Gruppenimprovisation -  Rosemarie Tüpker

Gruppenimprovisation (eBook)

Spielformen aus der Musiktherapie
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2024 | 1. Auflage
208 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7597-3924-7 (ISBN)
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Gruppenimprovisation verbindet die freie musikalische Gestaltung mit der Beziehungsgestaltung in einer überschaubaren Gruppe. Als ein Musizieren ohne Noten ist sie dem Augenblick gewidmet und in der Musiktherapie ebenso Zuhause wie in künstlerischen, sozialen und pädagogischen Kontexten. Die hier zusammengestellten Spielformen stammen aus der Praxis der Musiktherapie mit Erwachsenen, aus der Arbeit mit Studierenden und mit freien Gruppen, mit Laien und Profis. Sie möchten eine Anregung sein für alle, die im eigenen Anwendungsbereich mit Gruppen improvisieren wollen. Ausführungen zur Gruppenimprovisationsbewegung und zur Gruppenmusiktherapie eröffnen die Beschreibung der Spiele und der Erfahrungen, die mit ihnen gemacht wurden. Anwendungsbezogene Aspekte und ein Register sollen das rasche Auffinden von Spielen erleichtern.

Rosemarie Tüpker lernte die Gruppenimprovisation in den 1970er Jahren an der Musikhochschule in Köln kennen. Sie stellt hier eine Sammlung vor, die gespeist ist aus der eigenen künstlerischen Erfahrung, aus der musiktherapeutischen Praxis mit Erwachsenen, der Lehrtätigkeit an der Universität Münster und der morphologischen Erfahrung.

3. Gruppenmusiktherapie


Wie in der Psychotherapie wird in der Musiktherapie zwischen der Behandlung im Einzelsetting und in Gruppen unterschieden. Anders als in der Psychotherapie gab es in der modernen Musiktherapie beide Formen von Beginn an, also etwa ab den 1960er Jahren sowohl in den sogenannten rezeptiven als auch in den aktiven Verfahren. In diesem Buch werden vorrangig Spielformen der aktiven Gruppenmusiktherapie mit Erwachsenen vorgestellt.3 Es finden sich aber auch einige Beispiele des Musikhörens, da die Unterteilung in diese beiden Verfahren unter Musiktherapeut:innen nicht mehr in der alten Form aufrecht erhalten wird.

Zu speziellen Settings und Praxisbeispielen von Gruppenmusiktherapie sei auf die entsprechende Fachliteratur verwiesen. Neben zahlreichen Aufsätzen seien als Monografien genannt: Ronald Borczon 1997, Christoph Schwabe 1997, Frank Grootaers 2001, Urte Reich 2009, Alison Davies et al. 2014 und Christof Kolb 2016.

Wesentliche Ebenen des Handelns und Verstehens in der Gruppenmusiktherapie insgesamt lassen sich nach meiner eigenen Erfahrung von drei Polaritäten her beschreiben. Als vierter Gesichtspunkt ist der in der Musiktherapie fast durchgängig übliche Austausch von Musik und Gespräch hinzuzufügen. Mit diesen vier Gesichtspunkten lässt sich das Feld umschreiben, in dem die Gruppe sich bewegt und welches der Musiktherapeut unterschiedlich konzeptualisieren und gestalten kann.

Dass ich mich in diesem Kapitel im Wesentlichen auf musiktherapeutische Settings beziehe, liegt an meinen eigenen Erfahrungsschwerpunkt. Ich hoffe, dass sich die Darstellung anhand dieser Polaritäten ausreichend gut auf die Arbeit in anderen Arbeitsfeldern wie der Sozialen Arbeit, des Coachings, in pädagogischen Kontexten sowie in der Arbeit mit Menschen mit Beeinträchtigungen auch jenseits eines therapeutischen Auftrages, übertragen lässt. An einigen Stellen habe ich versucht, entsprechende Hinweise zu geben.

Die herausgearbeiteten Polaritäten lassen sich unter den folgenden Stichworten beschreiben:

  1. Die Gruppe als Ganzes und der Einzelne in der Gruppe
  2. Interaktion und Atmosphäre
  3. Problemlösung und Regression
  4. Musik und Gespräch

Abb. 1: Polaritäten Gruppenmusiktherapie

3.1 Der Einzelne in der Gruppe – die Gruppe als Ganzes


Es gibt Formen, bei denen die musiktherapeutische Arbeit sich auf einzelne Personen aus der Gruppe zentriert und die Gruppe eher den Hintergrund für die Interaktion zwischen Patient und Therapeut bildet. Die Gruppe wird einbezogen, gibt Rückmeldungen, spielt mit, gibt Resonanz, aber der Gruppenprozess selbst ist eher der Hintergrund, vor dem sich die Arbeit mit dem Einzelnen abspielt. Die Entwicklung des Einzelnen steht im Vordergrund.

Den anderen Pol bildet eine Arbeit, bei der sich die Aufmerksamkeit der Musiktherapeutin auf die Gruppe als Ganzes richtet. Sie achtet darauf, was für eine seelische Figur die Gruppe insgesamt ausbildet, um welchen Konflikt sie kreist, auf welcher strukturellen Ebene sie agiert und welches Gruppenthema sich unbewusst ausbildet. Spielvorschläge und Deutungen beziehen sich dann auf die Gruppe als Ganzes. Die Entwicklung gestaltet sich als eine Gruppenentwicklung, die sich dann in jeweils spezifischen Ausprägungen der Einzelnen zeigt. Hat z. B. das musikalische Zusammenspiel immer wieder die Frage hervorgebracht, ob die Verwirklichung eigener Spielimpulse und die gewünschte Harmonie in der Gruppe sich wirklich immer widersprechen müssen, so kann es bei einem Mitglied um die Loslösung von den Eltern gehen, bei einem anderen um ein Liebesverhältnis, bei einem Dritten um berufliche Fragen.

Die Gewichtung der beiden Pole kann innerhalb eines Gruppenverlaufs immer wieder abwechseln, wie dies z. B. in der Arbeit mit einer Gruppe von Bewohner:innen einer Einrichtung der Fall sein wird, die über einen langen Zeitraum miteinander die Gruppe besuchen. In der Beratungsarbeit hängen sie mit der Aufgabenstellung einer Supervision zusammen. So zentriert etwa die Fallsupervision eher auf denjenigen, der einen Fall vorstellt, während in der Teamsupervision oft die Gruppe in ihrem Zusammenwirken und ihrer Interaktion im Vordergrund steht. Zwischen diesen Polen lassen sich verschiedene Ausprägungen entwickeln auf der Suche nach einer bestmöglichen Form unter den jeweils gegebenen Rahmenbedingungen wie z. B. einer hohen Fluktuation oder Stabilität der Gruppenzusammensetzung, ihrer speziellen therapeutischen oder sonstigen Zielsetzung. Auch aus Sicht der einzelnen Teilnehmer:innen können Vorder- und Hintergrund wechseln, auch wenn aus dieser Sicht das eigene Erleben stets das Zentrum bilden wird.

Die beiden Pole haben einen Einfluss auf die therapeutische Beziehung. Bei der Arbeit mit dem Einzelnen in der Gruppe ist die Beziehung zwischen Therapeut und dem einzelnen Patienten oft näher an der intensiven Beziehung, wie sie in einer Einzeltherapie entsteht. Das betrifft auch die Ebene der Übertragung. Bei einer stärkeren Zentrierung auf die Gruppe als Ganzes hingegen kann die Ressourcenaktivierung gefördert werden, gerade auch für zurückhaltende Personen, und die Beziehungen der Klient:innen untereinander werden im Erleben bedeutsamer. Auch dies gilt ebenfalls auf der Ebene der Übertragung, die sich auch untereinander einstellen kann. Oft können motivationale Klärung und Problemaktualisierungen beim Pol der Gruppe als Ganzes aber auch dann stattfinden, wenn dies nicht für jeden einzelnen Patienten expliziert wird. Das kann auch in eine bisweilen überraschend konkrete Problembewältigung münden, etwa wenn die gesamte Gruppe dem Einzelnen konkrete Rückmeldungen gibt. Für zurückhaltende Patient:innen, die lieber im Hintergrund bleiben, ermöglicht gerade auch der Schutz der Gruppe als Ganzes positive Bewältigungserfahrungen. Dies geschieht oft unterhalb der Aufmerksamkeitsschwelle des Therapeuten, der vielleicht erst in einem Nachgespräch darüber etwas erfährt.

In anderen Arbeitszusammenhängen macht es Sinn, anhand der Zielsetzung einer Gruppenarbeit vorab zu überlegen, von welchem Schwerpunkt man als Gruppenleiter:in ausgehen möchte. Hat man sich diesbezüglich entschieden, fällt es leichter, den jeweils anderen Pol als Ergänzung mitwirkend zu beobachten und zu handhaben. Bei einem Workshop kann dies z. B. dazu beitragen, eine gute Umgangsform dafür zu finden, wenn unbeabsichtigt eine einzelne Person sich zu sehr in den Vordergrund drängt. Dies rechtzeitig zu regulieren, hilft die Anliegen aller zum Zuge kommen zu lassen und schützt zugleich diese Person vor den bald einsetzenden Aggressionen der anderen.

Die Spielformen des Spiele-Repertoires können dem einen oder anderen Pol zugeordnet werden. Durch eine entsprechende Auswahl lässt sich so über die Musik die Ausrichtung mitbestimmen oder auf sich einstellende Gegebenheiten reagieren. Sie tauchen deshalb auch unter den Aspekten auf (Kapitel 5). Dasselbe gilt auch für die weiteren Polaritäten.

3.2 Interaktion – Atmosphäre


Mit dem Pol der Interaktion sind die konkreten musikalischen Interaktionsmöglichkeiten der Gruppenmitglieder untereinander gemeint. Sie können sich auch zwischen zwei oder drei Personen abspielen, und sie können beispielhaft für Interaktionen im realen Alltag der Gruppenmitglieder sein. Der Begriff steht für das wechselseitige aufeinander Einwirken von Personen oder Systemen.

Einerseits lassen sich wichtige Beziehungen, die im Gruppengespräch thematisiert werden, explizit in ein musikalisches Spiel übertragen, etwa die Beziehung zur Mutter, dem Partner, dem Arbeitskollegen oder der Chefin. Ähnlich wie im Psychodrama können solche Beziehungen im Zusammenspiel zwischen einem Protagonisten und einer stellvertretenden Rollenübernahme durch andere Gruppenmitglieder mit verschiedenen Zielsetzungen arrangiert werden. Zielsetzungen können z. B. eine Vertiefung des Verstehens der Beziehung sein, eine Klärung von Fragen oder Konflikten im geschützten therapeutischen Raum oder eine Einübung in neue Verhaltensweisen. Die nicht beteiligten Gruppenmitglieder können z. B. zuhören und ihre Eindrücke zu dem musikalischen Spiel äußern.

Andererseits ereignen sich im musikalischen Zusammenspiel – wie darüber hinaus im gesamten Gruppengeschehen – spontan und unbeabsichtigt Interaktionsformen und -muster, die sich erst im Nachhinein als eine Widerspiegelung von bekannten oder typischen Mustern im Alltag herausstellen. Sie können dadurch entdeckt oder bewusstwerden und Veränderungsmöglichkeiten gefunden werden. Nicht übersehen werden sollte dabei, dass es immer auch Interaktionen geben kann, die neu sind, in psychoanalytischer Terminologie: jenseits des Übertragungs- und Gegenübertragungsgeschehens.

Dem Pol der Interaktion gegenüber stehen Momente und Phasen des Atmosphärischen. Sie entstehen oft spontan, wenn ganz ohne Vorgaben improvisiert wird. Dann breitet sich z. B. die momentane Anspannung der Gruppe aus, etwas Lähmend-Bedrückendes oder Entgrenzendes, Abenteuerlust oder Ängstlichkeit, Hemmung oder Aufbruchstimmung, Aggression oder Traurigkeit....

Erscheint lt. Verlag 7.6.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Kunst / Musik / Theater Musik
ISBN-10 3-7597-3924-5 / 3759739245
ISBN-13 978-3-7597-3924-7 / 9783759739247
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