"Die geheime Selbigkeit des Schaffens und des Aufnehmens" -  Klaus Ritzkowski

"Die geheime Selbigkeit des Schaffens und des Aufnehmens" (eBook)

Eine hermeneutische Betrachtung der Goldberg-Variationen von J.S. Bach anhand von sechs Einspielungen
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2023 | 1. Auflage
258 Seiten
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978-3-7578-3832-4 (ISBN)
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Die Goldberg-Variationen von J.S. Bach gehören zu den berühmtesten Werken der Klavier- und Cembaloliteratur. Anhand von sechs Einspielungen, unter anderem der bekannten Aufnahme von Glenn Gould aus dem Jahr 1955, wird das Werk in diesem Buch beleuchtet. Hierbei steht die praktische Interpretation des Werkes im Mittelpunkt und es wird eine relativ neue Herangehensweise an die Musik praktiziert: Die Betrachtung eines Musikwerkes anhand von dessen verschiedenen Interpretationen in Form von Tonaufnahmen. Der hermeneutische Ansatz von Hans-Georg Gadamer wird in diesem Buch praktisch umgesetzt sowie unterschiedliche Gedanken weiterer Musikdenker, -wissenschaftler und -kritiker wie u.a. Theodor W. Adorno zu Bachs Werk sowie zur musikalischen Interpretation werden vorgestellt. Nicht zuletzt auch die historische Aufführungspraxis wird thematisiert, da drei Cembaloaufnahmen (von Wanda Landowska, Gustav Leonhardt und Karl Richter) mit drei Klavieraufnahmen (von Glenn Gould, Grete Sultan und Wilhelm Kempff) miteinander verglichen werden.

Klaus Ritzkowski wurde 1976 in Bremen geboren und studierte Musikwissenschaft, Philosophie und Mittlere und Neuere Geschichte in Leipzig, Nancy und München. Im Jahr 2007 wurde er an der Hochschule für Musik und Theater München mit einer Arbeit zur Interpretationsanalyse der Klaviervariationen op. 27 von Anton Webern promoviert. Er lebt in Bremen.

Erster Teil: Vorbereitung

I. INTERPRETATIONSBETRACHTUNG

1. Grundsätzliche Überlegungen

Die Beschäftigung mit musikalischer Interpretation im Sinne der Aufführung musikalischer Werke – und nicht im Sinne hermeneutischer Ausdeutung – führt in der Musikwissenschaft ein Schattendasein. Zwar gibt es einen Forschungszweig, der sich mit historischer Aufführungspraxis beschäftigt und darüber Auskunft geben will, wie man eine bestimmte Musik historisch authentisch aufzuführen hat. Doch haben diese Forschungen eher den Charakter einer Vortragslehre, die sich auf zeitgenössische Traktate und deren Anwendung auf den Notentext bezieht. Den umgekehrten Weg, von einer bestehenden Interpretation hin zum Werk, gehen dagegen nur wenige Arbeiten. Dabei haben wir es doch bei der Interpretation eines Werkes erst mit der klingenden Musik zu tun; mit dem also, was landläufig unter Musik verstanden wird. Dass die Musikwissenschaft sich dagegen in der Regel mit dem reinen Notentext beschäftigt, gehört zu den Merkwürdigkeiten, die dieser Geisteswissenschaft zu eigen sind.

Offensichtlich liegt es in dem, schon früh in der Musikästhetik ausgemachten, transitorischen Charakter dieser Kunst, dass sie sich in ihrer eigentlichen klingenden Form einer genaueren Untersuchung entzieht. Dies läuft dem Anspruch auf Wissenschaftlichkeit, der möglichst objektive Gegebenheiten und Kriterien verlangt, zuwider. Mit dem Aufkommen von Aufnahmetechnik und Tonträgern im frühen 20. Jahrhundert wurde diese Problematik allerdings schon relativiert. Eine Aufnahme lässt sich beliebig oft wiedergeben, so dass in der Wiederholung der an sich flüchtigen Musik relativ genaue Urteile möglich wurden. Dennoch haben sich die meisten Arbeiten mit musikwissenschaftlichem Anspruch, die sich mit Interpretationen beschäftigen, durch eine möglichst große Exaktheit abzusichern versucht. Dies bedeutet konkret oft den Einsatz von Messgeräten, die naturwissenschaftlich exakt in der Regel das Tempo und die Dynamik der zu untersuchenden Aufnahme erfassen. Autoren, die sich lediglich auf ihren eigenen Höreindruck stützen, treten dagegen zumeist ohne wissenschaftlichen Anspruch auf. Sie veröffentlichen ihre Texte dementsprechend in Phonozeitschriften oder aber ihre Beiträge werden im öffentlich-rechtlichen Rundfunk gesendet.

In der Beschreibung der vorhandenen Arbeiten zur musikalischen Interpretation unterscheidet Hermann Danuser zwischen der wissenschaftlich-exakten Interpretationsanalyse einerseits und dem journalistischbeliebigen Interpretationsvergleich andererseits.1 Danuser hält die Ausarbeitung einer umfassenden Theorie der Interpretation für notwendig, die unter anderem die unterschiedlichen Traditionsstränge der musikalischen Interpretation seit dem Anfang des 19. Jahrhunderts beschreiben soll. Eine wissenschaftliche Beschäftigung mit musikalischer Interpretation bedarf nach Danuser darüber hinaus auch der Musikpsychologie.2 Aufgrund des Fehlens einer grundlegenden Theorie und Methode zur Untersuchung musikalischer Interpretation befindet sich dieses Teilgebiet der Musikwissenschaft allerdings noch in den Anfängen. Danuser hängt die Maßstäbe für eine Erforschung der Interpretation auch daher nicht sehr hoch, wenn er schreibt: «Eine aktuelle Methodik des Interpretationsvergleichs zielt auf verbindliche, intersubjektiv nachvollziehbare und in ihrer geschichtlichen Reichweite beschränkte Urteile, welche die einzelnen Leistungen in ihrem interpretationsgeschichtlichen Kontext betrachten».3 Es ist also nicht unbedingt Objektivität gefordert, sondern nur Intersubjektivität. Die Interpretationsgeschichte spielt eine herausgehobene Rolle, zu der in der Untersuchung Verbindungen von einer einzelnen Interpretation her aufgebaut werden sollen. Aber ist das dann noch Wissenschaft im Sinne einer exakten Analyse oder nur ein unwissenschaftlicher Interpretationsvergleich?

Wir wollen in dieser Arbeit versuchen, innerhalb des von Hermann Danuser aufgemachten klaren Gegensatzes zwischen wissenschaftlich-exakter Interpretationsanalyse und unwissenschaftlich-beliebigem Interpretationsvergleich zu vermitteln. Beide Ansätze sollen hier versuchsweise kombiniert werden. Denn diese Arbeit will beides sein: Interpretationsanalyse und -vergleich. Es wird versucht werden, möglichst verbindliche, intersubjektiv nachvollziehbare Urteile zu den Interpretationen zu erhalten, die sowohl einer Analyse der Interpretationen dient, als auch dem Vergleich der Interpretationen untereinander. Die Wahl des Begriffes der Interpretationsbetrachtung soll die Stellung dieses Verfahrens zwischen diesen beiden Extremen verdeutlichen: Interpretationen werden betrachtet, das heißt sie werden möglichst genau nach bestimmten Kriterien untersucht, analysiert und untereinander verglichen. Was dabei eigentlich zum Vorschein kommt, ist jedoch nicht die bloße Interpretation mit ihrem interpretationsgeschichtlichen Kontext, sondern das Werk selbst, durch den Interpreten vermittelt.

2. Ästhetische Nichtunterscheidung

Die Grundannahme dieser Arbeit ist, wie bereits ihr Titel andeutet, die wesensmäßige Übereinstimmung von musikalischem Kunstwerk und seiner Darstellung. Das bedeutet, dass beides untrennbar zusammengehört und uns folglich das Betrachten einer musikalischen Interpretation gleichzeitig einen Blick auf das Werk selbst gewährt. Das heißt aber streng genommen auch: Jede Herangehensweise, die versucht, ein Werk von seiner Darstellung abgelöst zu betrachten, geht letztlich fehl. Denn der Zugang über die Darstellung ist eine notwendige Bedingung für ein adäquates Verstehen von Musik: Nur wenn Musik erklingt, ist sie auch wirklich da. Die Beschäftigung mit dem reinen Notentext verfehlt demnach das Wesen der Musik.

Diese Überzeugung entstammt der philosophischen Hermeneutik Hans-Georg Gadamers, namentlich seinem Hauptwerk Wahrheit und Methode. Dieses Buch beginnt mit einer Kritik am ästhetischen Bewußtsein, die zu eben jener Überzeugung von der ästhetischen Nichtunterscheidbarkeit von Kunstwerk und dessen Darstellung führt. Denn die Unterscheidung dieser beiden Pole, wie sie die Ästhetik gemeinhin vornimmt, verhindert den eigentlichen Zugang zum Kunstwerk. So schreibt Gadamer:

«Die Aufführung eines Schauspiels ist auch nicht einfach von ihm ablösbar als etwas, das zu seinem eigentlichen Sein nicht gehört, sondern so subjektiv und fließend ist wie die ästhetischen Erlebnisse, in denen es erfahren wird. Vielmehr begegnet in der Aufführung und nur in ihr – das wird am klarsten an der Musik – das Werk selbst, so wie im Kult das Göttliche begegnet.»

Das führt zu der Schlussfolgerung: «Schauspiel ist erst eigentlich, wo es gespielt wird, und vollends Musik muß ertönen.»4 Diese Sätze lassen sich auch als eine Kritik an den Kunstwissenschaften lesen, die versuchen ihrem Gegenstand mit verobjektivierenden Methoden habhaft zu werden. In einem seiner letzten zur Kunst erschienenen Aufsätze drückt Gadamer diese Kritik folgendermaßen aus: «Das, was man an einem Kunstwerk, das im Vollzug sein Sein hat, durch Objektivierung und wissenschaftliche Methodik erfassen kann, bleibt notwendig sekundär und insofern geradezu unwahr. Die Wahrheit, die wir in der Aussage der Kunst suchen, ist die im Vollzug erreichbare.»5 Hier ist nun vom Vollzug und nicht mehr von der Darstellung die Rede. Gemeint ist aber dasselbe: die Vermittlung des Kunstwerks; im Falle der Musik ihre Interpretation. Worauf es Gadamer jedoch in der Kunst ankommt ist die Vermittlung von Wahrheit. Und so stellt er Fragen wie:

«Soll in der Kunst keine Erkenntnis liegen? Liegt nicht in der Erfahrung der Kunst ein Anspruch auf Wahrheit, der von dem der Wissenschaft gewiß verschieden, aber ebenso gewiß ihm nicht unterlegen ist? Und ist nicht die Aufgabe der Ästhetik darin gelegen, eben das zu begründen, daß die Erfahrung der Kunst eine Erkenntnisweise eigener Art ist, gewiß verschieden von derjenigen Sinneserkenntnis, welche der Wissenschaft die letzten Daten vermittelt, aus der sie die Erkenntnis der Natur aufbaut, gewiß auch verschieden von aller sittlichen Vernunfterkenntnis und überhaupt von aller begrifflichen Erkenntnis, aber doch Erkenntnis, das heißt Vermittlung von Wahrheit?»6

Wie sieht nun aber diese Vermittlung von Wahrheit aus? Um die Seinsweise des Kunstwerks zu beschreiben bedient sich Gadamer dem Begriff des Spiels. Er beschreibt das Spiel als ein Geschehen in das der Spieler hineingezogen wird; das Spielen ist eigentlich mehr ein Gespieltwerden, bei dem weder ein Subjekt noch ein Objekt auszumachen ist. Der Sinn des Spielens ist dabei ein reines Sichselbstdarstellen. Der Spieler gibt gleichsam etwas von sich hinein, damit wieder etwas herauskommt.7 Auf die antike Schönheitslehre gestützt, sieht Gadamer das Kunstwerk nicht als ein Produkt, das sich einfach nachvollziehen und reproduzieren lässt; vielmehr treten Kunstwerk und Interpret in ein enges Wechselverhältnis ein, bei dem gleichsam unsichtbare Fäden zwischen beiden verlaufen, so dass sie eine...

Erscheint lt. Verlag 8.5.2023
Sprache deutsch
Themenwelt Kunst / Musik / Theater Musik
ISBN-10 3-7578-3832-7 / 3757838327
ISBN-13 978-3-7578-3832-4 / 9783757838324
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