich in diese Richtung abheben konnte. Das hatte ich zwar noch nie so machen müssen, aber ich wusste, was zu tun war, und ich war bereit. Die Flugpiste stieg zum Norden hin leicht an. Obwohl Mr. Cook gerade das Gras gemäht hatte, war sie nicht so glatt wie eine geteerte Startbahn oder ein Golfrasen. Als ich dann zum ersten Mal in meinem Leben ganz allein am Ende eines Flugfeldes stand, überprüfte ich die Zündung und den Öldruck. Ich vergewisserte mich, dass Motor, Seitenruder, Höhenruder und Querruder perfekt funktionierten. Ich ging noch einmal meine ganze Checkliste durch, dann umfasste ich den Steuerknüppel, atmete tief durch, löste die Bremsen und beschleunigte zum Start. Mr. Cook hatte mich darauf vorbereitet, dass ich viel schneller abheben würde als gewöhnlich. Der Grund? Ohne ihn an Bord war das Flugzeug bedeutend leichter. Wenn diese Art von Flugzeug die richtige Geschwindigkeit erreicht hat, hebt sie einfach ab. Aber einem Frischling wie mir auf seinem ersten Alleinflug muss jemand das Startkommando geben. Dieser Jemand war in meinem Fall der lakonische Mr. Cook, der mir vom Rand der Piste aus einfach nur zunickte, als ich mich in die Lüfte erhob und er auf dem Feld unter mir immer kleiner wurde. In diesem Moment war ich ihm unendlich dankbar. Ich stieg auf eine Höhe von 250 Metern und drehte eine Platzrunde, wobei mich ein euphorisches Gefühl von Freiheit erfüllte. Gleichzeitig spürte ich, dass ich dieses Flugzeug beherrschte. Nachdem ich so lange zugehört, beobachtet, Fragen gestellt und hart gebüffelt hatte, hatte ich jetzt endlich etwas erreicht. Hier war ich ganz allein in der Luft. Ich glaube jedoch nicht, dass ich über mein Glück gelächelt habe. Ich war viel zu konzentriert, als dass ich mir ein Lächeln erlaubt hätte. Außerdem wusste ich, dass Mr. Cook, der unter seiner Baseballkappe zu mir heraufsah, mich genau beobachtete. Ich wollte gut für ihn aussehen und alles richtig machen. Ich wollte ihm nicht eine lange Liste von Kritikpunkten liefern, die er mir nach der Landung vorhalten konnte. Während ich so dahinflog, hatte ich immer seine Stimme im Ohr: Benutze dein Seitenruder, um die Steuerung zu koordinieren. Obwohl er nicht hinter mir im Flugzeug saß, hörte ich seine Worte. Ich war viel zu beschäftigt, um in Ruhe die Landschaft zu betrachten. Ich überflog einen kleinen Teich. Links von mir lag das Städtchen Sherman. Aber ich war nicht hier oben, um die Aussicht zu genießen. Mein Ziel war es, das Ganze so gut zu erledigen, dass Mr. Cook es mich nicht noch einmal machen ließ. Er hatte mich angewiesen, die gewöhnliche rechteckige Flugbahn um das Flugfeld herum einzuschlagen, dann eine Fastlandung durchzuführen, das hieß, wenn die Räder den Boden berührten, durchzustarten und wieder aufzusteigen. Ich musste dies dreimal wiederholen, bevor ich endgültig landen durfte. Mein erster Alleinflug dauerte nur etwa neun Minuten, aber ich wusste, dass es ein entscheidender Schritt war. Ich hatte ja selbst gelesen, dass Orville Wright bei seinem ersten Flug im Jahr 1903 ganze zwölf Sekunden in der Luft war und dabei 37 Meter zurückgelegt hatte. Seine höchste Flughöhe hatte sechs Meter betragen. Mr. Cook begrüßte mich am Boden. Als ich den Motor abgestellt hatte, meinte er nur, ich hätte das getan, was er von mir verlangt habe. Es gab keinerlei lobende Worte, aber ich wusste, dass ich die Prüfung bestanden hatte. Er erzählte mir, dass er den Großteil des Sommers mit seinem anderen Flugzeug Schädlingsbekämpfungsflüge durchführen werde. Deshalb könne ich die Aeronca auch weiterhin zum Training benutzen. Wir vereinbarten, dass ich mit ihr alle paar Tage für sechs Dollar die Stunde Alleinflüge üben würde. Inzwischen bin ich 58 Jahre alt und habe insgesamt 19 700 Flugstunden auf dem Buckel. Trotzdem lässt sich meine gesamte Berufserfahrung auf diesen Nachmittag zurückführen. Er war ein Wendepunkt in meinem Leben. Obwohl ich damals insgesamt weniger als acht Stunden in der Luft gewesen war, hatte mir Mr. Cook sein Vertrauen erwiesen. Er hatte mir erlaubt, selbst zu entdecken, dass ich ein Flugzeug sicher in die Luft und sicher wieder herunterbringen konnte. Dieser erste Soloflug bestärkte mich darin, dass dies nicht nur mein Lebensunterhalt, sondern mein Leben sein würde. Damals war mir natürlich nicht klar, dass dies ein ganz traditioneller Einstieg in die Pilotenwelt war. Auf diese Weise hatten Leute von Beginn an fliegen gelernt. Ein älterer, erfahrener Pilot hatte einem jungen Menschen auf einem Grasplatz unter offenem Himmel die Grundlagen der Fliegerei beigebracht. Wenn ich heute zurückschaue, wird mir erst klar, wie viel Glück ich hatte. Es war ein wunderbarer Anfang. Außer mir wollte niemand auf meiner Highschool Pilot werden. Ich hatte zwar Freunde, aber viele Klassenkameraden sahen in mir nur diesen schüchternen, fleißigen, ernsten Jungen, der immer Flughandbücher las und sich auf dem Flugplatz herumtrieb. Tatsächlich war ich nicht sehr kontaktfreudig. Am wohlsten fühlte ich mich in einem Cockpit. Auf gewisse Weise wurde ich auf diesem Flugfeld schneller erwachsen und lernte Dinge, die mir halfen, die Möglichkeiten und Gefahren des Lebens besser zu begreifen. Als ich eines Tages zu Mr. Cooks Hangar hinauskam, bemerkte ich auf einem Feld nördlich der Flugpiste das Wrack einer weiß lackierten Piper Tri-Pacer mit roten Zierlinien. Von Mr. Cook erfuhr ich deren Geschichte. Einer seiner Freunde wollte auf seinem Flugfeld landen. Beim Anflug musste er die US 82 überqueren. Dabei bemerkte er zu spät, dass am Rand dieser Überlandstraße eine sechs Meter hohe Stromleitung verlief. Er zog die Nase seines Flugzeugs hoch, um nicht in die Leitung zu geraten. Dadurch wurde er jedoch langsamer und verlor an Auftrieb. Seine Piper prallte mit der Nase zuerst auf dem Boden auf. Er selbst war auf der Stelle tot. Niemand hatte bisher das Wrack geborgen, deshalb lag es immer noch mitten auf dem Feld. Ich ging die 500 Meter zu ihm hinüber und schaute in das blutbespritzte Cockpit. Damals besaßen die Flugzeuge noch keine Hosenträgergurte, sondern nur einen Beckengurt. Sein Kopf musste mit großer Wucht auf das Instrumentenbrett geprallt sein. Ich versuchte mir den Unfallhergang vorzustellen, die Bemühungen des Piloten, der Stromleitung auszuweichen, sein Geschwindigkeitsverlust, der schreckliche Aufprall. Ich zwang mich, in das Cockpit hineinzusehen und es genau zu mustern. Es wäre einfacher gewesen, den Blick abzuwenden, aber genau das wollte ich nicht tun. Es war ein ziemlich ernüchternder Moment für mich 16-Jährigen, und er hinterließ einen dauerhaften Eindruck. Mir wurde klar, dass man beim Fliegen keinen Fehler machen durfte. Man musste immer alles unter Kontrolle behalten. Man musste auf Leitungen, Vögel, Bäume, Nebel achten, während man gleichzeitig immer alle Instrumente im Cockpit im Auge behielt. Man musste immer aufmerksam und hellwach bleiben. Es war wichtig, immer zu wissen, was möglich war und was nicht. Ein einziger Fehler konnte den Tod bedeuten. Mich ließ diese traurige Szene lange nicht los. Ich schwor mir, alles zu lernen, was diese Gefahren vermindern würde. Ich wollte nie ein unverantwortlicher Draufgänger sein, da ich wusste, dass mich das umbringen konnte. Trotzdem machte auch ich meine Späße. So bat ich meine Eltern und meine kleine Schwester, zu einer bestimmten Zeit vor unser Haus zu treten. Dann flog ich über sie hinweg und wackelte dabei mit den Flügeln, um sie zu grüßen. Wir lebten in einer solch dünn besiedelten Gegend, dass ich bis auf 150 Meter Höhe heruntergehen durfte. Meine Familie konnte sogar erkennen, wie ich ihnen zuwinkte. Im Oktober 1968 war ich nach 70 Flugstunden bereit für meinen Privatpilotenschein. Dafür musste ich einen Prüfungsflug mit einem Inspektor der amerikanischen Bundesluftfahrtbehörde FAA absolvieren. Ich bestand und durfte jetzt einen Passagier mitnehmen. Mein erster Passagier sollte natürlich meine Mutter sein. Nach meinem Logbuch nahm ich sie am 29. Oktober 1968, also einen Tag nachdem ich meinen Schein bekommen hatte, auf einen Flug mit. Ich zeichnete ein Sternchen neben die Flugdaten als kleine Erinnerung an ein ganz besonderes Ereignis. Es war das Sechzigerjahre-Äquivalent eines E-Mail-Smileys. Meine Mutter schien an diesem Tag überhaupt nicht nervös, sondern nur stolz zu sein. Als ich ihr in den Rücksitz half und den Gurt festmachte, beschrieb ich ihr die Geräusche, die sie hören würde, was sie sehen würde und wie sich ihr Magen anfühlen könnte. Mein üblicher Ernst hatte den Vorteil, dass mich alle Leute wohl für äußerst verantwortungsvoll und fähig hielten. Tatsächlich hielt ich immer alle Vorschriften ein. Meine Mutter vertraute mir also voll und ganz. Sie lehnte sich zurück, legte ihr Leben in meine Hände und ließ sich von mir durch die Lüfte kutschieren. Als wir gelandet waren, umarmte sie mich. Die Möglichkeit, Passagiere zu befördern, eröffnete mir eine ganz neue Welt. Nachdem ich meine Schwester, meinen Vater und meine Großeltern mitgenommen hatte, fand ich endlich den Mut, jemand anderen zu fragen. Ihr Name war Carole, und sie war ein hübsches, schlankes Mädchen mit Brille und braunen Haaren. Wir gingen beide auf dieselbe Highschool und sangen im selben Kirchenchor. Ich hatte ein Auge auf sie geworfen und bildete mir ein, dass ich ihr ebenfalls aufgefallen war. Es gibt Mädchen, die gut aussehen und das auch ganz genau wissen und die dadurch den Vorteil genießen, allein durch ihre Schönheit voranzukommen. Carole war zwar ausgesprochen attraktiv, aber sie benahm sich nicht so wie diese jungen Frauen. Trotz einer gewissen Zurückhaltung hatte sie ein offenes, freundliches Wesen, das alle Leute für sie einnahm. Kein Mädchen hatte sich bisher für meine Erfahrungen als Pilot interessiert. Dies war lange Zeit vor dem Film Top Gun, und auf keinen Fall war ich ein Tom Cruise. Außerdem war das Fliegen irgendwie etwas Abstraktes. Keiner konnte mich dabei beobachten. Ich war ja kein Footballspieler, der einen Touchdown erzielte und dessen Bild dann am nächsten Tag in der Lokalzeitung stand. Alles, was ich tat, fand außer Sicht hoch am Himmel statt. Wenn ich Mädchen vom Fliegen erzählte, schien sie das nie groß zu interessieren. Manchmal hatte ich den Eindruck, dass sie ein Gespräch darüber langweilte. Vielleicht fand ich auch nicht die richtigen Worte, um die Großartigkeit dieses Erlebnisses auszudrücken. Jedenfalls entschloss ich mich auszuprobieren, ob ich nicht Carole dafür begeistern könnte. Sie war ein eher ruhiger Mensch. In dieser Hinsicht ähnelten wir uns. Deshalb war es oft schwierig, mit ihr ein Gespräch anzufangen. Als ich sie fragte, ob sie mich auf einem Flug begleiten wolle, hatte ich keine großen Erwartungen. Selbst wenn sie zustimmte, würden es ihre Eltern wahrscheinlich nicht erlauben. Doch ihre Eltern waren tatsächlich einverstanden, dass ich sie auf einen 45-minütigen Flug über den Arkansas und den Poteau River nach Fort Smith mitnahm. Dies war meine Art, sie zum ersten Mal auszuführen, und ich war ziemlich begeistert, dass es tatsächlich geklappt hatte. Im Nachhinein finde ich es erstaunlich, dass ihr Vater und ihre Mutter zugestimmt haben. Immerhin erlaubten sie einem Jungen, der noch nicht einmal 18 Jahre alt war, ihre minderjährige Tochter in einen anderen Bundesstaat, nämlich Arkansas, zu bringen. Und das auch noch in einem Kleinflugzeug. Und so flogen wir los. Es war ein klarer, kalter Tag ohne viel Wind und mit guter Sicht. Flugzeuge sind laut, deshalb ist es schwer, ein Gespräch zu führen. Ich schrie zum Beispiel: »Das da unten ist der Red River«, und sie schrie dann zurück: »Was?«, und dann wiederholte ich mich. Aber ich war wirklich glücklich, sie an Bord zu haben. Wir flogen in einer Cessna 150, die ich für zwei Stunden gemietet hatte. Es war ein sehr kleines Flugzeug. Es gab nur Platz für zwei nebeneinandersitzende Insassen. Die ganze Kabine war nur 90 Zentimeter breit, und so berührte mein rechtes Bein ihr linkes. Anders ging es nicht. Stellen Sie sich nur einmal diesen 17-jährigen Jungen vor, neben dem ein hübsches Mädchen saß, deren Bein zwei Stunden lang sein eigenes berührte und deren Arm immer wieder an seinen Arm stieß. Ich konnte ihr Parfüm riechen. Vielleicht war es auch ihr Shampoo. Ab und zu beugte sie sich über mich, um aus meinem Fenster zu sehen, wobei ihre Haare über meinen Arm strichen. Es war eine ganz neue Erfahrung für mich. Ich hätte nie gedacht, dass das Fliegen eine solch sinnliche Sache sein könnte. Hatte ich Schwierigkeiten, mich auf die Kontrollinstrumente zu konzentrieren? Nein. Ich nehme an, dass dies nur ein weiteres Beispiel dafür war, dass ein Pilot seine Aufmerksamkeit gleichzeitig auf verschiedene Dinge richten muss. Ich war mir Caroles Anwesenheit voll bewusst, aber ich hatte eine Aufgabe zu erledigen und trug die Verantwortung. Ich wollte zwar um sie werben, aber mein wichtigster Job war, sie sicher zurückzubringen. Aus dieser Beziehung wurde später nicht viel. Trotzdem erinnere ich mich bis heute voller Wärme an diesen Flug, wie sie da neben mir saß, ich ihr die Sehenswürdigkeiten der texanischen Landschaft zubrüllte und sie dann im Flughafenrestaurant von Fort Smith zum Essen ausführte. Ein Pilot kann Tausende von Starts und Landungen durchführen, von denen die meisten nicht weiter bemerkenswert sind. Einige wird er jedoch niemals vergessen. Zum letzten Mal besuchte ich L. T. Cooks Flugfeld Ende der Siebzigerjahre. Anfang der Achtzigerjahre riss dann der Kontakt ab. Ich erfuhr später, dass er Krebs hatte und dass ihm einige Tumore aus Hals und Kiefer entfernt worden waren. Einige Leute mutmaßten, dass seine Krankheit auf all die Schädlingsbekämpfungsmittel zurückzuführen sei, die er jeden Tag versprüht hatte. Er starb im Jahr 2001. Nach meiner Notlandung des US-Airways-Flugs 1549 auf dem Hudson bekam ich Tausende von E-Mails und Briefe von Leuten, die ihre Dankbarkeit für das ausdrückten, was meine Crew und ich getan hatten, um alle 155 Menschen an Bord zu retten. Ich wurde richtig aufgeregt, als ich in einem Briefstapel ein Schreiben von Mr. Cooks Witwe entdeckte, von der ich seit Jahren nichts mehr gehört hatte. Ihre Worte ließen mein Herz höher schlagen. »L. T. wäre nicht überrascht«, schrieb sie, »aber er wäre sicher erfreut und stolz.«

Erscheint lt. Verlag 10.12.2010
Reihe/Serie Goldmann Taschenbücher
Übersetzer Michael Bayer, Norbert Juraschitz, Henning Dedekind
Zusatzinfo farbiger Bildteil mit 24 Seiten
Sprache deutsch
Original-Titel Highest Duty. My Search for What Really Matters
Maße 125 x 183 mm
Gewicht 335 g
Einbandart Paperback
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Schlagworte Flugzeugkatastrophe, USA / Amerika • Piloten • Sullenberger, Chesley B. • Sullenberger, Chesley B. 'Sully' • Verantwortung • Werte
ISBN-10 3-442-15657-2 / 3442156572
ISBN-13 978-3-442-15657-3 / 9783442156573
Zustand Neuware
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