Die Mahlers in New York -  Joseph Horowitz

Die Mahlers in New York (eBook)

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2024 | 1. Auflage
250 Seiten
Wolke Verlag
978-3-95593-601-3 (ISBN)
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»Gustav Mahler war für Amerika nicht bestimmt. Fernab seines gewohnten Ambientes wirft Mahlers holprige New Yorker Karriere - an der Metropolitan Opera und bei den New Yorker Philharmonikern (1907-1911) - ein überdeutliches Schlaglicht auf seine Eigenheiten. Über den Menschen Mahler lernt man in Manhattan Dinge, die in Wien oder Budapest nicht so leicht zu beobachten waren. Das ist meine erste Prämisse.« Joseph Horowitz - Musikkritiker, Autor und Forscher - beleuchtet in seinem nun in deutscher Übersetzung vorliegenden Roman Gustav Mahlers Seitenspiel in den USA. Im Licht eines anderen Kontinents und vor dem Hintergrund eines oft unterschätzen Musiklebens im New York der Jahrhundertwende erscheint die Person und die Kunst Gustav Mahlers ungleich schärfer konturiert. Mit kenntnisreichem Einfühlungsvermögen, musikalischer Hellhörigkeit und psychologischer Schärfe gelingt Joseph Horowitz eine ganz neue Art, Erkenntnisse über den weltberühmten Komponisten zu erlangen.

1. Kapitel

Dezember 1907

Conried musterte die Einzigartigkeit seines Rauchsalons. Das Sofa, auf dem er sich ausstreckte, trug gedrechselte Säulen, auf denen ein Baldachin ruhte. Eine Rüstung in der Ecke wurde von innen durch eine rote Glühbirne beleuchtet; in anderen Teilen des Raumes sorgte die Anordnung der farbigen elektrischen Lampen für ein unterirdisches Licht. An den Wänden hingen Portraits von Sängern und Schauspielern. Conried selbst war ein kleiner, korpulenter Mann mit einem übergroßen Kopf, mächtigen Augenbrauen, runden Schauspieleraugen, einer knolligen Nase, einem fülligen Mund und einem Doppelkinn. Sein dichtes schwarzes Haar war vom Ansatz aus nach hinten gekämmt. Er trug einen schwarzen Anzug und wildlederne Stiefeletten mit hohen Absätzen. Dippel hatte vom Hotel aus angerufen. Die Besucher waren schon auf dem Weg. Conrieds Coup war geglückt. Er hatte die Zukunft seines Musikunternehmens, der Conried Metropolitan Opera Company, gesichert.

Ein Klopfen an der Tür meldete die Ankunft. Dippel schaute kurz in den Raum, dann bat er einen Mann und eine Frau hinein. Beide waren von auffälligem Auftreten und Aussehen, doch auffällig unterschiedlich in jeder anderen Hinsicht. Der Mann war mittleren Alters, klein und von nervöser, aber verbrauchter Lebhaftigkeit. Sein langer, bartloser Kopf mit der hochgewölbten Stirn, dem zerzausten Haar, dem spitzen Schädel, den faltigen, eingefallenen Wangen und dem schmalen Mund strahlte die stolze, asketische Frömmigkeit eines Einsiedlers aus. Seine herausstechende Nase und die hinter einer rahmenlosen Brille bohrend blinzelnden Augen zeugten von einem rigorosen, ironischen Verstand und höchstwahrscheinlich auch von einer scharfen Zunge. Die Frau an seiner Seite hätte dem Alter nach seine Tochter sein können, aber ganz offenkundig entstammte sie sanfteren Genen aus privilegierteren Verhältnissen. Von höherem Wuchs als ihr Mann, vollbusig, aufrecht und ihren Kopf elegant wiegend strahlte sie Ausgeglichenheit, aber auch etwas Rätselhaftes aus. Ihre weder jung noch alt wirkende Selbstbeherrschung, die elfenbeinfarbene Haut, die kaum zu entziffernden Augen, die Ebenmäßigkeit und das glückliche Strahlen ihrer Gesichtszüge, der Schwung ihrer Frisur und ihrer Gesten – sie alle waren darauf aus, Männern aufzufallen und sie zu verwirren.

Conried kannte den Mann bereits. Er wusste, was ganz Wien wusste. Unter Druck konnte sein aufgesetztes Selbstvertrauen leicht in Ungeduld und üble Laune ausarten oder sich in schriller Verletztheit auflösen. Die Frau, die Conried nicht kannte und auch nie kennen würde, war ein seltsames Wesen. Sie war so in Tuch gehüllt wie der Mann nackt war; sie so selbstbeherrscht wie er selbstverliebt. Ihr Glamour überdeckte eine komplexe Mischung aus Souveränität und Unsicherheit, ein verwischtes Innenleben, das vermutlich auch sie selbst nicht ganz verstand. Sie war ein Mittel, um die so selbstverständlich erscheinende Macht des Mannes abzurunden, aber auch ein Köder, um diese Macht zu brechen.

»Herr Mahler! Seien Sie willkommen im Metropolitan Opera House!« rief Conried auf Deutsch. »Und Sie sind sicher Madame Alma?« Er hatte sich mühsam aufgerappelt und humpelte, auf zwei Krücken gestützt, auf die Gäste zu. Mit einer Körperkrümmung und nach erfolgreichem Umpositionieren der Krücken küsste er die in einen Handschuh gehüllte Hand der Dame. Dippel nahm den Mahlers die Mäntel und Hüte ab und entfernte sich. »Bitte sehr«, fuhr Conried fort, »nehmen Sie Platz«. Dann ließ er sich wieder auf das überdachte Sofa sinken. »Ich bitte um Verzeihung für das eisige Wetter – aber es ist nun mal Dezember. Ihr Hotel – ich hoffe, es entspricht Ihren Erwartungen?« Mahler saß auf der Kante des quastenbehangenen Sofas, das Conried ihm angeboten hatte. Seine Frau machte es sich derweil inmitten von ein paar Sofakissen bequem und stellte dabei ihre ansehnlichen Fesseln zur Schau. »Unsere Suite verfügt über mehr als genug Klaviere«, antwortete Mahler. »Zwei, um genau zu sein. Und wir blicken auf den Central Park, mit seinen Reitwegen und dem See.«

»Und die Reise?«

»Nun, wir haben sie überlebt. Wir sind erst gestern angekommen, wie Sie sicher wissen.«

»Gut, sehr gut. Ich bin glücklich, Sie beide zu sehen. Falls Sie nicht zu müde sind, gibt es heute Nachmittag Tosca, in weniger als einer Stunde. Mit Caruso; den müssen Sie unbedingt hören. Die perfekte Verkörperung des tenore italiano – sonnig, gut gelaunt, la voce d’oro. Als ich ankam, hatte Grau seinen Vertrag auslaufen lassen. Ich habe ihn für den Saisonauftakt eingeplant: Rigoletto, mit der Sembrich und mit Scotti. In dieser Saison singt er einundfünfzig Mal, exklusiv an der Met. Sie rollen die Augen – ja, natürlich, wie konnte ich das vergessen, Sie hatten ihn in Wien. Aber nur, wenn Sie ihn hier sehen, können Sie ermessen, was es bedeutet, in Amerika Berühmtheit zu erlangen. Hier, meine Freunde, sind wir nicht in Wien! Carusos Popularität, sie ist ansteckend, Sie werden sehen, Sie werden das schon sehen. Die Publikumslieblinge sind absolute Stars, sie sind im Himmel. Da kann nichts schief gehen. Derzeit haben wir Caruso und die Cavalieri in Fedora, die Sembrich im Barbier von Sevilla, Caruso und die Eames in Isis. Und obendrein Mefistofele mit der Farrar und Chaliapin. Ein begnadeter Darsteller. Selbst am Burgtheater habe ich nie eine derart kunstvolle Kostümierung und einen solchen Ausdruck erlebt. Als Rossinis Basilio ist er eher unscheinbar. Aber Sie müssen seinen Mefistofele sehen! In der Rolle wirkt er beinahe nackt. Sein Körper, seine Präsenz, seine Ausstrahlung – einfach unvergleichlich! Bitte sehen Sie mir nach, dass Bescheidenheit nicht zu meinen Tugenden zählt – schließlich bin ich ein Impresario. Ich liebe es, große Talente zu entdecken, sie auf den richtigen Pfad zu lenken, sie zu präsentieren, bekannt zu machen. Das Genie zu fördern – das hält mich auf Trab.« Conrieds Augen, deren Enthusiasmus mit seinem schwerfälligen Körper kontrastierte, fixierten Mahler.

»Ich bin nicht uninteressiert an Ihren neuen Italienern, Herr Conried.« Mahler wählte einen gelangweilten Tonfall. »Es wird uns ein Vergnügen sein, einen Blick auf Tosca zu werfen. Was Boito betrifft, so schätze ich durchaus seine intellektuellen Absichten. Seine Verdi-Libretti sind superb. Aber ich bin alles andere als überzeugt, dass er ein vollendeter Komponist ist.«

»Fast hätte ich es vergessen. Sie müssen hungrig sein? Unser Mittagessen wartet. Seezungenfilet. Bitte sehr.«

Die Mahlers standen auf. Alma beobachtete, welche Verrenkungen nötig waren, um Conrieds Beine und Füße in Richtung des geschmackvoll für drei Personen gedeckten Tisches zu bewegen. Conried öffnete die Weinflasche mit einem dezenten Plopp, schenkte drei Gläser ein und probierte einen Schluck. Während die Mahlers zu essen begannen, lehnte er sich in seinem Stuhl zurück und wandte sich schließlich an Alma.

»Sie werden sich fragen, wie der Schlesier Heinrich Cohen es geschafft hat, eine so große Operngesellschaft zu leiten. Lassen Sie mich meine Frage gleich selbst beantworten: Dies ist das Land der unbegrenzten Möglichkeiten, man muss sie nur nutzen. Ich kam 1878 als Dreiundzwanzigjähriger hier an – jünger als Sie, gnädige Frau. Die Schauspielerei am Burgtheater lag schon hinter mir, auch Bremen, wo ich mich zudem als Regisseur versucht hatte. Ich gab den Mephistopheles im Faust und den Iago in Othello. Aber dann Amerika, da fand ich Pionierbedingungen, was das deutschsprachige Theater betrifft. Große Rollen, große Stücke, Operette, Tourneen – ein Füllhorn der Möglichkeiten. Schließlich übernahm ich hier in Manhattan das Irving Place Theater – ein Weltklasse-Ensemble! Schiller, Lessing, Goethe. Und Hauptmann, Ibsen, Schnitzler, Fulda, Sudermann. Auch Operette – Strauß, Suppé, Millöcker. Jahr für Jahr brachte ich die größten deutschen Bühnentalente hierher. Agnes Sorma. Den Sonnenthal habe ich in New York berühmt gemacht.«

Er stürzte seinen Wein hinunter. Die Mahlers kauten unauffällig und warfen sich verstohlene Blicke zu.

»١٩٠٣ kam ich an die Met. Ich sollte meine Theaterkenntnisse einbringen. Sie werden das Haus gleich sehen. Mehr als dreitausend Plätze. Das ist nicht die Hofoper. Auch nicht, was die staatlichen Subventionen angeht. Wir haben Logenbesitzer, auf deren Geschmack wir natürlich Rücksicht nehmen müssen. Das amerikanische Publikum geht am Ende eines langen Arbeitstages ins Theater oder in die Oper. Die Mühen des Alltags sind hier größer als bei Ihnen, glauben Sie mir. Ich weiß, dass Sie von diesen Bedingungen zunächst keine gute Meinung haben werden, ich bin ja nicht naiv. Aber Sie werden herausfinden, wie man sich diese Bedingungen zunutze macht. Geld gibt es in Hülle und Fülle, man muss es nur herauskitzeln. Deshalb habe ich das Auditorium in Rot und Gold umgestaltet, den Orchestergraben verbreitert und die Saalbeleuchtung modernisiert. Das merkt das Publikum, das zahlt sich schnell aus. Was jetzt noch fehlt, ist, meine Stars zu einem Ensemble zusammenzuschweißen. Und das deutsche Repertoire muss mit Künstlern aufgefrischt werden, die Eindruck machen. Die Fremstad, van Rooy, sie werden helfen. Aber der Schlüssel, lieber Herr Mahler, der liegt in Ihrer Hand. Ich verstehe Ihren Idealismus, Ihre Ungeduld, Ihren Perfektionsdrang. Ihre Vision, meine Mission – Sie...

Erscheint lt. Verlag 1.3.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Kunst / Musik / Theater Musik
ISBN-10 3-95593-601-5 / 3955936015
ISBN-13 978-3-95593-601-3 / 9783955936013
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