Fassbinder (eBook)

Tausende von Spiegeln | Über eine Ikone des Neuen Deutschen Films - geschrieben von einer Legende des Pop-Journalismus

(Autor)

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2024 | 1. Auflage
243 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-77944-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Fassbinder -  Ian Penman
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Schon als Rainer Werner Fassbinder 1982 starb, wollte Ian Penman dem exzessiv produktiven Macher von Filmen wie Angst essen Seele auf oder Die Ehe der Maria Braun ein Buch widmen. Vierzig Jahre später greift er den Plan wieder auf. Sein Pitch: »Diese Story hat alles! Sex, Drogen, Kunst, Großstadt, Moderne, Kino und Revolution. In ihm sind Viele. Er wurde sein eigenes Hollywood.«

Das Ergebnis: ein Wirbelsturm biografischer Fragmente und Aperçus, ein Kaleidoskop der »Fassbundesrepublik« mit ihrer unterdrückten Vergangenheit, ihrer Paranoia, ihren radikalen künstlerischen Experimenten. Kiefer, Syberberg, Tangerine Dream. Für Ian Penman hat RWF den Status, den Baudelaire für Walter Benjamin hatte: Protagonist und Medium einer Spätphase - einer Epoche, die bereits die nächste träumt.



Ian Penman, geboren 1959, ist ein englischer Kulturjournalist, ab 1977 arbeitete er f&uuml;r den <em>NME</em>. Dort reicherte er Plattenkritiken mit Theorie-Referenzen an und begr&uuml;ndete so eine neue Art von Musikjournalismus. Zu seinen Bewunderern z&auml;hlte der 2017 verstorbene Mark Fisher. Heute schreibt Penman unter anderem f&uuml;r die <em>London Review of Books</em>.

Als er starb, wirkte er weder jung noch alt; er hatte einen schamanistischen oder erleuchteten oder heiligenmäßigen Zustand der Mir-doch-egal-heit erreicht.

236.

Das Kapital missbilligt alle Exzesse außer jenen des Reichtums. Grundlage ist das magische Denken, das Kapital sei produktiv, während es in Wahrheit Ängste, Paranoia, Un-Gesundheit und Schulden hervorbringt. Vielleicht gehört einem die Welt, aber man stirbt einen frühen und kläglichen Tod.

237.

Er wird viel Geld verdienen, aber es wird ausschließlich auf Frivolitäten verschwendet. Es wird nicht wieder angelegt. Was er einnimmt, scheint er gleich wieder ausgeben zu müssen, wie in einer irren, privaten Form von Potlatch.

238.

Eine eher massive Geistererscheinung auf dem großen Bankett der achtziger Jahre. Das Geld vergeudet, verlo123ren, verlegt, verbrannt. Der verfemte Teil, frei nach Bataille. Das Nicht-Nützliche. Dabei gleichzeitig seine unerbittliche Konzentration und Arbeitsethik.

239.

Aufwachen und los, weiter geht's: Zigaretten Alk Text Wut Verknalltheit Tanz Drogen; aber auch Pläne, Schwerarbeit und Triumphe ohne Zahl. Downer zum Einschlafen, Upper zum Arbeiten: eine Parodie auf die kapitalistische Programmierung. In seinem Drogenkonsum ist keine Spur vom alten Traum von der kollektiven Befreiung mehr, nicht einmal vom künstlichen Paradies. Roboterschrauben für das Karussell des Kapitalismus. Mit Drogen aller Arten weckt er sich auf und schläfert sich ein. Verhätschelt und bestraft er sich. Schlaf ist jetzt entweder nervöser Halbschlaf oder halbes Koma. Anstelle von Träumen eine Reihe einander auf klebrige Weise ähnlicher Albträume in schaurig vertrauten Kerkern oder Gefängnissen in Schwarz-Weiß, von Piranesi, Genet oder Warner Brothers, egal.

240.

»Echte menschliche Körper sind das Gegenteil von Kapitalismus, obwohl sie sein Material sind: Sie sind nicht flüssig, sie nutzen sich ab und verfallen.« – Joanna Walsh

241.

Gewisse Körper, die vom Zittern der bevorstehenden Apokalypse geschüttelt werden. Gewisse Körper, die 124wie Erdbebensensoren oder Observatorien operieren. Gewisse Körper, die von den Narben und Wunden ihrer Zeit gezeichnet sind. Die Kanarienvögel in den Schächten der Moderne.

242.

Fassbinders Untertitel für Despair (Eine Reise ins Licht) hat mich lange ratlos gemacht, genau wie die Widmung für Artaud, van Gogh und Unica Zürn.

Wobei natürlich klar ist, dass alle drei ein Abrutschen in irgendeine Form von »Wahnsinn« eint. Aber ich fand nicht, dass der Film sich in seinem mürben Kitsch das Recht erworben hätte, auf diese Namen zu verweisen. Despair stellt nicht mehr als innenarchitektonische Neurasthenie zur Schau, Schwermut als Fabergé-Ei, ohne einen Hauch echten Wahns. Eine geleckte Glasmenagerie. Artaud, van Gogh und Zürn gegenüber könnte man das fast als Beleidigung auffassen. (Sie sind ja nicht weniger als das A bis Z des Wahnsinns in der Kunstmoderne.) Diese Menschen hatten echte Verzweiflung erlebt. Artaud hat Heroinentzug und extreme psychiatrische Behandlungen durchlitten, einschließlich Elektroschocktherapie. Seine Anfänge lagen in der Zeit des Stummfilms und des frühen Surrealismus, und als er 1948 starb, es war vermutlich Selbstmord, hatte die Welt Auschwitz und Hiroshima gesehen.

Letztlich sind Fassbinders Hingabe und deren konsequente Ausführung interessanter, provokanter und verstörender als der Film selbst: »Der Film ist Artaud, 125van Gogh und Zürn gewidmet, drei Menschen, die in ihrem Wahnsinn glücklich waren – bis sie sich umbrachten. Ich weiß es nicht, aber ich glaube, dass sie in ihrem Wahnsinn eine ganz private Utopie lebten. Mein Hermann Hermann ist frei. Er entscheidet frei. Haben Artaud und van Gogh frei entschieden? Ich kann es nicht sagen, und ich weiß nicht, wie man es herausfinden sollte. Ich kann nur raten. Es ist eine Hypothese.«

So wie RWF es beschreibt, suchen die Menschen sich den Wahnsinn aus oder täuschen den Wahnsinn vor. Er nennt ihn eine Utopie. Wahnsinn als freie Entscheidung? Mag sein. Aber diese Hypothese nimmt in Kauf, dass viel ungewollter, unerträglicher und unheilbarer Schmerz ausgeblendet wird, von den zugrundeliegenden politischen Bedingungen ganz zu schweigen (der Gesellschaft in Artauds Essay Van Gogh, Selbstmörder durch die Gesellschaft).

243.

Was mir erst kürzlich auffiel, obwohl ich es die ganze Zeit direkt vor der Nase hatte wie ein Double: dass alle drei Widmungsträger*innen von Despair gleichzeitig bildende Künstler*innen waren – Menschen, deren Arbeit vom Licht abhängt oder die mit ihm arbeiten. Mit einem Licht, von dem sie alle geblendet waren.

244.

Am bekanntesten dürfte Artaud für sein »Theater der Grausamkeit« sein (so verschwommen der Begriff auch bleiben mag), dabei ist an ihm noch so viel mehr. 126In der Anfangszeit des Kinos war er eine wichtige Erscheinung. Er spielte in Napoleon von Abel Gance (1927) so wie auch in Die Passion der Jungfrau von Orléans von Dreyer (1928) und brachte die Leinwand zum Leuchten. Für Die Muschel und der Kleriker von Germaine Dulac, der vielen als der erste surrealistische Film gilt, lieferte er das Drehbuch.[32]  Er war Schauspieler, Kritiker, Theoretiker, Drehbuchautor, alles zugleich. Das Theater und sein Double. Schluss mit den Meisterwerken. Schluss mit dem Gottesgericht. Der »Körper ohne Organe«. Ein Magier. Ein Grafiker. Ein Selbstporträtist. Ein Drogensüchtiger. Ein staunenswerter Zeichner. Ein Tonkünstler. Ein Nicht-Akademiker und Autodidakt. Und übersehen wir nicht dies eine – warum auch? –: sein atemberaubend schönes Gesicht. Ein Gesicht, das man ewig anschauen könnte. Später dem Verfall ergeben, und trotzdem nicht weniger anziehend. Der junge Artaud besaß eine einzigartige Schönheit, aber Krankheit und Drogen krempelten sie ihm lange vor dem Tod um. Nicht gerade »Trotz aller Hässlichkeit auf dem Cover von Time«, ein Wunsch, den Wolf Wondratschek Fassbinder in seinem Text für Dieter Schidors Film Der Bauer von Babylon zuschreibt, aber in diese Richtung. (Man denke sich Greta Garbo, verschmolzen mit dem alten Chet Baker.) Die Moderne als Ruinenästhetik. Wege, sich der »eigenen Identität« 127zu versichern, die sie einem am Ende zerreißen. Vor allem wenn man Drogen nimmt. Was für den Körper als Beruhigungszauber beginnt, endet im Schmerz und dessen Wiederholung.

245.

Diese immer wiederkehrende modernistische Idee oder Fantasie, dieses Projekt, alle aus dem ahistorischen Traum aufzuwecken, dem sie sich hingeben. Erwachet und erhebt euch, ihr Schlafenden!

All die vielen Autoren und Theoretiker der Moderne, die diese Denkfigur verwenden. Ob mystisch und millenaristisch oder pseudomarxistisch, immer wieder definieren die Leitfiguren der Moderne ihre Arbeit als etwas, das die Welt aus ihrem Schlummer aufwecken soll. Schockästhetik. Um uns alle aus Dornröschens schwärmerischer Ohnmacht oder dem Schlummer Rip Van Winkles aufzuschrecken. Eine Gesellschaft im selbst gewählten Koma. Nichts als Schlafwandelnde. Der Traum, die Menschen zu zwingen, ihre Träume aufzugeben. Die Massen aus dem falschen Bewusstsein zu erwecken wie eine Prinzessin in einem ideologischen Märchen. Ein seltsames Bestreben das, von Männern, die sich selbst eher triefäugig zeigen und deren Vorstellungen von Revolution von einer Art ekstatischer Theologie geprägt sind, frei von ödem Praxisbezug oder Pragmatismus.

Am Nachthimmel das ganze Sternbild aus Schlaf/Schlummer/Traum/Schwärmerei/Dämmern/Aufwachen/Erwachen/Erweckung/politischer Wachheit. Ein 128ewiges Märchen. Der lang erwartete Augenblick. Der endlos aufgeschobene Umsturz oder Wendepunkt.

246.

Die alte revolutionäre Vision vom die Welt vom Kopf auf die Füße Stellen: davon träumen sie alle, auf radikal verschiedene und wirklichkeitsferne Weise. Irgendwann ist es allgemein akzeptiert: Wir müssen sie aus ihrem Schlummer aufschrecken! Ein Traum, der es sich allerdings allzu oft in den geschützten Räumen von Splittergruppen, Hochschulen oder Kunstgalerien gemütlich macht. Im Leben vor deren Türen spürt man weniger Renitenz.

247.

Wie schreibt man eine Art Selbstporträt in sein Werk ein, ohne dass es danach aussieht? ...

Erscheint lt. Verlag 12.2.2024
Übersetzer Robin Detje
Sprache deutsch
Original-Titel Fassbinder Thousands of Mirrors
Themenwelt Kunst / Musik / Theater Malerei / Plastik
Schlagworte aktuelles Buch • Anti-Theater • Berlin Alexanderplatz • Bertolt Brecht • Biographie • Bisexualität • BRD • Bücher Neuererscheinung • bücher neuerscheinungen • Deutschland im Herbst • Die Ehe der Maria Braun • edition suhrkamp 2802 • ES 2802 • ES2802 • Experimentell • Fassbinder Thousands of Mirrors deutsch • Fassbundesrepublik • Ingrid Caven • Kalter Krieg • Krimi Neuerscheinungen 2024 • Neuer deutscher Film • Neuererscheinung • neuer Krimi • Neuerscheinungen • neues Buch • preis der leipziger buchmesse 2014 • Queer • Querelle • RAF • Rainer Werner Fassbinder • Ronald Hayman • Spiegel • Sybille Schmitz • Übersetzerpreis der Heinrich Maria Ledig-Rowohlt-Stiftung 2017 • Westdeutschland • Westdeutschland BRD bis 1990
ISBN-10 3-518-77944-3 / 3518779443
ISBN-13 978-3-518-77944-6 / 9783518779446
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