Krähengeschwätz - Sarah Kirsch

Krähengeschwätz

(Autor)

Buch | Hardcover
176 Seiten
2010
DVA (Verlag)
978-3-421-04451-8 (ISBN)
17,95 inkl. MwSt
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»Moorgeschrey und Lerchengedröhn« - Sarah Kirschs poetische Kraft durchdringt auch ihre Tagebuchaufzeichnungen. Meisterhaft verbindet sie in ihren Notaten aus den achtziger Jahren Alltagsbeobachtungen und Poetisches, Persönliches und Politisches. Immer scheinen die Sinne aufs Höchste geschärft, und so, eins mit der Natur, strahlt die Prosa mit einer elementar erdhaften Kraft.

Sarah Kirschs Miniaturprosa schillert, leuchtet, glimmt mal traumgleich-elegisch, dann ironisch-kommentierend oder heiter. In "Krähengeschwätz" versammelt sie lyrische Nachrichten aus den Jahren 1985 bis 1987 - Jahre, in denen die Anfang der Achtziger aus der DDR ausgewanderte Autorin sich gesellschaftlich engagiert. Getragen von kritischem Zeitbewusstsein entfaltet ihre Prosa eine gebrochene Bukolik. Und zugleich ist ihre persönliche Chronik von der Natur durchtränkt:

»Triefende Nebellaken, schwarz blühendes Feiertagsgras, Kniekehlenküsse und Zittern« werden abgelöst von den herbstlichen Stürmen, dann »pfeift der nächste Orkan aufm Schlüssel ums Haus, die Wolken zerreißen sich und die Bäume küssen die Erde«.

Erneut zeigen diese Aufzeichnungen die im Einklang mit den Jahreszeiten lebende Schriftstellerin, die Erlebnisse und Reflexionen über ihre Gegenwart und die Welt zu einer harmonischen Einheit führt.

Sarah Kirsch (1935-2013) studierte Biologie und Literatur und lebte bis zu ihrer Ausbürgerung 1977 im Osten Berlins und siedelte dann in den Westen der Stadt über. Zuletzt lebte sie als freie Schriftstellerin und Malerin in Schleswig-Holstein. Für ihr dichterisches Werk wurde sie mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u. a. mit dem »Georg- Büchner-Preis«, dem »Jean-Paul-Preis« sowie dem »Johann-Heinrich-Voß-Preis«.

»Nicht selten glaubt man in solch glücklichen Momenten Anklänge aus fernen Zeiten zu hören, als ob sich die Stimmen Goethes, Hölderlins, Storms oder der Droste, all der Geistesverwandten dieser Dichterin, noch einmal zurückgemeldet hätten. Sarah Kirschs «Krähengeschwätz» ist ein zauberhaftes Buch für die Liebhaber immaterieller Genüsse, die Aristokraten des höheren Müssiggangs, die Traumwandler und Gegenläufer und - in dieser Reihenfolge!- für alle Katzen- und Bücherfreunde.« Neue Zürcher Zeitung, 20.05.10

»Kirschs Werke tun das ihre dafür, dass unser Geschichtsgedächtnis klaren Kopf behält.« Die Furche, 06.05.10

»Bemerkenswert ist das Buch auch, weil es mustergültig die Poetik der Büchner-Preisträgerin vorführt und zeigt, wie Kirsch die Zumutungen der Wirklichkeit eher als dramaturgische Kontrastmittel einsetzt, um im schnurrigen Geschnörkel ihrer Lyrik und Prosa eines besonders pointiert zu inszenieren: den Willen zur Idylle. Wer jetzt aber glaubt, die Autorin zelebriere einen süßlichen Eskapismus, ist natürlich auf dem Holzweg. Denn wie immer bei großer Literatur steckt die eigentliche Botschaft in der Sprache – hier eben jenem unvergleichlichen „Sarah-Sound“.« Münchner Merkur (13.04.2010)

»Sarah Kirsch weiß vom Besonderen des Lebens, wenn die Vorgänger sagen wollen, sieh unser Unglück. Was nichts anderes heißt, als finde deinen Platz. Sie wird wohl selber nicht wenig staunen über ihr eigenes, ihr gelungenes Leben. (…) Alles spricht dafür, sie hat noch was vor, an poetischen Kräften gebricht es ihr nicht.« Frankfurter Rundschau, 16.04.10

»Im Überfluss ist hier auch literarisch alles enthalten - Eigensinn, Reflexion, Anschaulichkeit«. Spiegel online (14.04.2010)

»Die kleine Welt in "Krähengeschwätz" ordnet sich nach Märchengesetzen. (…) Den "kleinen und großen Furchtbarkeiten" der DDR entronnen zu sein, ohne sich den Zwängen der Konsumgesellschaft zu unterwerfen, erscheint als des Glückes wahres Unterpfand.« FAZ, 23.04.10

Die lange Reise durch Rumänien, auf der ich Pentti kennenlernte, geschah 1966. Danach trafen wir uns in Prag, das war noch im selben Jahr, vierzehn Tage vor Weihnachten, voll in der Dubcek-Aera. Ich habe grade ein Notizbuch gefunden, worin allerlei Sätze stehen, die er da niederlegte. Erinnerungen an den Deutschunterricht in der finnischen Schule, Sätze die er für mich deklamierte, so oft ich ihn darum bat. "Es ist Winter, die Luft ist kalt, die Erde ist hart. Da leidet der Hase im Walde Not, denn er findet keine Nahrung. Der Jäger kommt." Und Titel von Büchern, die ich partout lesen müsse setzte er darunter. Damals knallte er sein Prag-Buch gleich in die Maschine. Während ich neben ihm saß. Immerdar in meiner Lammpelzjacke, für Heizöl hatten wir kein Geld. Und wie war ich nach Prag gekommen? Man konnte schließlich nicht aus der DDR wegfahren wohin man grad wollte. Ich hatte mir eine Einladung von Sabine besorgt, die in Prag Puppenspiel studierte, schon saß ich im Zug, und Rainer war sich wohl nicht so sicher, ob ich je wiederkäme. Ich betrachtete Pentti als meinen vollkommenen Freund und wir haben viel Blödsinn getrieben aber auch tage- und nächtelang über Gedichte gesprochen, wie sie beschaffen sein müssten, welche als Maßstab zu gelten hätten. Manchmal rezitiert er den ganzen "Erlkönig" für mich, sehr dramatisch mit hartem Akzent, und wir ersticken nahezu vor Lachen. Wir leben in einer kleinen Zweitwohnung von Herrn Vesely, der himmelblaue Halstücher trägt und dessen Schädel wie der Mond leuchtet, wenn er uns mal besucht. Es gibt weiße Wände und Pornographie in den Schränken. Der Ofen arbeitet nicht. Die Toilette ist auf dem Balkon. Pentti kauft zwei Eier für den letzten Tag. Seine Uhr zeigt stets die halbe Stunde. Wenn er seine Schreibmaschine betreibt, sieht er sehr zornig aus. Die Maschine ist vor Jahren in der DDR hergestellt worden. Ich hab in der DDR eine Schreibmaschine aus der CSSR - so ist Handel im Sozialismus sage ich. Il Compositore aber hatte ein Konzert in Amsterdam und Maurizio begleitete ihn und besuchte das Konzert und die schönen Galerien. Währenddessen ich für das TV schuften musste. Und Robert als Neufundländer freute sich und war überzeugt, dass das Team seinetwegen kam, und so lief er durch die Bilder als schwarzer Faden. Heute hat Maurizio Geburtstag, schwänzt noch einmal die Schule, weil er KO von der langen Autofahrt ist. Jetzt ist er sechzehn, bekam Klaviernoten und ein Kunstlexikon fettester Art. Der Kater ist beglückt über die Rückkehr seines Zimmergenossen. Die Schafsnasen könnten in zehn Tagen lammen. Toula das sensible Tier ist schon ganz in sich gekehrt. Ich kann also nicht, wie es geplant war mit dem Tonsetzer zu einem weiteren Konzert nach Darmstadt fahren. Ich muss bei meinen Schafen ja wachen. 14. März 1985 Donnerstag Luft und Wasser Aus dem Sumpfland fliegt mir die Eule Auf breiten Flügeln über den Strom Ihre Federn berühren das Wasser Das sich nun teilte ich sah Meiner Schwester Gesicht höre den Wind Schilfhalme leichter bewegen und Wolken Ziehen auf die Nacht zu verkünden. Viel wehes Geräusch vom anderen weiteren Ufer die grauen Reiher verneigen sich Auf toten Bäumen eh sie noch schlafen. Es ist spät ich kehre hinter Türen zurück. Der Teekessel brummt auf dem Feuer Und verkleidete Könige reiten draußen Auf herrlichen Pferden vorüber. Gestern haben wir die Schafs-Damen von ihrer gegenwärtigen Weide auf die anschließende Koppel mit der niederen Hütte geleitet, in welcher Paula geboren wurde. Die Schafe bedürfen der Ruhe. Igor das Böckchen und Bilbo der Esel sind zu hektisch für ihren Zustand. Die Änderung missfiel den Herren, sie tobten und rannten wie in der Manege. Ab 21. März kann es Lämmerkens geben. Ich bin sehr aufmerksam. Thekla hat das bedeutendste Euter bisher. Man muss viel mit den Schwangeren sprechen. Mir träumte, ich sei auf meinem Esel ins Moor geritten, die Füße schwebten dicht über den Wasserlöchern, doch blieben sie trocken. Aus seinen Hufabdrücken, die sich mit schwarzem Wasser füllten, wuchs gleich der Blutwurz. Ein schöner Anblick, wenn ich nach rückwärts mich wandte. Vor uns unbestimmbare Dämmerung, kleine zusammengeschobene Gagelsträucher und schrilles Tönen des Winds, das zunehmend lauter wurde. Ich weiß nicht, ob ich zu jenem leichtgläubigen Wesen mit dem Mittelscheitel, den Messingspangen über den Ohren, Zöpfen bis zu den Kniekehlen hin, die stets im Begriff sind sich aufzulösen, ob ich ich zu ihm sagen soll oder sie oder es, oder das Kind, ein Kind, weil dies Weidenblatt seit ehmaliger Zeit sich verwandelt hat, eine wandernde Seele gar abgab. Stak es vorher in einem Lamm fest, das ängstlich blökte, wenn es die Mutter nicht sah, so ist es später gestreunt, dem Balg einer Tigerin eingeschlüpft, listenreich scharfer Zähne. Reißt das dampfende Maul auf zum Fauchen und Fluchen, war einst zu Bescheidenheit, Nachgiebigkeit erzogen, in fröhlicher Armut, einem Haus asozialer Familien. Meine Arbeitsmethode sie besteht darin, dass ich manche Texte in ein Mäppchen für Gedichte lege, andere in eines für Prosa. Die Unterscheidung fällt mir nicht schwer. Beim Sammeln und Sortieren organisieren sich die Gebilde in bestimmte Bahnen und bringen weitere Sätze hervor. Il Compositore und Robert befinden sich im Garten, herabgewehte Äste und Ästlein auflesen zum Feueranzünden. Sie rufen und bellen und winken mir zu. Maurizius studiert alles Mögliche über Physik weil sie morgen eine Arbeit schreiben. Minus ein Grad, mehr nicht! wie Göthe so trefflich sagte. Was zu "mehr Licht!" verballhornt wurde. Eines Nachts, als der Vollmond erglühte, später sein Licht weit in die Ebene goss, unaufhaltsam, auch mir ins Gesicht schien, und ich im unruhigen Halbschlaf überlegte, wie ich dem Esel sein Schrot darreichen könnte, ohne dass die zahlreicher gewordenen Schafe sich daran vergriffen, da sah ich plötzlich die Pferde der Kindheit aus der Vergessenheit treten mit ihren Namen, den umgehängten Futterbeuteln, das Maul darinnen nach vierzig Jahren. Als der Compositeur gestern aus Dellstedt von der Chorprobe kam, da hatte er einen im Krönchen, so hatten die Sänger sich schließlich für seine Mühe bedankt.

Die lange Reise durch Rumänien, auf der ich Pentti kennenlernte, geschah 1966. Danach trafen wir uns in Prag, das war noch im selben Jahr, vierzehn Tage vor Weihnachten, voll in der Dubcek-Aera. Ich habe grade ein Notizbuch gefunden, worin allerlei Sätze stehen, die er da niederlegte. Erinnerungen an den Deutschunterricht in der finnischen Schule, Sätze die er für mich deklamierte, so oft ich ihn darum bat. "Es ist Winter, die Luft ist kalt, die Erde ist hart. Da leidet der Hase im Walde Not, denn er findet keine Nahrung. Der Jäger kommt." Und Titel von Büchern, die ich partout lesen müsse setzte er darunter. Damals knallte er sein Prag-Buch gleich in die Maschine. Während ich neben ihm saß. Immerdar in meiner Lammpelzjacke, für Heizöl hatten wir kein Geld. Und wie war ich nach Prag gekommen? Man konnte schließlich nicht aus der DDR wegfahren wohin man grad wollte. Ich hatte mir eine Einladung von Sabine besorgt, die in Prag Puppenspiel studierte, schon saß ich im Zug, und Rainer war sich wohl nicht so sicher, ob ich je wiederkäme. Ich betrachtete Pentti als meinen vollkommenen Freund und wir haben viel Blödsinn getrieben aber auch tage- und nächtelang über Gedichte gesprochen, wie sie beschaffen sein müssten, welche als Maßstab zu gelten hätten. Manchmal rezitiert er den ganzen "Erlkönig" für mich, sehr dramatisch mit hartem Akzent, und wir ersticken nahezu vor Lachen. Wir leben in einer kleinen Zweitwohnung von Herrn Vesely, der himmelblaue Halstücher trägt und dessen Schädel wie der Mond leuchtet, wenn er uns mal besucht. Es gibt weiße Wände und Pornographie in den Schränken. Der Ofen arbeitet nicht. Die Toilette ist auf dem Balkon. Pentti kauft zwei Eier für den letzten Tag. Seine Uhr zeigt stets die halbe Stunde. Wenn er seine Schreibmaschine betreibt, sieht er sehr zornig aus. Die Maschine ist vor Jahren in der DDR hergestellt worden. Ich hab in der DDR eine Schreibmaschine aus der CSSR - so ist Handel im Sozialismus sage ich. Il Compositore aber hatte ein Konzert in Amsterdam und Maurizio begleitete ihn und besuchte das Konzert und die schönen Galerien. Währenddessen ich für das TV schuften musste. Und Robert als Neufundländer freute sich und war überzeugt, dass das Team seinetwegen kam, und so lief er durch die Bilder als schwarzer Faden. Heute hat Maurizio Geburtstag, schwänzt noch einmal die Schule, weil er KO von der langen Autofahrt ist. Jetzt ist er sechzehn, bekam Klaviernoten und ein Kunstlexikon fettester Art. Der Kater ist beglückt über die Rückkehr seines Zimmergenossen. Die Schafsnasen könnten in zehn Tagen lammen. Toula das sensible Tier ist schon ganz in sich gekehrt. Ich kann also nicht, wie es geplant war mit dem Tonsetzer zu einem weiteren Konzert nach Darmstadt fahren. Ich muss bei meinen Schafen ja wachen. 14. März 1985 Donnerstag Luft und Wasser Aus dem Sumpfland fliegt mir die Eule Auf breiten Flügeln über den Strom Ihre Federn berühren das Wasser Das sich nun teilte ich sah Meiner Schwester Gesicht höre den Wind Schilfhalme leichter bewegen und Wolken Ziehen auf die Nacht zu verkünden. Viel wehes Geräusch vom anderen weiteren Ufer die grauen Reiher verneigen sich Auf toten Bäumen eh sie noch schlafen. Es ist spät ich kehre hinter Türen zurück. Der Teekessel brummt auf dem Feuer Und verkleidete Könige reiten draußen Auf herrlichen Pferden vorüber. Gestern haben wir die Schafs-Damen von ihrer gegenwärtigen Weide auf die anschließende Koppel mit der niederen Hütte geleitet, in welcher Paula geboren wurde. Die Schafe bedürfen der Ruhe. Igor das Böckchen und Bilbo der Esel sind zu hektisch für ihren Zustand. Die Änderung missfiel den Herren, sie tobten und rannten wie in der Manege. Ab 21. März kann es Lämmerkens geben. Ich bin sehr aufmerksam. Thekla hat das bedeutendste Euter bisher. Man muss viel mit den Schwangeren sprechen. Mir träumte, ich sei auf meinem Esel ins Moor geritten, die Füße schwebten dicht über den Wasserlöchern, doch blieben sie trocken. Aus seinen Hufabdrücken, die sich mit schwarzem Wasser füllten, wuchs gleich der Blutwurz. Ein schöner Anblick, wenn ich nach rückwärts mich wandte. Vor uns unbestimmbare Dämmerung, kleine zusammengeschobene Gagelsträucher und schrilles Tönen des Winds, das zunehmend lauter wurde. Ich weiß nicht, ob ich zu jenem leichtgläubigen Wesen mit dem Mittelscheitel, den Messingspangen über den Ohren, Zöpfen bis zu den Kniekehlen hin, die stets im Begriff sind sich aufzulösen, ob ich ich zu ihm sagen soll oder sie oder es, oder das Kind, ein Kind, weil dies Weidenblatt seit ehmaliger Zeit sich verwandelt hat, eine wandernde Seele gar abgab. Stak es vorher in einem Lamm fest, das ängstlich blökte, wenn es die Mutter nicht sah, so ist es später gestreunt, dem Balg einer Tigerin eingeschlüpft, listenreich scharfer Zähne. Reißt das dampfende Maul auf zum Fauchen und Fluchen, war einst zu Bescheidenheit, Nachgiebigkeit erzogen, in fröhlicher Armut, einem Haus asozialer Familien. Meine Arbeitsmethode sie besteht darin, dass ich manche Texte in ein Mäppchen für Gedichte lege, andere in eines für Prosa. Die Unterscheidung fällt mir nicht schwer. Beim Sammeln und Sortieren organisieren sich die Gebilde in bestimmte Bahnen und bringen weitere Sätze hervor. Il Compositore und Robert befinden sich im Garten, herabgewehte Äste und Ästlein auflesen zum Feueranzünden. Sie rufen und bellen und winken mir zu. Maurizius studiert alles Mögliche über Physik weil sie morgen eine Arbeit schreiben. Minus ein Grad, mehr nicht! wie Göthe so trefflich sagte. Was zu "mehr Licht!" verballhornt wurde. Eines Nachts, als der Vollmond erglühte, später sein Licht weit in die Ebene goss, unaufhaltsam, auch mir ins Gesicht schien, und ich im unruhigen Halbschlaf überlegte, wie ich dem Esel sein Schrot darreichen könnte, ohne dass die zahlreicher gewordenen Schafe sich daran vergriffen, da sah ich plötzlich die Pferde der Kindheit aus der Vergessenheit treten mit ihren Namen, den umgehängten Futterbeuteln, das Maul darinnen nach vierzig Jahren. Als der Compositeur gestern aus Dellstedt von der Chorprobe kam, da hatte er einen im Krönchen, so hatten die Sänger sich schließlich für seine Mühe bedankt.

Die lange Reise durch Rumänien, auf der ich Pentti kennenlernte, geschah 1966. Danach trafen wir uns in Prag, das war noch im selben Jahr, vierzehn Tage vor Weihnachten, voll in der Dubcek-Aera. Ich habe grade ein Notizbuch gefunden, worin allerlei Sätze stehen, die er da niederlegte. Erinnerungen an den Deutschunterricht in der finnischen Schule, Sätze die er für mich deklamierte, so oft ich ihn darum bat. "Es ist Winter, die Luft ist kalt, die Erde ist hart. Da leidet der Hase im Walde Not, denn er findet keine Nahrung. Der Jäger kommt." Und Titel von Büchern, die ich partout lesen müsse setzte er darunter. Damals knallte er sein Prag-Buch gleich in die Maschine. Während ich neben ihm saß. Immerdar in meiner Lammpelzjacke, für Heizöl hatten wir kein Geld. Und wie war ich nach Prag gekommen? Man konnte schließlich nicht aus der DDR wegfahren wohin man grad wollte. Ich hatte mir eine Einladung von Sabine besorgt, die in Prag Puppenspiel studierte, schon saß ich im Zug, und Rainer war sich wohl nicht so sicher, ob ich je wiederkäme. Ich betrachtete Pentti als meinen vollkommenen Freund und wir haben viel Blödsinn getrieben aber auch tage- und nächtelang über Gedichte gesprochen, wie sie beschaffen sein müssten, welche als Maßstab zu gelten hätten. Manchmal rezitiert er den ganzen "Erlkönig" für mich, sehr dramatisch mit hartem Akzent, und wir ersticken nahezu vor Lachen. Wir leben in einer kleinen Zweitwohnung von Herrn Vesely, der himmelblaue Halstücher trägt und dessen Schädel wie der Mond leuchtet, wenn er uns mal besucht. Es gibt weiße Wände und Pornographie in den Schränken. Der Ofen arbeitet nicht. Die Toilette ist auf dem Balkon. Pentti kauft zwei Eier für den letzten Tag. Seine Uhr zeigt stets die halbe Stunde. Wenn er seine Schreibmaschine betreibt, sieht er sehr zornig aus. Die Maschine ist vor Jahren in der DDR hergestellt worden. Ich hab in der DDR eine Schreibmaschine aus der CSSR - so ist Handel im Sozialismus sage ich. Il Compositore aber hatte ein Konzert in Amsterdam und Maurizio begleitete ihn und besuchte das Konzert und die schönen Galerien. Währenddessen ich für das TV schuften musste. Und Robert als Neufundländer freute sich und war überzeugt, dass das Team seinetwegen kam, und so lief er durch die Bilder als schwarzer Faden. Heute hat Maurizio Geburtstag, schwänzt noch einmal die Schule, weil er KO von der langen Autofahrt ist. Jetzt ist er sechzehn, bekam Klaviernoten und ein Kunstlexikon fettester Art. Der Kater ist beglückt über die Rückkehr seines Zimmergenossen. Die Schafsnasen könnten in zehn Tagen lammen. Toula das sensible Tier ist schon ganz in sich gekehrt. Ich kann also nicht, wie es geplant war mit dem Tonsetzer zu einem weiteren Konzert nach Darmstadt fahren. Ich muss bei meinen Schafen ja wachen. 14. März 1985 Donnerstag Luft und Wasser Aus dem Sumpfland fliegt mir die Eule Auf breiten Flügeln über den Strom Ihre Federn berühren das Wasser Das sich nun teilte ich sah Meiner Schwester Gesicht höre den Wind Schilfhalme leichter bewegen und Wolken Ziehen auf die Nacht zu verkünden. Viel wehes Geräusch vom anderen weiteren Ufer die grauen Reiher verneigen sich Auf toten Bäumen eh sie noch schlafen. Es ist spät ich kehre hinter Türen zurück. Der Teekessel brummt auf dem Feuer Und verkleidete Könige reiten draußen Auf herrlichen Pferden vorüber. Gestern haben wir die Schafs-Damen von ihrer gegenwärtigen Weide auf die anschließende Koppel mit der niederen Hütte geleitet, in welcher Paula geboren wurde. Die Schafe bedürfen der Ruhe. Igor das Böckchen und Bilbo der Esel sind zu hektisch für ihren Zustand. Die Änderung missfiel den Herren, sie tobten und rannten wie in der Manege. Ab 21. März kann es Lämmerkens geben. Ich bin sehr aufmerksam. Thekla hat das bedeutendste Euter bisher. Man muss viel mit den Schwangeren sprechen. Mir träumte, ich sei auf meinem Esel ins Moor geritten, die Füße schwebten dicht über den Wasserlöchern, doch blieben sie trocken. Aus seinen Hufabdrücken, die sich mit schwarzem Wasser füllten, wuchs gleich der Blutwurz. Ein schöner Anblick, wenn ich nach rückwärts mich wandte. Vor uns unbestimmbare Dämmerung, kleine zusammengeschobene Gagelsträucher und schrilles Tönen des Winds, das zunehmend lauter wurde. Ich weiß nicht, ob ich zu jenem leichtgläubigen Wesen mit dem Mittelscheitel, den Messingspangen über den Ohren, Zöpfen bis zu den Kniekehlen hin, die stets im Begriff sind sich aufzulösen, ob ich ich zu ihm sagen soll oder sie oder es, oder das Kind, ein Kind, weil dies Weidenblatt seit ehmaliger Zeit sich verwandelt hat, eine wandernde Seele gar abgab. Stak es vorher in einem Lamm fest, das ängstlich blökte, wenn es die Mutter nicht sah, so ist es später gestreunt, dem Balg einer Tigerin eingeschlüpft, listenreich scharfer Zähne. Reißt das dampfende Maul auf zum Fauchen und Fluchen, war einst zu Bescheidenheit, Nachgiebigkeit erzogen, in fröhlicher Armut, einem Haus asozialer Familien. Meine Arbeitsmethode sie besteht darin, dass ich manche Texte in ein Mäppchen für Gedichte lege, andere in eines für Prosa. Die Unterscheidung fällt mir nicht schwer. Beim Sammeln und Sortieren organisieren sich die Gebilde in bestimmte Bahnen und bringen weitere Sätze hervor. Il Compositore und Robert befinden sich im Garten, herabgewehte Äste und Ästlein auflesen zum Feueranzünden. Sie rufen und bellen und winken mir zu. Maurizius studiert alles Mögliche über Physik weil sie morgen eine Arbeit schreiben. Minus ein Grad, mehr nicht! wie Göthe so trefflich sagte. Was zu "mehr Licht!" verballhornt wurde. Eines Nachts, als der Vollmond erglühte, später sein Licht weit in die Ebene goss, unaufhaltsam, auch mir ins Gesicht schien, und ich im unruhigen Halbschlaf überlegte, wie ich dem Esel sein Schrot darreichen könnte, ohne dass die zahlreicher gewordenen Schafe sich daran vergriffen, da sah ich plötzlich die Pferde der Kindheit aus der Vergessenheit treten mit ihren Namen, den umgehängten Futterbeuteln, das Maul darinnen nach vierzig Jahren. Als der Compositeur gestern aus Dellstedt von der Chorprobe kam, da hatte er einen im Krönchen, so hatten die Sänger sich schließlich für seine Mühe bedankt.

Erscheint lt. Verlag 3.2.2010
Verlagsort München
Sprache deutsch
Maße 125 x 200 mm
Gewicht 287 g
Einbandart gebunden
Themenwelt Literatur Briefe / Tagebücher
Schlagworte Kirsch, Sarah; Tagebuch
ISBN-10 3-421-04451-1 / 3421044511
ISBN-13 978-3-421-04451-8 / 9783421044518
Zustand Neuware
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