Der Freischütz -

Der Freischütz (eBook)

Programmbuch

Bayerische Staatsoper (Herausgeber)

eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
120 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7526-2933-0 (ISBN)
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In einer Dorfgemeinschaft, die an archaischen Bräuchen festhält, muss der junge Jäger Max einen Probeschuss absolvieren, um seine Geliebte Agathe heiraten zu dürfen. Und das, wo ihm in letzter Zeit kaum ein Schuss geglückt ist! Carl Maria von Weber und sein Librettist Friedrich Kind changieren zwischen Gespenstergeschichte, Märchen, Schicksalsdrama und Spiel zwischen Himmel und Hölle: Zentrum der Handlung ist ein diabolisches Ritual in der Wolfsschlucht, wo ein Pakt mit Samiel eingegangen wird, um Freikugeln gießen zu können, die ihr Ziel nie verfehlen. Die Oper wurde bei ihrer Uraufführung 1821 in Berlin laut ihrem Komponisten "mit dem unglaublichsten Enthusiasmus" vom Publikum gefeiert. In den folgenden Jahrzehnten avancierte das damals als naturverklärend und volkstümlich-romantisch aufgefasste Werk rasch zur meistgespielten Oper auf den deutschen Bühnen. Kein Wunder: In einer Zeit, in der man sich nach kulturellen, nationalen Identifikationsmöglichkeiten sehnte, bot Der Freischütz Projektionsfläche für eine ideelle Gemeinschaft. Was reizt Regisseur Dmitri Tcherniakov heute an dieser Oper?

CLIVE MCCLELLAND: WEBERS FANTASTISCHE WOLFSSCHLUCHT


Clive McClelland ist Associate Professor für Musikwissenschaft an der University of Leeds und Autor der Bücher Ombra: Supernatural Music in the Eighteenth Century und Tempesta: Stormy Music in the Eighteenth Century. Er ist Vorsitzender des Schubert Institute (UK).

Zwischen 1805 und 1812 wurden in Deutschland drei einflussreiche Sammlungen mit Gedichten und Volksmärchen veröffentlicht: Des Knaben Wunderhorn (1805) von Clemens Brentano, das Gespensterbuch (1811) von Johann August Apel und Friedrich Laun und die Kinder- und Hausmärchen (1812) der Brüder Grimm. Diese Texte bildeten eine Art Hallraum für das deutsche Nationalbewusstsein, das mit dem nahenden Ende der Napoleonischen Kriege wieder stärker wurde. Der Wald, der Volksglaube und alte Sagen waren wiederkehrende Motive darin. Das Übernatürliche spielte eine enorme Rolle und trug zur Beliebtheit der Texte bei. Ihr Einfluss war auch in der Oper spürbar, und so wurden in den folgenden zwei Jahrzehnten Motive des Übernatürlichen zu Grundthemen deutscher Opern.

Einer der ersten Komponisten, die darauf reagierten, war Carl Maria von Weber. Kurz nachdem die Geschichte vom Freischütz im Gespensterbuch erschienen war, bat er seinen Freund Alexander von Dusch, ein Libretto dazu zu verfassen. Es kam aber keines zustande, und so wandte sich Weber 1817 an den Dresdner Dichter Friedrich Kind, der in nur zehn Tagen ein Libretto fertigstellte. Weber begann umgehend zu komponieren und präsentierte 1819 dem Generalintendanten der Königlichen Schauspiele in Berlin, Carl von Brühl, das Vorhaben einer dortigen Aufführung seines Werks. Weber hatte damals wohl das Königliche Opernhaus ins Auge gefasst, da das Nationaltheater zwei Jahre zuvor niedergebrannt war. Doch schließlich sollte ihm das geplante, von Karl Friedrich Schinkel entworfene Neue Schauspielhaus Gelegenheit geben, die neuesten Entwicklungen in der Theatertechnik zu nutzen. Diese Neuerungen betrafen die Innenraumstruktur, die Beleuchtung und die Akustik, und sie trugen dazu bei, die Wirkung der zentralen Szene, der Wolfsschluchtszene, zu steigern.

Viel ist über den Einfluss der Musik dieser Szene auf nachfolgende Generationen deutscher Opernkomponisten, allen voran Wagner, geschrieben worden. Doch zuerst sollte man den Blick auf die erstaunliche Wirkung des szenischen Spektakels richten. Der Erfolg von Opern mit übernatürlichen Szenen erklärt sich nämlich nicht nur durch die sie begleitende betörende Musik, auch das Bühnenbild und die Spezialeffekte, die man als das „Paratheatrale“ bezeichnen könnte, trugen dazu bei. Seit einiger Zeit schon wurden Vorrichtungen wie Flugwerke und Falltüren zum Auf- und Abtritt von Dämonen eingesetzt oder Toneffekte wie Windmaschinen und Donnerbleche, um Gewitter zu simulieren. Aber Weber reichte das nicht mehr.

Im ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts gab es zwei große Publikumsmagneten: das Panorama und die Phantasmagorie. (Auch Karl Friedrich Schinkel war ein berühmter Gestalter von Panoramen.) Weber interessierte sich besonders für die Phantasmagorie. Sie wurde von dem erfolgreichen Unternehmer Étienne- Gaspard Robert entwickelt und 1798 in Paris zum ersten Mal vorgestellt. Das Publikum war ganz versessen darauf, sodass die Vorstellungen einen Siegeszug durch ganz Europa antraten. In Deutschland waren sie zuerst 1805 in Frankfurt und Leipzig zu sehen, dann 1810 auf der Sommerausstellung in München. Sie sollten das Publikum mit Bildern von Geistern, Hexen und Dämonen, die im Verein mit kleinen Explosionen, bunten Flammen, Rauch und maschinell erzeugten Klangeffekten (hauptsächlich Sturmgeräuschen) von mehreren Laternae magicae auf Musselin projiziert wurden, in Angst und Schrecken versetzen. Ton angebende Intellektuelle wie Johann Wolfgang Goethe oder E.T.A. Hoffmann, aber auch Schinkel und  sein Bühnenbildner Karl Wilhelm Gropius rümpften die Nase über solch billige Unterhaltung, sodass Weber, der auf der Nutzung dieser Effekte auf der Bühne bestand, sicher einigen Gegenwind bekam. Dennoch, er hatte das richtige Gespür. Die Menschen kamen in Scharen zu den ersten Vorstellungen des Freischütz, um das Spektakel zu erleben. Zu den Innovationen im Theater gehörten auch gedimmtes Licht im Haus und ein um 0,6 Meter absenkbares Parkett, was einen dichteren Orchesterklang ermöglichte. Das wohlanständige protestantische Publikum war schockiert von den auf der Bühne nachgestellten Ritualen,die auf Schwarze Messen und Alchemie anspielten. Die Kombination von Visuellem, Ton und Gerüchen muss eine aufregende Erfahrung gewesen sein. Als Mary Shelley, die Autorin von Frankenstein, 1824 eine Freischütz-Aufführung im Lyceum Theatre in London besuchte, schrieb sie:

Die Musik ist wild, aber oft schön – sobald die Wundermaschinen ihre Ladung abfeuern, füllt sich die Bühne mit allen nur erdenklichen Schrecknissen – flügelschlagenden Eulen – herumspringenden Kröten – wild blickenden Feuerschlangen – geisterhaften Wolkenjägern, während immer wieder mitten im Fluss wilder Harmonien eine krachende Dissonanz einschlägt – alle Arten schönster Szenerien, versichere ich Ihnen, während das gesamte Haus, außer der Bühne, in Dunkelheit gehüllt ist.

Hieraus wird klar, welch enorme Wirkung auch die Musik auf das Publikum hatte. Webers Musik ist zwar hochinnovativ, aber die besonderen Effekte, die er einsetzt, stehen in einer langen Tradition, die bis zu den frühesten Opern der Musikgeschichte zurückgeht. Schon immer boten Szenen mit Geistern, Hexen, Dämonen, Zauberhandlungen und zeremoniellen Riten Gelegenheit sowohl für spektakuläre Bühneneffekte wie für außergewöhnliche Musik. Für den Komponisten kam es darauf an, musikalische Störelemente einzubauen, um das Publikum zu verunsichern.

Um Gefühle von Erhabenheit oder Furcht hervorzurufen, verwendeten Komponisten in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts Techniken wie langsame Tempi, Molltonarten mit b-Vorzeichen, tonale Uneindeutigkeiten, unübliche Harmonien (speziell chromatische Akkorde), fragmentierte oder Melodielinien mit weiten Sprüngen, beharrlich wiederholte Töne, Tremoli, synkopierte und punktierte Rhythmen, unerwartete Pausen, Kontraste im Klanggefüge oder der Dynamik und dunkle Klangfarben in ungewöhnlicher Instrumentierung, speziell mittels Posaunen. Diesen Stil bezeichnet man heute mit dem Begriff „Ombra“ („Schatten“), und es gibt außerordentlich schöne Beispiele dafür in der Musik von Claudio Monteverdi, Francesco Cavalli, Henry Purcell, Georg Friedrich Händel, Niccolò Jommelli, Christoph Willibald Gluck und Wolfgang Amadeus Mozart (speziell die Komtur-Szene im zweiten Akt von Don Giovanni).

Um Chaos und Schrecken zu erzeugen, wurden darüber hinaus eher brachiale Stilmittel verwendet. Vieles daran ähnelt dem Ombra-Stil, mit dem wichtigen Unterschied, dass das Tempo viel schneller ist. Es wurde mit Elementen wie Passagen mit schnellen Tonleitern (oft auf Streichinstrumenten), vorwärtsdrängenden Rhythmen, starken Akzenten, dichter Vollstimmigkeit und kraftvoller Instrumentierung sowie einer Dominanz von Blechbläsern und Pauken gearbeitet. Musik dieser Art wurde für Sturmszenen verwendet – in den Opern des 17. und 18. Jahrhunderts gehen sie fast immer auf übernatürliche Mächte zurück –; aber auch für andere Angstzustände wie Verfolgungen (besonders durch Dämonen oder Furien), Wahnsinn und Zorn (wie in den Arien der Königin der Nacht in Mozarts Zauberflöte). Dieser stürmische, sich aus dem Übernatürlichen speisende Musikstil wird oft als „Sturm und Drang“ bezeichnet, was problematisch ist, da viele Beispiele dafür vor die gleichnamige deutsche literarische Strömung datieren (die zudem nur wenig mit dem Übernatürlichen zu tun hat). Heute hat man sich auf den Begriff „Tempesta“ („Sturm“) für alle Formen dieser Art Musik geeinigt – eine Bezeichnung, die dem Stürmischen des Stils Rechnung trägt, ihn aber zugleich als komplementär zu Ombra setzt.

Der Erfolg von Ombra und Tempesta trug enorm zur anhaltenden Beliebtheit von Opern bei, die im Genre des Übernatürlichen angesiedelt waren, und die beiden Stile überschritten schnell die Grenzen zur Sakral- und Instrumentalmusik (Joseph Haydns Sturm und Drang-Symphonien sollten eigentlich Tempesta-Symphonien genannt werden). Der Reiz dieser Musik liegt darin, dass sie nicht eine bloße Repräsentation des Übernatürlichen ist, sondern eine Gefühlsreaktion im Hörer bewirkt. Furcht und Schrecken waren spätestens seit Edmund Burke als Quellen des Erhabenen bekannt, und Musik, die eine Gefühlsreaktion solchen Ausmaßes hervorrufen konnte, war schwere Munition im kreativen Arsenal des Komponisten.

Weber suchte also neue Möglichkeiten, um sein Publikum musikalisch zu erschüttern. Ein hervorstechendes Merkmal bei ihm ist die Anordnung der tonalen Zentren. Die Wolfsschluchtszene beginnt und endet in fis-Moll, einer selten verwendeten Tonart mit ätherischer Anmutung. Die eher furchterregenden und extremeren Elemente der Partitur stehen, dazu diametral entgegengesetzt, in c-Moll. Völlig unvorbereitet durch die vorhergehende Musik findet bei Samiels erstem Auftritt der Wechsel in diese Tonart statt. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts werden ungefähr ein Drittel der Ombra- und Tempesta-Opernszenen in dieser Tonart gespielt. Die beiden Tonarten stehen im Abstand eines Tritonus voneinander, des sogenannten Teufelsintervalls, das einer um einen Halbton verminderten Quinte entspricht. Die Symbolik ist hier eindeutig. Die anderen Haupttonarten sind a-Moll und Es-Dur, ihrerseits ebenfalls von einem Tritonus getrennt. Spielte man diese vier Noten auf einem Klavier, so würde man den verminderten Septakkord...

Erscheint lt. Verlag 12.2.2021
Sprache deutsch
Themenwelt Kunst / Musik / Theater Musik
ISBN-10 3-7526-2933-9 / 3752629339
ISBN-13 978-3-7526-2933-0 / 9783752629330
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