Lass uns von der Hamburger Schule reden (eBook)
176 Seiten
Ventil Verlag
978-3-95575-634-5 (ISBN)
Johannes Springer, Kulturwissenschaftler, Lehrbeauftragter an der Universität Bremen und der Hochschule Osnabrück, Redakteur beim skug - Journal für Musik
Die Hamburger Schule als Produktionskultur
Johannes Springer
Eine sehr zentrale feministische Kritik an der Struktur popkultureller Szenen hat sich immer wieder an der auch dort häufig anzutreffenden Reproduktion klassischer geschlechtlich codierter Vorderbühne / Hinterbühne, Öffentlich / Privat-Dualismen abgearbeitet. So konstatierte Melissa Klein in ihrem einflussreichen Text »Duality and Redefinition: Young Feminism and the Alternative Music Community«, dass ihre bohemienartigen, linken, feministischen Freunde1 eben doch diejenigen waren, die auf der Bühne standen, sie und ihre Freundinnen eher dahinter, um dann einen Fanzine-Artikel von 1988 zu zitieren, der die Probleme der Punkszene von Washington, D.C. behandelt. In diesem fragen sich die Autorinnen, wie es kommt, dass in ihrer »alternativen« Welt die gleichen Strukturen entstanden sind wie in der Hegemonialkultur, die Frauen die organisatorische Arbeit erledigen, promoten, booken, Fanzines machen, unterstützen, während die Männer im Rampenlicht stehen.2 Nun wird auch im Rahmen dieser Interviewsammlung häufiger das Fehlen von Frauen auf den Vorderbühnen der Hamburger-Schule-Szene problematisiert und dieses Fehlen als Indiz für den Mangel an involvierten Frauen in der Szene an sich genommen. Zurecht wird dieses Ungleichgewicht exponiert, dabei aber auch einem etwas überholten Modell schöpferischer Tätigkeit angehangen, das seinerseits noch sehr dem romantischen Künstlermodell individueller Kreativität verpflichtet scheint. In diesem Projekt, das sich der Annäherung an eine Popsubkultur verschreibt, wird die Produktion populärer Musik in der Folge Howard S. Beckers als kollektiver Prozess und interaktives Geflecht aus den Bereichen Musik, Design, Produktion, Distribution, Promotion, Journalismus, als »Art-World« mit geteilten Konventionen und Praktiken, betrachtet.3 Entsprechend sind mit der Grafikdesignerin Bianca Gabriel, der Publizistin Katha Schulte, Labelmanagerin Charlotte Goltermann und Promoterin Myriam Brüger Akteure der vermeintlichen Hinterbühne als wesentliche Konstituenten der Szene in diesem Buch neben den interviewten Musikerinnen präsent. Die bisweilen als fehlend monierte Ebene der Erklärung ästhetischer Bedeutung, die durch die Konzentration auf die Ebene räumlicher, sozialer, organisatorischer Kooperation und Interaktion bloß oberflächlich erfasst werden könne4, möchten wir ebenfalls nicht vernachlässigen, da sich gerade in der Verhandlung ästhetischer Muster Geschlechterasymmetrien einschreiben.5 Die Öffnung zu einem Ansatz, der die »cultures of production« reflektiert, also Kulturproduktion nicht länger nur unter den Vorzeichen des determinierenden Einflusses institutioneller, ökonomischer Zwänge und industrieller Verwertungslogik interpretiert, also zu betonen, wie Industrie Kultur produziert, ist geboten. Denn anstatt für die Produktion symbolischer Formen nur die Prämissen des wirtschaftlichen, kommerziellen Erfolgs anzunehmen, versucht dieser maßgeblich von Keith Negus vertretene Ansatz, die Rolle sozialer Beziehungen, kultureller Werte und Überzeugungen als integralen Bestandteil der Produktion zu fokussieren.6 Es geht folglich um die Art, wie die Kultur Industrie produziert im Kontrast z.B. zur fordistischen Tradition, die sich Kulturproduktion als eine Sphäre denkt, die auf standardisierte, profitorientierte Fließbandproduktion abstellt und durch reine Verwertungsinteressen geformt ist. Die Produktion von Kultur wird durch »weiter zu fassende gesellschaftliche Formationen bestimmt, durch historische Prozesse, geografische Spannungen und kulturelle Praktiken, die weder der Kontrolle einzelner Unternehmen unterliegen noch von diesen durchschaut werden«7. Jede Tätigkeit in der Kulturproduktion ist in der Folge als bedeutungsvolle Praxis zu interpretieren und nicht als organisationslogisch oder ökonomisch determinierte. Die Produktionskultur impliziert demnach, die Tätigkeit der in der Kulturproduktion Beschäftigten als Teil einer »Gesamtheit einer Lebensweise« vorzustellen, d.h. die Trennung zwischen Berufs- und Privatperson, beruflichem Urteil / privatem Urteil für diesen Bereich als nicht gültig zu erklären.8 Großen Einfluss auf diese Art der Konzeption von Produktionskultur hat auch der Bourdieusche Habitusbegriff, der, erweitert um einen intersektionalen Zuschnitt, die Klassenzugehörigkeit als Einflussfaktor bei Geschmacksbildung hinsichtlich Kulturproduktion und -konsum bestimmte.
Gleichzeitig hoffen wir mit dieser Ausrichtung auf die unterschiedlichen Ebenen, Bühnen und Sektoren von Kulturproduktion auch der einer solchen Projektfragestellung stets innewohnenden Gefahr zu begegnen, die beteiligten Frauen als einheitliche Gruppe ohne Unterschiede, Brüche oder Konflikte zu zeichnen. Einer starken Binnendifferenzierung Rechnung tragend, gilt es zu konstatieren, dass wie schon die Kategorie »women in rock« zurückzuweisen war, auch die Annahme die Frauen als Frauen der Hamburger Schule würden eine Ästhetik, Erfahrung oder Perspektive teilen, wie dies mitunter gerne als Topos die Popkulturrezeption bestimmt, zu hinterfragen ist.9 Wie ergiebig eine geschlechterorientierte Forschung zur Hamburger Schule sein kann, hat Werner Garstenauer aus Sicht der masculinity studies vorexerziert, ohne allerdings eine subjektbezogene Akteursperspektive zu berücksichtigen.10 Aus dem hier vorgelegten Material ergeben sich Perspektiven, die eine Weiterbeschäftigung mit und Analyse der Positionen äußerst lohnenswert erscheinen lassen. Nimmt man die in der Forschung beschriebenen Prozesse der Invisibilisierung in populärkultureller Geschichtsschreibung,11 feldinterner Marginalisierung12, die Rolle des Journalismus u. a. für Karriereverläufe von Frauen im Pop oder bezüglich seiner geschlechterabhängigen Rezeptionskategorien13 als Beispiele, bieten sich in den hier dokumentierten Interviews viele Anschlusspunkte. Es wäre aber auch schon viel gewonnen, wenn dies ein Beitrag sein dürfte, Frauen stärker in das kulturelle Gedächtnis einer Subkultur wie der Hamburger Schule einzuschreiben.
1 Diese auch im Rahmen der Hamburger Schule nicht uninteressante Beschreibung – viele der an der Szene beteiligten Männer würden sich zumindest in ihrer Inszenierung ebenfalls als feministisch und linke Bohemiens beschreiben lassen – wird von Davies’ Ausführung zum Popjournalismus gestützt, der seine Verehrung für »Byronic, bohemian, feminised men as a Romantic hero« nutzt, um seine Praxis der Marginalisierung realer Frauen im Pop zu überwölben und implizit zu legitimieren. Helen Davies (2001): »All Rock and Roll is Homosocial: The Representation of Women in the British Rock Music Press«, in: Popular Music 20, S. 309
2 Vgl. Melissa Klein (1997): »Duality and Redefinition: Young Feminism and the Alternative Music Community«, in: Leslie Heywood / Jennifer Drake (Hg.): Third Wave Agenda: Being Feminist, Doing Feminism. Minneapolis: University of Minnesota Press, S. 211
3 Vgl. Howard Becker (1974): »Art As Collective Action«, in: American Sociological Review, Vol. 39, No. 6, S. 767–776
4 Vgl. Malte Friedrich (2010): Urbane Klänge. Popmusik und Imagination der Stadt. Bielefeld: transcript, S. 20–23
5 So ist die rockjournalistische Entwicklung der Kategorien authentischer, ernster, »tiefer« Musik für die Deklassierung weiblicher Musikerinnen, die meist am kommerziellen, minderwertigen Pol des Feldes angesiedelt werden, wichtig. Vgl. Ulf Lindberg et al (2005): Rock Criticism from the Beginning. Amusers, Bruisers & Cool-Headed Cruisers. New York u.a.: Peter Lang; Helen Davies (2001): »All Rock and Roll is Homosocial«, S. 301 ff. In einigen hier dokumentierten Interviews taucht das Problem der Diskursivität, Politizität, Ernsthaftigkeit in der Musik auf, die als Differenzmarker fungieren und über Zugänge zu Plattenverträgen, Anerkennung und Kredibilität im Feld entscheiden.
6 Vgl. Keith Negus (2002): »Produktionskultur und die soziale Aushandlung symbolischer Formen«, in: Andreas Hepp / Martin Löffelholz (Hg.): Grundlagentexte zur transkulturellen Kommunikation. Konstanz: UVK, S. 250
7 Keith Negus (2003): »Kreativität und die Kulturen der Produktion«, in: Marion von Osten (Hg.): Norm der Abweichung. Zürich: Edition Voldemeer, S. 122
8 Negus, Keith: »Produktionskultur und die soziale Aushandlung symbolischer Formen«, S. 254 f.
9 Vgl. Helen Davies: »All Rock and Roll is Homosocial«, S. 303. Schon aus den im Vorfeld vorhandenen Berichten konnte man gänzlich unterschiedliche...
Erscheint lt. Verlag | 21.6.2024 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Kunst / Musik / Theater ► Musik |
ISBN-10 | 3-95575-634-3 / 3955756343 |
ISBN-13 | 978-3-95575-634-5 / 9783955756345 |
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