Chinesisches Denken der Gegenwart (eBook)

Schlüsseltexte zu Politik und Gesellschaft

, (Autoren)

eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
640 Seiten
C.H.Beck (Verlag)
978-3-406-80044-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Chinesisches Denken der Gegenwart - Daniel Leese, Ming Shi
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DAS CHINESISCHE DENKEN DER GEGENWART - DIE WICHTIGSTEN TEXTE

Mit dem hier vorgelegten Band wird Neuland betreten. Die China-Experten Daniel Leese und Ming Shi haben prägnante Analysen aus der Feder führender chinesischer Intellektueller der Gegenwart herausgesucht, erstmals ins Deutsche übersetzt und für eine hiesige Leserschaft ausführlich kommentiert.

Das Spektrum reicht von regimekritischen bis zu staats- und parteinahen Beiträgen, der Zeitraum ihrer Publikation erstreckt sich von der Weltfinanzkrise bis zur unmittelbaren Gegenwart. Maßgebliches Auswahlkriterium war, dass der jeweilige Text einen substanziellen Beitrag zum Verständnis zentraler Probleme der chinesischen Politik und Gesellschaft in allgemein zugänglicher Form liefert. Neben wissenschaftlichen Artikeln finden sich daher auch Reden, Blogbeiträge und verschriftlichte Diskussionsrunden. Die Auswahl versammelt Beiträge von Historikern und Politikwissenschaftlern, Soziologinnen und Journalistinnen sowie von bekannten Rechts- und Wirtschaftswissenschaftlern. Um in Zukunft sinnvoll über und auf Augenhöhe mit der Volksrepublik China debattieren zu können, muss auch eine allgemeine deutsche Öffentlichkeit sich darüber im Klaren sein, worüber in China selbst diskutiert wird, was die Kernargumente zentraler Diskurse sind und wie diese vor einem breiteren Panorama der chinesischen Geschichte und Politik eingeordnet werden können.

  • Der erste Zugang zu Texten führender chinesischer Intellektueller der Gegenwart
  • Von Regimekritikern bis zu parteinahen Staatsdenkern - die ganze Bandbreite des chinesischen Denkens der Gegenwart
  • Von zwei ausgewiesenen Experten übersetzt und kommentiert
  • Daniel Leese war für den Deutschen Sachbuchpreis 2021 nominiert



Daniel Leese ist Professor für Sinologie an der Universität Freiburg.<div> <br>Shi Ming arbeitete als Sprecher, Übersetzer und Journalist beim Radio Beijing (Pendant von Deutsche Welle/Voice of America) und wechselte später in die chinesische Wirtschaft. 1989 blieb er als Nachwirkung des Massakers im Stadtzentrum von Peking in Deutschland und arbeitet seitdem als freier Journalist und Publizist für deutschsprachige Medien. <br></div>

POLITIK UND GESELLSCHAFT CHINAS IM SPIEGEL AKTUELLER KONTROVERSEN


Daniel Leese

Im Jahr 1674 verkündete der Theologe und Sprachforscher Andreas Müller aus Greifenhagen in Pommern eine Entdeckung, die Wissenschaft und Politik gleichermaßen elektrisierte. Er ließ verlautbaren, dass er einen «chinesischen Schlüssel» (clavis Sinica) entdeckt habe, «vermittelst welchem die Sinesische, bey anderen verzweifelte Schrift ohne Mühe zu lesen, und in wasserley Sprache zu translatiren»[1] sei. Dies war ein ungeheures Versprechen. Nachdem das chinesische Kaiserreich im Verlauf des 17. Jahrhunderts insbesondere durch die Schriften jesuitischer Missionare an europäischen Fürstenhöfen und in Gelehrtenkreisen verstärkt ins öffentliche Bewusstsein gerückt war, entwickelte sich rasch ein lebhaftes Interesse an allem Chinesischen. Die Motive hierfür waren vielfältig. So entspann sich etwa eine Korrespondenz zwischen Müller und dem jungen Gottfried Wilhelm Leibniz, der die Hoffnung hegte, mittels des chinesischen Schlüssels Fortschritte bei seiner Suche nach den Elementen einer Universalsprache zu machen.[2]

Aber es gab auch prosaischere Motive für das Interesse. So verdankte Andreas Müller selbst seine Anstellung als Probst der Berliner Nikolaikirche der Protektion Friedrich Wilhelms, des «Großen Kurfürsten». Dieser träumte von einer Ausweitung des Handels nach Asien und dem Aufbau einer brandenburgischen Ostindien-Kompanie. Um sich mit dem Land und seinen Gepflogenheiten vertraut zu machen, ließ er über Mittelsmänner chinesischsprachige Manuskripte und Bücher aufkaufen. Diese bildeten den Grundstock einer Sondersammlung in der Kurfürstlichen Bibliothek, die mit rund 400 chinesischen Titeln um das Jahr 1700 zu den besten in Europa zählte. Der Große Kurfürst brauchte jedoch Spezialisten, die diesen Bestand lesen und auswerten konnten. Hier kam Müller ins Spiel, der im Ruf stand, ein ausgezeichneter Kenner ostasiatischer Sprachen zu sein. Folglich erhielt er Zugang zur kurfürstlichen Privatbibliothek und begann die vielfältigen Anfragen Friedrich Wilhelms zu beantworten.

Seinen Geniestreich der Erfindung des Schlüssels schrieb Müller der eigenen Frustration zu, eine Systematik im scheinbar unergründlichen Durcheinander der chinesischen Schriftzeichen zu entdecken. Nunmehr habe er ein System entwickelt, mittels dessen das Chinesische sich leicht in andere Sprachen übertragen lasse. Für die Fertigstellung und Abfassung der entsprechenden Unterlagen benötige er allerdings einen Vorschuss. Sobald er diesen erhalten habe, werde er eine Kostprobe seines Schlüssels liefern. Entsprechende Finanzierungen und Druckgenehmigungen zerschlugen sich jedoch. Somit blieb der «chinesische Schlüssel» ein Mysterium, das in den folgenden Jahrzehnten zwar mehrfach wissenschaftlich aufgegriffen, aber nie gelüftet wurde. Etwaige Hinweise in seinen Manuskripten verbrannte Müller kurz vor seinem Tod, was ihm gelegentlich den Nachruf eines Scharlatans eingetragen hat. Übrig blieb ein besonderes Möbelstück, die Typographia Sinica, ein mehrtüriger Schrank mit ausziehbaren Schubladen, in welchem bis heute 3287 kleine Würfel aus Birnbaumholz aufbewahrt werden, in die, spiegelverkehrt, chinesische Schriftzeichen geschnitzt sind. Sie waren wohl als Drucktypen für den nie erschienenen chinesischen Schlüssel gedacht.[3] Das kostbare Relikt steht heute im Humboldt Forum in Berlin.

Wahrscheinlich arbeitete Müller an einem Lexikon, in welchem die (mittels der Holzwürfel zu druckenden) chinesischen Schriftzeichen mit Bedeutungen in der vom jeweiligen Geldgeber gewünschten Sprache ergänzt werden konnten. Nach welchem Prinzip Müller die Anordnung der Schriftzeichen konkret plante, bleibt indes unklar. Genau hierin läge jedoch das eigentliche Geheimnis des Schlüssels. Wer sich mit analogen Methoden auf das Studium der chinesischen Schrift einlässt, kennt die Schwierigkeit, die Schriftzeichen in Untergruppen zu sortieren, um eine leichtere Auffindbarkeit in Lexika zu gewährleisten. Zu Müllers Zeiten gab es auch in China nur ein antiquiertes System von 540 sogenannten Radikalen.[4] Hierbei handelt es sich um häufig verwendete Zeichenbestandteile, etwa «Holz» oder «Hand», die eine Einteilung der theoretisch sogar mehr als 80.000 Schriftzeichen und Variantenschreibungen ermöglichen. Erst zu Beginn des 18. Jahrhunderts wurde auf Veranlassung des Kangxi-Kaisers (reg. 1661–1722) eine neue Klassifikation vorgenommen. Im Rahmen eines gewaltigen Wörterbuchprojekts wurden nun insgesamt 214 Zeichenbestandteile als Radikale identifiziert. Heute liegt deren Zahl in volksrepublikanischen Lexika meist nur noch bei knapp 190. Die händische Suche nach unbekannten chinesischen Schriftzeichen bleibt ein zeitaufwändiges Unterfangen, so dass Müllers Verweis auf das «mühelose» Übersetzen wohl eher Marketingzwecken gedient haben dürfte.

Schlüssel zu fremden Kulturen im digitalen Zeitalter?


Wenn Andreas Müller und seine Zeitgenossen Kenntnis von den technischen Hilfsmitteln unserer Gegenwart gehabt hätten, insbesondere den auf künstlichen neuronalen Netzen basierenden Online-Übersetzungsdiensten, hätten sie zweifellos gedacht, dass der «chinesische Schlüssel» Wirklichkeit geworden sei und flächendeckende Anwendung gefunden habe. Die Fortschritte in diesem Bereich, insbesondere im letzten Jahrzehnt, sind in der Tat atemberaubend. Gerade bei standardisierten Textsorten und bei der Übersetzung ins Englische liefern die besten Werkzeuge mittlerweile in Sekundenbruchteilen brauchbare Ergebnisse. Eine chinesische Tageszeitung lässt sich heute auch ohne jegliche Chinesisch-Kenntnisse recht passabel überfliegen. Die Qualität der Übersetzungen hängt dabei entscheidend vom Textkorpus ab, mittels dessen die Algorithmen trainiert werden. Je größer die Anzahl an vergleichbaren Texten und je besser deren Qualitätsstandards sind, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, geeignete Übersetzungsvorschläge zu erhalten.

Die offizielle Politsprache in der Volksrepublik China (wie auch anderer staatssozialistischer Systeme) ist aufgrund ihres hohen Grads an Formalisierung geradezu geschaffen für Maschinenübersetzung. Wie der schwedische Forscher Michael Schoenhals schon vor drei Jahrzehnten dargelegt hat, gleicht die politische Sprache Chinas einem restriktiven Code, der vor allem durch Beschränkung der als «korrekt» anerkannten offiziellen Formulierungen (tifa) eine Verarmung des Vokabulars bewirkt und den Raum des öffentlich Sagbaren stark begrenzt.[5] Die zentralen Parteiorgane, wie etwa die Volkszeitung, dienen somit nicht als Plattform öffentlichen Meinungsaustauschs, sondern der Markierung und Verfestigung des Parteidiskurses. Die permanente Wiederholung abstrakter und zum Zwecke der besseren Merkbarkeit oft durchnummerierter Slogans (etwa des «Zweifachen Etablierens», «Dreifachen Vertretens», die «Vier Arten Selbstvertrauen», die «Fünf-in-Eins»-Lehre etc.) haben dabei einen abstumpfenden und entpolitisierenden Effekt. Politische Veränderungen und Machtverschiebungen erfordern daher ein «Lesen zwischen den Zeilen» und den konstanten Abgleich mit dem machtpolitischen Umfeld. Hier helfen Maschinenübersetzungen allerdings nicht weiter. Die extreme symbolische Aufladung offizieller Äußerungen, wie sie gerade aus Zeiten der «Kremlinologie» oder der «Pekingologie» im Kalten Krieg bekannt sind, hat allerdings auch den Nebeneffekt, dass redaktionelle Unachtsamkeiten potenziell als Staatskrisen gedeutet werden.

Um zu testen, inwiefern sinologisches Kontextwissen und langjährige Übersetzungserfahrung auch in der Gegenwart noch relevante Qualifikationen darstellen oder ob maschinelle Leistung hier die menschliche Intuition inzwischen ein- oder überholt hat,[6] haben wir während der Erstellung dieser Anthologie einige Texte zum Vergleich maschinell übersetzen lassen. Das Ergebnis war so eindeutig wie erwartbar: Je standardisierter die Textsorte, desto hilfreicher waren die syntaktischen Vorschläge der Programme und umgekehrt. Am ehesten funktionierte die maschinelle Übersetzung daher mit standardisierten Ausdrücken kommunistischer Parteiprosa (etwa in Kapitel 3). Schon heute ließe sich ein Großteil der Parteipropaganda problemlos von Chatbots verfassen. Anspielungsreiche Texte mit einem hohen Anteil an sprachlichen Wendungen aus dem...

Erscheint lt. Verlag 12.5.2023
Reihe/Serie Edition der Carl Friedrich von Siemens Stiftung
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Historische Romane
Kunst / Musik / Theater Malerei / Plastik
Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Regional- / Landesgeschichte
Geisteswissenschaften Geschichte Regional- / Ländergeschichte
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Analysen • Blogbeiträge • China • Diskussionsrunden • Gegenwart • Geschichte • Gesellschaft • Intellektuelle • Kommentierung • Kultur • Ostasien • Politik • Recht • Reden • Soziologie • Übersetzung • Volksrepublik • Wirtschaft
ISBN-10 3-406-80044-0 / 3406800440
ISBN-13 978-3-406-80044-3 / 9783406800443
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