Jazz-Klassiker -

Jazz-Klassiker

Peter N Wilson (Herausgeber)

Buch | Softcover
816 Seiten
2005
Reclam, Philipp (Verlag)
978-3-15-030030-5 (ISBN)
9,95 inkl. MwSt
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Die zweibändige Kassette 'Jazz-Klassiker' stellt knapp hundert wegweisende Musiker und Musikerinnen aus hundert Jahren Jazzgeschichte vor, würdigt und wertet ihre musikalischen Leistungen. Ein Schwerpunkt der Darstellung liegt bei der lebendigen und offenen Entwicklung des Jazz in den USA und Europa in den letzten 20 Jahren. Mit zahlreichen, vielfach bislang unveröffentlichten Fotos, Hörempfehlungen und Lektüretipps.

Peter Niklas Wilson war einer der talentiertesten Jazz-Autoren deutscher Sprache, Musikwissenschaftler und Kontrabassist. Kurz vor seinem allzu frühen Tod konnte er bei Reclam noch die "Jazz-Klassiker" fertigstellen.

Charlie Haden Man könnte es den Lohn der Langsamkeit nennen. Denn die außerordentliche Wertschätzung, deren sich der Bassist Charlie Haden nicht nur beim Publikum, sondern auch bei seinen Musikerkollegen erfreut, hat zweifellos ganz entscheidend damit zu tun, dass Haden einen dezidierten Gegenkurs zur allgemeinen Entwicklung des Kontrabasses im modernen Jazz steuerte: Konzentration auf einen vollen, warmen Ton im tiefen Register statt sportlicher Höchstleistungen in der Cello-Lage, einfache, klare, sangliche Linien statt komplexer chromatischer Läufe, der altmodisch-wuchtige, ein wenig trockene Sound eines teils darmbesaiteten Instruments statt des lange nachklingenden, brillanten Tons modernen Stahlsaiten. Ob es damit zu tun hatte, dass Hadens musikalischer Werdegang von Anbeginn so anders verlief als der vieler seiner Kollegen? Charles Edward Haden wurde am 6. August 1937 nicht in einer der Jazzmetropolen der Vereinigten Staaten, sondern in der ländlichen Abgeschiedenheit von Shenandoah im Bundestaat Iowa geboren, und bis er 1956 nach Los Angeles ging, blieb er ein Junge vom Land. Bereits als Zweijähriger hatte er seinen ersten öffentlichen Auftritt als Musiker: Mit seinen Eltern und Geschwistern war er in einer Radioshow des Senders KMA in seiner Geburtsstadt zu hören. Die Haden Family mit ihrem mehrstimmigen Gesang - amerikanische Folksongs und Balladen wie "Barbara Allen" oder "Mansion On The Hill" standen auf dem Programm - trat regelmässig in Rundfunk und Fernsehen auf, bis Charlie fünfzehn war. Da hatte er gerade den Jazz und den Kontrabass entdeckt, den er autodidaktisch erlernte. Und es wurde ihm bald klar, dass er dem Land Lebewohl sagen musste, wenn er als Jazzmusiker reüssieren wollte. Charlie kratzte seine Ersparnisse zusammen, verließ die High School und schrieb sich am Westlake College in Los Angeles ein. Da freilich war seines Bleibens nicht lange: Schon bald war Haden ein vielgefragter Bassist in den Clubs der "Angel City" und arbeitete mit renommierten Größen des West Coast Jazz wie dem Saxofonisten Art Pepper und dem Pianisten Hampton Hawes zusammen. Im Hillcrest Club, wo er mit Paul Bley auftrat, lernte er Ornette Coleman kennen, damals das Enfant terrible der lokalen Szene. "Ich traf Ornette, ging zu ihm nach Hause, hörte die Musik, die er spielte und komponierte, und ehe ich mich's versah, spielten und probten wir während der Woche mit Don Cherry und Billy Higgins." Damit war das legendäre original quartet geboren, das bald landesweit Furore machen sollte. Hadens Aufgabe war formidabel und ohne Vorbild, galt es doch, den frei und unvorhersehbar modulierenden Linien der Bläsersolisten einen schlüssigen Bass-Kontrapunkt entgegenzusetzen, und das ohne die Gewissheit eines etablierten Chorus-Schemas und vorab definierter Harmoniewechsel. Doch der Ohr-Musiker Haden, der schon als Kleinkind mehrstimmiges Singen nach dem Gehör gelernt hatte, meisterte diese Herausforderung bravourös und wurde damit zum ersten stilprägenden Bassisten des freien Jazz. Im September 1959 hatte das Quartett sein Debüt im New Yorker Five Spot. "Ich glaube, alle Jazzmusiker in der Stadt waren da, und die meisten kamen wieder. Ich glaube, fast jeder, der ernsthaft in New York mit Musik zu tun hatte - sogar klassische Komponisten, Leonard Bernstin war dort - kam, um uns spielen zu hören." Doch der "Big Apple" hatte auch seine Gefahren. Haden wurde drogenabhängig, musste 1961 Colemans Gruppe verlassen und fand erst 1966, nach einer langwierigen Entziehungskur, dauerhaft in die Jazzszene zurück, erneuerte die Zusammenarbeit mit Coleman, war nun aber auch in Gruppen von Keith Jarrett, Tony Scott und Archie Shepp zu hören. Erst 1969 wagte er sich als Leiter einer eigenen Formation hervor, doch dann im großen Stil: Mit dem Liberation Music Orchestra wollte Haden einen Beitrag zu einer 'anderen' amerikanischen Musiktradition leisten, zu einer aufklärerischen, emanzipatorischen Musik, die Melodien aus den Traditionen internationaler Befreiungsbewegungen verarbeitete - so etwa Lieder aus dem spanischen Bürgerkrieg und Kompositionen Hanns Eislers - und die Innen- und Außenpolitik der Vereinigten Staaten aufs Korn nahm, die in jenen Jahren von Rassenunruhen, der Auseinandersetzung um den Vietnamkrieg und den Watergate-Skandal geprägt wurde. "Die Musik ist dem Ende aller Kriege, von Rassismus, Armut und Ausbeutung gewidmet", gab der Bandleader programmatisch zu Protokoll. Haden, so wurde deutlich, verstand Kreativität nicht allein als künstlerischen, sondern auch als ethischen Imperativ, als Gabe, die zu sozialem Engagement verpflichtet, ein Engagement, das 1970 mit einem Kompositionsstipendium der Guggenheim Foundation gewürdigt wurde. Ungeachtet seiner orchestralen Projekte gelangen Haden freilich oft gerade intim besetzte Einspielungen am zwingendsten. Die Duo-LPs The Golden Number (mit den Partnern Don Cherry, Archie Shepp, Keith Jarrett und Hampton Hawes) und Soapsuds, Soapsuds (mit Ornette Coleman) zeigen Hadens empathische Begleitkunst so schön wie keine anderen, lassen seinen schlichten, doch eminent bassistischen Stil mit seinen diatonischen Melodiesequenzen, seinen wuchtigen Bordun-Tönen, seinen Doppel- und Tripelgriffen und Tremoli zu schönstem Recht kommen. Und da sich Coleman in jenen Jahren seinem neuen elektrifizierten Projekt Prime Time- widmete, gründete Haden mit den Ex-Coleman-Gefährten Dewey Redman, Don Cherry und Ed Blackwell das Quartett Old and New Dreams, das die Ideale des original quartet hochhielt. 1982 kehrte Haden an die Westküste zurück und initiierte am California Institute of the Arts einen Jazzstudiengang. War es die Rückkehr zu den Orten seines Karrierebeginns, die nun so etwas wie eine nostalgische Wende in seiner Musik einläutete? Mit dem 1986 gegründeten Quartet West (mit dem Saxofonisten Ernie Watts, dem Pianisten Alan Broadbent und dem Schlagzeuger Billy Higgins, der bald durch Larance Marable ersetzt wurde) besann sich Haden auf die Melodien des Film noir, die er in seiner Jugend in den späten Vierzigern gehört hatte, auf betont ruhig und schnörkellos gespielte Jazzstandards und schließlich gar auf solche politisch vorbelastete amerikanische Klassiker wie "America The Beautiful", üppige Streicherbegleitung inklusive. Konnte es da verwundern, dass ein scharfzüngiger amerikanischer Kommentator seine Rezension einer neueren Haden-Platte mit folgender Zeile überschrieb: "Charlie Haden's dance of freedom these days sounds like a whisper, not a shout"? Wohl wahr. Aber auch wenn man heute Haden kaum mehr im Kontext offenener Jazzformen begegnen wird, betont er im Gespräch doch immer wieder, dass auch die Besinnung auf pure Schönheit in diesen Tagen ein Politikum sei. Und Charles Edward Haden, der schon als Zweijähriger im Rundfunk Folksongs sang, hat vielleicht mehr Anlass als andere, sich, wie es in den letzten Jahren so modisch wurde, auf musikalische Americana zu besinnen. Ob dies nur intellektuell verbrämte Nostalgie ist, mag jeder selbst entscheiden. Fest steht, dass solche Wandlungen dem Renommee Hadens in der Szene keinerlei Abbruch getan haben, wie die Vielzahl seiner neueren Aufnahmen mit so verschiedenen Partnern wie Joe Henderson, Michael Brecker, Pat Metheny, John Scofield, David Sanborn, Lee Konitz, Hank Jones, Kenny Barron, Gonzala Rubalcaba, Bruce Hornsby oder Rickie Lee Jones belegt. Den charakteristischen Ton von Hadens altehrwürdigem Vuillaume-Kontrabass, die zwingende Simplizität seiner Begleitlinien möchte offenbar fast jeder einmal zum Bestandteil seines Gruppenklangs machen. Zumindest im Studio, denn viele Jahre wurden die Live-Aktivitäten des Bassisten Haden durch die Folgen eines schweren Hörsturzes behindert, der ihn nötigte, sich auf der Bühne manchmal hinter Plexiglaswänden zu verschanzen - eine akustische Trennung von den Mitspielern, die so ungefähr das Schlimmste ist, was einem kommunikativen listening player wie Charlie Haden passieren kann. Peter Niklas Wilson Liberation Music Orchestra (Impulse) - Closeness (A & M Horizon) - Soapsuds, Soapsuds (Artists House) - Old And New Dreams (ECM) - (Quartet West) In Angel City (Verve) - The Montreal Tapes (Verve) - (Mit Hank Jones) Steal Away (Verve) -(Mit Lee Konitz und Brad Mehldau) Alone Together (Blue Note) © 2005 Philipp Reclam jun. Verlag Gmbh & Co., Stuttgart

Sprache deutsch
Gewicht 550 g
Einbandart Paperback im Schuber
Themenwelt Kunst / Musik / Theater Musik Jazz / Blues
Schlagworte Jazz; Lexikon/Nachschlagewerk • Musiker Rock/Pop/Jazz (Biografien/Erinnerungen) • Musiker Rock/Pop/Jazz; Lexikon/Nachschlagewerk
ISBN-10 3-15-030030-4 / 3150300304
ISBN-13 978-3-15-030030-5 / 9783150300305
Zustand Neuware
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