FILM-KONZEPTE 72 - John Woo -

FILM-KONZEPTE 72 - John Woo (eBook)

Till Brockmann (Herausgeber)

eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
97 Seiten
edition text + kritik (Verlag)
978-3-96707-906-7 (ISBN)
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Heroisches Blutvergießen, mit diesem Begriff, der schon fast zu einer Genrebezeichnung gereift ist, werden John Woos Werke der 1980er und 1990er Jahre gern erfasst. Doch Woo Yu-sen, besser bekannt unter dem Namen John Woo, ist weit mehr als nur der Schöpfer eines brachialen Actionkinos. Als eindeutiges Kind des Hongkong-Kinos, dessen Produktionsweisen und filmsprachlichen Traditionen John Woo aufgriff, um sie auf eigenwillige und stilsichere Weise neu zu interpretieren, sind seine Werke ebenso geprägt von flamboyanten, ästhetisierten, durch ständige Rhythmuswechsel strukturierte Kampfchoreografien wie von einem komplexen Wertekanon, der aus seiner christlichen Erziehung, aus Ideen der Ritterlichkeit und der chinesischen Geisteswelt gleichermaßen schöpft. Seine Helden mögen entschlossen und heroisch sein, doch sie sind ebenso zerrissen, zweifelnd und melancholisch. Nach dem Karrierebeginn in Hongkong, arbeitete Woo ein Jahrzehnt in Hollywood und heute in der Volksrepublik China. Seinen Stil adaptierte er den jeweiligen Produktionsumständen, doch er blieb ihm stets treu.

Till Brockmann, Dr. phil., ist Filmjournalist und Filmkritiker, mehrheitlich für die NZZ. Zudem unterrichtet er am Seminar für Filmwissenschaft der Universität Zürich als Lehrbeauftragter.

[12|13] Andreas Ungerböck

Reise in den Westen


Anmerkungen zu John Woos triumphalen Erfolgen in den 1980er Jahren, zu T. E. Lawrence-Filmkritikern und zur Frage kultureller Differenzen

I. Das Zeug zum Helden


John Woos kurzer, aber eindrücklicher Siegeszug, beginnend mit YĪNGXIÓNG BĚNSÈ (A BETTER TOMORROW, 1986) bis hin zu LÀSHǑU SHÉNTÀN (HARD BOILED, 1992), seine große Anerkennung im Westen (als »Action-Gott«, um nur eines der zahlreichen schmückenden Attribute zu zitieren) waren ein eher untypischer Vorgeschmack auf das, was später an Erfolgen für asiatische Filmemacher und Filmemacherinnen (für diese leider in weit bescheidenerem Ausmaß) ab Ende der 1980er Jahre möglich werden sollte. Später vorläufiger Gipfelpunkt war der vierfache Oscar-Gewinn des koreanischen Films GISAENGCHUNG (PARASITE) von Bong Joon-ho im Jahr 2020 und der Asian-American-Triumph von EVERYTHING EVERYWHERE ALL AT ONCE von Dan Kwan und Daniel Scheinert im Jahr 2023. Im Fall von John Woo sprechen wir jedoch selbstverständlich von der Zeit vor dem Internet, von einer Zeit also, in der es nicht möglich war, asiatische Filme einfach mal so zwischendurch auf Streaming-Plattformen, auf YouTube oder via Sichtungs-Link anzusehen. Wenn man nicht das Glück hatte, Filme vor Ort in Asien oder bei Filmfestivals in Berlin, Cannes oder Venedig zu sehen (die heute überbordende Anzahl von Festivals war damals noch überschaubar), war man auf den regulären Kinovertrieb angewiesen, und da sah es schlecht aus: Einige wenige asiatische Filme – sie waren die große Ausnahme – schafften es tatsächlich hierzulande in die Kinos. Auf VHS-Kassetten konnte man zwar einige Filme aus Hongkong sehen – etwa die mit Jackie Chan –, allerdings meist schlecht synchronisiert und oft in verstümmelten Schnittfassungen. Das meiste andere aber, der Großteil der asiatischen Filmproduktion, blieb verborgen und ist es zum Teil bis heute. Ein wenig Licht ins Dunkel bringen inzwischen allenfalls personenbezogene oder länderspezifische Retrospektiven in Kinematheken und, nach wie vor, auf Festivals. (Dass das DVD-/Blu-ray-Angebot an asiatischen Klassikern im Großen und Ganzen ein trauriges Kapitel ist, ist ein anderes Thema.)

[13|14]Der Erfolg John Woos in diesen sechs Jahren zwischen A BETTER TOMORROW und HARD BOILED zeigte, wie es möglich war, trotz eben nicht täglicher medialer Verfügbarkeit für beträchtliche Aufmerksamkeit zu sorgen. Der Startschuss seiner »Reise in den Westen«, um einen der populärsten chinesischen Romanklassiker zu paraphrasieren, erscheint im Nachhinein ein wenig kurios, was aber der Erfolgsgeschichte keinen Abbruch tut. Im Februar 1987 lief A BETTER TOMORROW im Internationalen Forum des Jungen Films bei den Berliner Filmfestspielen. Zweifellos war das der leidenschaftlichen Hongkong-Filmliebe der langjährigen Forum-Leiter Ulrich und Erika Gregor zu verdanken. Und während man natürlich froh war, diesen bahnbrechenden Unterhaltungsfilm im deutschsprachigen Raum zu Gesicht zu bekommen, blieb doch die Merkwürdigkeit, dass dies ausgerechnet im Berlinale-Forum geschah, das sich ansonsten wesentlich strenger und puritanischer gab (und bis heute gibt), was sein Filmprogramm betrifft.

Immerhin handelt es sich bei A BETTER TOMORROW (der Originaltitel bedeutet wörtlich »Das Zeug zum Helden« beziehungsweise »Das Wesen eines Helden«) nicht um das filmische Kunstwerk eines etablierten Meisters oder um das radikale Experiment einer oder eines jungen Wilden, sondern um den bis zu diesem Zeitpunkt größten Kino-Kassenschlager der Geschichte Hongkongs, um ein lustvoll-blutiges Heldenepos, überaus clever und überzeugend zusammengemixt aus der klassischen chinesischen Kampfkunst- und Abenteuerliteratur sowie aus Versatzstücken von Kurosawa Akiras ikonischen Samurai-Filmen und aus vielen von Woo heiß geliebten Filmen westlicher Regisseure – von Jean-Pierre Melville über Martin Scorsese bis hin zu Sam Peckinpah. Im selben Berlinale-Forum 1987 wurden übrigens auch Tsui Harks prächtige Actionkomödien SHÀNGHǍI ZHÍYÈ (SHANGHAI BLUES, 1985) und DĀO MǍ DÀN (PEKING OPERA BLUES, 1986) gezeigt; auch diesen später äußerst umtriebigen Hongkonger Regisseur und Produzenten konnte man dort erstmals entdecken. Ein Jahr später folgte, ebenfalls im Forum, Ann Huis SHŪ JIÀN ĒN CHÓU LÙ (THE ROMANCE OF BOOK AND SWORD, 1987), eine groß angelegte Verfilmung des berühmten chinesischen Martial-Arts-Romans von Louis Cha.

Das Verdienst der Berlinale kann gar nicht hoch genug geschätzt werden, und die alljährlichen Vorführungen von (nicht nur) Hongkong-Actionfilmen im Delphi-Kino um Mitternacht hatten seinerzeit zu Recht Kultcharakter. Kein Zweifel, man war, und das nicht nur in Berlin, auf die neuen Filme aus Asien aufmerksam geworden. So zeigte das Festival »Cineasia« im Stadtkino Wien im November 1987 unter anderem Tsui [14|15]Harks PEKING OPERA BLUES, Tony Aus MÈNG ZHŌNG RÉN (DREAM LOVERS, 1986) und Stanley Kwans DÌ XIÀ QÍNG (LOVE UNTO WASTE, 1986), aber auch neue Filme aus Taiwan, der Volksrepublik China und aus Japan. Das rührige Festival im französischen Amiens würdigte schon 1988 den Hongkong-Actionstar Sammo Hung, im schwedischen Umeå liefen 1989 mehrere Filme aus Hongkong, darunter die beiden genannten von Tsui Hark.1 Schließlich zeigte die kleine, vom Autor dieser Zeilen veranstaltete Reihe »Hong Kong in Motion« in Wien 1990 und 1991 bereits Wong Kar Wais WÀNGJIǍO KǍMÉN (AS TEARS GO BY, 1988) und John Woos DIÉXUÈ JIĒTÓU (BULLET IN THE HEAD, 1990).

Ein weiteres signifikantes Ereignis war, dass Zhang Yimou, damals praktisch noch unbekannt, mit seinem Regiedebüt HÓNG GĀOLIÁNG (DAS ROTE KORNFELD) den Goldenen Bären als bester Film der Berlinale 1988 gewann. Es war dies der erste einer Vielzahl von Festivalerfolgen des fernöstlichen Kinos, das mit »neuen« Filmschaffenden wie Chen Kaige, Hou Hsiao-hsien, Edward Yang oder später Tsai Ming-liang, Ann Hui, Wong Kar Wai, Kore-eda Hirokazu, Apichatpong Weerasethakul, Bong Joon-ho oder Park Chan-wook reüssierte: »Where Asian films were once barely visible at international festivals – apart from those by the Japanese masters Kurosawa Akira, Ozu Yasujiro and Mizoguchi Kenji)2 in the 1950s and 60s –, it is now practically mandatory for festivals to devote entire sections to surveys of recent Asian film.«3

Von einer publizistischen Aufbereitung des »neuen« asiatischen Kinos war in den 1980er Jahren im deutschsprachigen Raum allerdings noch kaum die Rede. Die Filme, ihre Regisseure und die ganz wenigen Regisseurinnen, die es gab (Ann Hui und Clara Law etwa aus Hongkong oder Li Shaohong aus der Volksrepublik China), waren einfach noch nicht bekannt genug. Die Nase vorne hatten – Ehre, wem Ehre gebührt – die Cahiers du Cinéma, die tatsächlich schon im September 1984 eine Sonderausgabe mit dem Titel »Made in Hong-Kong« herausgebracht hatten. Federführend waren dabei der glühende Hongkong-Fan (und spätere Regisseur) Olivier Assayas sowie Charles Tesson. Thematisch überwogen zwar noch Beiträge, die das alte Studiosystem (Shaw Brothers bzw. Golden Harvest) und dessen Regie-Meister (King Hu, Chang Cheh, Liu Chia-liang usw.) feierten, aber auch ein paar Vertreterinnen und Vertreter der gerade entstandenen »Neuen Welle« (Ann Hui, Tsui Hark, Allen Fong) fanden Erwähnung.

[15|16]

Eine kongeniale Partnerschaft: John Woo und sein bevorzugter Hauptdarsteller Chow Yun-fat, der durch A BETTER TOMORROW (HK 1986) zum Action-Superstar wurde

Wer in dem Sonderheft noch völlig fehlt, ist John Woo, aber das ist nicht weiter überraschend, denn der Filmemacher war zu dieser Zeit noch einer von vielen Auftragsregisseuren bei der großen Produktionsfirma Golden Harvest, nachdem er zuvor als Script Supervisor beim Cathay-Studio und als Regieassistent bei Shaw Brothers tätig gewesen war. 1974 erfolgte sein Regiedebüt mit TIĚ HÀN RÓU QÍNG (THE YOUNG DRAGONS). John Woo arbeitete in allen Genres, vor allem an Komödien (damals wie heute das populärste Filmgenre in Hongkong), und hatte mit einigen dieser Filme durchaus kommerziellen Erfolg, aber sie waren alle den Formeln des traditionellen kantonesischen Unterhaltungskinos verpflichtet. Deshalb wäre damals wohl niemand auf die Idee gekommen, seinem Schaffen besondere Aufmerksamkeit zu widmen. Wenn, ja, wenn nicht John Woo Mitte der 1980er Jahre eine Möglichkeit zum Ausbruch aus der Studio-Routine gesucht und gefunden hätte: »›Er hat 20 Jahre lang hart gearbeitet‹, erklärt Woos Gemahlin Annie Ngau Chun-lung. Der Erfolg ihres Gatten sei zu ›drei Teilen auf Genie, zu sieben Teilen auf mühevolle Anstrengung‹ zurückzuführen.«4 Dass Woo auch eine Karriere vor A BETTER TOMORROW hatte, wusste damals kaum jemand: »Most of his fanclub have never seen his pre-gangster genre work«5, schrieb Maitland McDonagh.

Heute ist unbestritten, dass A BETTER TOMORROW ein Geniestreich war, der nicht nur in Hongkong den Nerv des Publikums traf. Das war so aber nicht vorauszusehen: »Beim Erfolg spielten auch...

Erscheint lt. Verlag 24.4.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Kunst / Musik / Theater Film / TV
ISBN-10 3-96707-906-6 / 3967079066
ISBN-13 978-3-96707-906-7 / 9783967079067
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