Wie rationale Maschinen romantisch wurden -  Philipp Schönthaler

Wie rationale Maschinen romantisch wurden (eBook)

KI, Kreativität und algorithmische Postrationalität
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
223 Seiten
Matthes & Seitz Berlin Verlag
978-3-7518-3016-4 (ISBN)
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Ausgehend von Daniel Kehlmanns Reise ins Silicon Valley und seinem Versuch, mithilfe einer KI eine Erzählung zu schreiben, zeigt Philipp Schönthaler, wie die Romantik als kulturelles Deutungsschema selbst dort noch ihre Wirkmacht entfaltet, wo die Technik am fortschrittlichsten erscheinen will: in Visionen einer Singularität und Superintelligenz. Standen noch in den Sechzigerjahren der in die Gesellschaft Einzug haltende Computer als Agent von Objektivität, Transparenz und Verlässlichkeit und die »Geburt der Poesie aus dem Geist der Maschine« programmatisch für ein antiromantisches Schreiben, gelten die digitalen Techniken heute zunehmend als opak, voreingenommen, vor allem aber als kreativ. Denn längst hat sich der Gegensatz verschliffen zwischen einer natürlichen Poesie, die den Schreibakt in einem lebensweltlich verankerten Ich beginnen lässt, und einer künstlichen Poesie, die ihn in einer radikalen Abkehr davon an das Funktionsprinzip einer regelgeleiteten und rational operierenden Maschine bindet. Wie aber konnte es dazu kommen, dass die seinerzeit noch raumfüllenden Apparate der Spitzentechnologie, die wenig mit der Kultur der schönen Künste zu tun hatten, zur Blaupause des Schreibens wurden? Und was bedeutet es, dass Computer mittlerweile weniger über ihre logisch-mathematischen Funktionsweisen als über ein populärromantisches Muster rezipiert werden? 

Philipp Schönthaler, 1976 in Stuttgart geboren, erhielt 2012 für sein Erzähldebüt Nach oben ist das Leben offen den Clemens-Brentano-Preis. Bei Matthes & Seitz Berlin sind bisher fünf Bücher erschienen, der Essay Portrait des Managers als junger Autor wurde 2016 mit dem Preis des Stuttgarter Wirtschaftsclubs ausgezeichnet. Sein Roman Der Weg aller Wellen. Leben und Dienste II setzt die im Erzählband Vor Anbruch der Morgenröte. Leben und Dienste I (2017) begonnene Auseinandersetzung mit der Technologie fort. Er lebt in Berlin.

Einleitung: Reise in die Zukunft des Schreibens


In seiner »Stuttgarter Zukunftsrede« Mein Algorithmus und Ich berichtet der deutsch-österreichische Autor Daniel Kehlmann von einer Reise ins Silicon Valley im Februar 2020. Der Anlass dafür war eine Einladung von Open Austria – einer Initiative des Auswärtigen Amts mit Sitz in San Francisco und der Mission, »Österreich und das Silicon Valley auf den Feldern der Wirtschaft, Technologie, des Investments, der Tech-Diplomatie und Künste zusammenzubringen«.1 An der sagenumwogenen Wiege der heutigen Digitaltechnologien sollte mithilfe eines maschinellen Sprachverarbeitungsprogramms, aus einem Ping Pong von Sätzen, die Kehlmann im Wechsel mit dem Computerprogramm zu schreiben beabsichtigte, eine Erzählung entstehen. Zurück auf dem alten Kontinent traf der Schriftsteller allerdings nur mit einer Rede über die erprobte Co-Autorschaft zwischen Mensch und Maschine ein – von einer Erzählung, einem vorzeigbaren Resultat, fehlte bis auf wenige ausgesuchte Beispielsätze jede Spur.

Obwohl Kehlmanns Ausflug an die Westküste als kultureller Vertreter des alten Europas, der für seine Romane international bekannt ist, viel Aufmerksamkeit erregt hat, ist die Bedeutung der Reise selbst, also der Umstand, dass sie überhaupt stattgefunden hat, kaum je zur Sprache gekommen. Das mag auch der ausgestellten Schlichtheit des essayistischen Ichs geschuldet sein, das Kehlmann in Palo Alto2 landen ließ, um es – der Titel seiner Rede Mein Algorithmus und Ich weist das aus – zum Maßstab für die Auseinandersetzung mit der Technik zu nehmen. Die theoretischen Ausführungen bleiben oberflächlich (die Mächtigkeit des Sprachmodells, das man Kehlmann vorsetzte, lässt sich nicht erst mit der Veröffentlichung von ChatGPT im November 2022 anzweifeln), und über eine sechzigjährige Geschichte der computergenerierten Literatur geht der Romancier hinweg, als hätte es diese gar nicht gegeben. Was »echte Literatur« ist, weiß Kehlmann schließlich, bevor er sein »Experiment« mit der Künstlichen Intelligenz (KI) überhaupt beginnt.3

Neben seinem Renommee dürfte Kehlmanns Literatur- und Schreibverständnis zwar einer der Gründe sein, warum dieses Experiment überhaupt stattgefunden hat. Dennoch kann es verwundern, dass es ihm selbst im Nachgang nicht einfällt, danach zu fragen, wie der Computer das Schreiben verändern oder wie eine Literatur aussehen könnte, die sich von der algorithmischen Logik des Computers irritieren oder sogar leiten ließe – zumal die Rede, in der Kehlmann von seinen Erfahrungen berichtet, nach jener Stadt benannt ist, die zwar »die merkwürdige Eigenschaft [hat], dass man sie übersieht«,4 die aber nichtsdestotrotz als Geburtsort der Computerliteratur in Deutschland gelten darf und ihr für ein Jahrzehnt als vitaler Hotspot diente, an dem die Literatur in einer Anpassung sowohl an die neuen Rechenmaschinen als auch an die technokapitalistische Gesellschaftsordnung zukunftstauglich gemacht werden sollte.

Was aber ist nun das eigentlich Bedeutsame an »diesem Ausflug in die Zukunft«5 des Schreibens? Es ist die Tatsache, dass Kehlmann überhaupt in ein Flugzeug steigt und sich auf das Experiment mit der KI einlässt. Denn noch vor sechzig Jahren, als die computergenerierte Literatur sich mit dem theoretischen Flankenschutz von dem an der Technischen Universität Stuttgart lehrenden Physiker, Philosophen, Wissenschaftstheoretiker und Autor Max Bense offensiv in einer Abkehr von der konventionellen Literatur formierte, als die »Geburt der Poesie aus dem Geist der Maschine«6 programmatisch für ein antiromantisches Schreiben stand, wäre es kaum vorstellbar gewesen, dass sich jemand wie Kehlmann, der »nicht an Regeln beim Schreiben« glaubt,7 auf die Zusammenarbeit mit dem Computer einlässt. In den Begrifflichkeiten Benses, der die natürliche von der künstlichen Poesie abgrenzte, wobei letztere ihr Ideal in einer mathematischen, maschinell ausführbaren Texterzeugung fand, ist Kehlmann schließlich ein stereotyper Repräsentant der natürlichen Poesie und das heißt all dessen, was die frühe Computerliteratur, wie sie exemplarisch aus dem Kreis der Stuttgarter Gruppe um Bense hervorging, scheute wie der Teufel das Weihwasser. Insofern erscheint Kehlmanns Reise nur möglich, weil sich die Legitimationserzählungen und Rahmen, wie Computer betrachtet werden, grundlegend gewandelt haben. Seinen Ausdruck findet diese Transformation darin, dass Computer zwar nach wie vor als technische, logisch-mathematisch strukturierte Apparate wahrgenommen werden, doch nicht länger als Garanten der Objektivität, Transparenz, Verlässlichkeit sowie einer analytisch-mathematischen Repräsentation oder Erschließung der Welt gelten – Eigenschaften, die mit Kehlmanns im Kern romantischer Poetik kaum verträglich wären. Aufschlussreich ist die Reise also, weil sie symptomatisch Auskunft gibt über den Wandel der algorithmischen Rationalität und die veränderten Prämissen und Erwartungen, mit denen die Maschinen und ihre Resultate heute rezipiert werden.

Diese Entwicklung – so die Vermutung des vorliegenden Essays –, die ihren Ausgangspunkt Ende der 1950er und Anfang der 1960er genommen hat, als Rechenanlagen erstmals für den zivilen Gebrauch vertrieben wurden, wird in Rückbezug auf die Romantik sinnfällig, denn Computer legen zunehmend ein Verhalten an den Tag, das zwar aus logisch-mathematischen Prinzipien hervorgeht, aber oft nicht mehr auf diese zurückgeführt werden kann, dies in vielen Fällen auch gar nicht mehr soll. Stattdessen wird nach einem maschinellen Verhalten gesucht, das überraschend, kreativ, originell, unergründlich, singulär oder autonom operieren soll, werden die Maschinen und ihr Output verstärkt danach bewertet, ob sie ihr menschliches Gegenüber affektiv, emotional oder menschlich berühren – alles Qualitäten, wie sie für die Beschreibung romantischer Befindlichkeiten und Subjektivitäten typisch sind.

Womit wir es also zu tun haben, ist gewissermaßen eine algorithmische Postrationalität,8 ist eine Verschiebung innerhalb algorithmisch und simulativ erzeugter Resultate, Objekte und Wirklichkeiten, die zwar einerseits logisch, mathematisch und algorithmisch strukturiert und in diesem Sinn rational sind. Andererseits lösen die simulativ erzeugten Objekte aber die traditionell an die Rationalität gerichteten Erwartungen auf Objektivität, Transparenz und eine mathematisch beweisbare Verlässlichkeit nicht mehr ein. Die algorithmische Postrationalität, die hier weniger einen faktischen Tatbestand, sondern einen heuristischen, einen Wandel kenntlich machenden Unterscheidungswert markieren soll, benennt demnach eine wesentliche – empirische und phänomenologische – Voraussetzung, warum die KI entlang romantischer Topoi diskutiert werden kann, anstatt sich länger ins Muster der rationalen Maschine zu fügen.

Der Gegensatz, den Bense damals noch auszumachen meinte zwischen einer natürlichen Poesie, die den Schreibakt in einem lebensweltlich verankerten Ich beginnen lässt, und einer künstlichen Poesie, die ihn in einer radikalen Abkehr davon an den Funktionsprinzipen des Computers als strikt regelgeleiteter, logisch und klassisch mathematisch operierender Maschine festmacht, hat sich dementsprechend heute fast gänzlich verschliffen. Längst steht die maschinelle Textproduktion nicht mehr im Ausschlussverhältnis zu einem romantischen Bewusstsein.

Auf den vorliegenden Seiten interessiert mich dieser Befund zum einen, weil sich darin die Rekonfiguration der algorithmischen Rationalität niederschlägt, wie sie sich exemplarisch in den Debatten um die KI und um die statistischen Large Language Models (LLMs) äußert. Zum anderen, weil sich darin die Mächtigkeit kultureller Deutungsmuster abzeichnet: Erst sie legitimieren die Technik und verleihen dieser ihre sinnhafte Gestalt und soziale Bedeutung. In dieser Hinsicht zeugt die romantische Maschine davon, dass die digitalen Technologien gerade auch dort, wo sie angeblich besonders visionär oder fortschrittlich auftreten, von tradierten Denkmustern zehren, die sich bereits bewährt haben – was dann auch ein Grund ist, warum die Literatur, die einerseits als verlässlicher Speicher für kulturelle Denkformationen dient, diese aber andererseits auch immer wieder befragt, nach wie vor eine lohnende Disziplin darstellt, um selbst die neusten technischen Entwicklungen zu reflektieren.

Mit der Frage nach den kulturellen Konfigurationen, aus denen die digitalen Systeme hervorgehen, ist zugleich auch ein zentraler Anhaltspunkt für eine Kritik an der Technik benannt. Denn die Wirkmächtigkeit der Technik ist niemals nur das Resultat der Leistungsfähigkeit technischer Systeme. Vielmehr sind diese, um ihre Wirkmächtigkeit entfalten zu können, wesentlich auf kulturelle Bedingungen, die ihnen förderlich sind,...

Erscheint lt. Verlag 31.5.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Kunst / Musik / Theater Malerei / Plastik
ISBN-10 3-7518-3016-2 / 3751830162
ISBN-13 978-3-7518-3016-4 / 9783751830164
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