Die Künstleranekdote 1760–1960 (eBook)

Künstlerleben und Bildinterpretation

(Autor)

eBook Download: EPUB
2020 | 1. Auflage
303 Seiten
C.H.Beck (Verlag)
978-3-406-75826-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Künstleranekdote 1760–1960 - Werner Busch
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Anekdoten sind keineswegs immer nur harmlose Geschichten mit einer überraschenden Pointe. Vielmehr waren sie von ihren antiken Anfängen an einer anderen - oft subversiven - Wahrheit verpflichtet als die offizielle Geschichtsschreibung. Auch Künstleranekdoten verraten mehr über die Künstler und ihr Werk, als es scheint. Der renommierte Kunsthistoriker Werner Busch zeigt dies in bestechender Weise an bedeutenden Malern von Thomas Gainsborough über Adolph Menzel und William Turner bis zu Mark Rothko.

Im 18. und 19. Jahrhundert erlebte die Anekdote vor allem in England eine Blütezeit, wobei fast jeder bedeutendere Künstler eine Anekdotensammlung bekam. Diese Anekdoten mögen nicht immer den Wahrheitsansprüchen der empirischen Geschichtsschreibung genügen. Trotzdem - oder vielleicht gerade deswegen - können sie helfen, die Werke etwa von George Stubbs, von Thomas Gainsborough und William Turner zu entschlüsseln. Auch im 20. Jahrhundert spielte die Anekdote bei Malern des Abstrakten Expressionismus eine verblüffende Rolle. Die Geschichten, die die Künstler zumeist selber in Umlauf brachten, sind Ausdruck von Gegenpositionen gegenüber etablierten Überzeugungen, sie antworten auf Künstlerkollegen wie auf die Kunstkritik. Und die Bilder von Mark Rothko erzählen selbst Geschichten, die sich gegen die falsche Vereinnahmung der Werke wenden. Mit kriminalistischem Spürsinn hebt Werner Busch mithilfe von Künstleranekdoten verhüllte oder verschüttete Bedeutungen großer Kunstwerke ans Licht.

Werner Busch lehrte von 1988 bis 2010 als Professor für Kunstgeschichte an der Freien Universität Berlin.

Prolog

Laurence Sternes «Memoirs»


Am Ende seines Lebens, im Jahr 1767, hat sich Laurence Sterne, so überliefert es die Forschung, mit seinen «Erinnerungen» beschäftigt, die als «Memoirs of the Life and Family of the late Rev. Laurence Sterne. Written by himself» publiziert wurden. Und zwar als Vorspann zu einer Ausgabe seiner Briefe im Jahre 1775, herausgegeben von seiner Tochter Lydia.[1] Der Text ist kurz, knappe zehn Seiten, und er ist in erster Linie für die Tochter Lydia gedacht, an der Sterne sehr hing, was man nur im Gegensatz zum gestörten Verhältnis zu seiner Frau sehen kann. Sterne berichtet vom Herkommen seiner Familie, seiner unruhigen Jugend mit ständigem Ortswechsel, bedingt durch den Beruf des Vaters. Dieser wurde als Soldat mit seiner Einheit immer wieder verlegt, nicht nur in Irland und England, wo ihm seine Familie, gelegentlich in einigem zeitlichen Abstand, folgte, sondern schließlich auch zur Verteidigung nach Gibraltar und dann gar nach Jamaika, wo er schließlich verstarb. Diese Stationen allerdings machte die Familie nicht mit. Bis hierhin, bis zum Tod des Vaters, ist Laurence Sternes Schilderung detaillierter, danach wird eher kurz auf seine Pfarrstationen hingewiesen, bis zur Publikation der ersten beiden Bände von «Tristram Shandy», ohne dass dazu etwas gesagt würde.

Die Forschung weiß mit diesem Text nichts Rechtes anzufangen. Selbst die vorzügliche umfangreiche Biographie von Ian Campbell Ross von 2001 benutzt die «Memoirs» allein gelegentlich fürs Faktische, entlehnt das eine oder andere Datum, korrigiert auch hier und da Details aufgrund neuerer Quellenforschung – und damit hat es sich.[2] Ehrlich gesagt, dies verwundert dann doch. Weder macht sich die Forschung Gedanken über die Gattung Lebenserinnerung oder Autobiographie, die im 18. Jahrhundert ohne entschieden rhetorische Überformung nicht auskommt, was nichts anderes heißt, als dass sie bestimmten Versatzstücken verpflichtet ist. Noch fragt sie, wie das Verhältnis der «Memoirs» zu «Tristram Shandy» zu denken ist, schließlich lautet dessen genauer Titel «Leben und Ansichten von Tristram Shandy», weist also den Roman ebenfalls als Bericht über einen Werdegang aus. Und wer wüsste nicht, dass in «Tristram Shandy» von einem folgerichtigen Erzählen nicht die Rede sein kann, dass Tristram Shandys Geburt sich überhaupt erst im dritten Buch des Romans ereignet – falls man überhaupt von einem Roman reden kann – und auch da noch durch verschiedene Einschübe verzögert wird.

Als Dr. Slop, der zur Entbindung herbeigerufene Arzt, zusammen mit der Hebamme, mit der werdenden Mutter beschäftigt ist und alle sonstigen Protagonisten ebenfalls dies oder jenes zu tun haben, hat der Autor plötzlich Zeit, die Vorrede des ganzen Textes, in den er zu Beginn geradezu hineingeplumpst war, nachzuliefern.[3] Danach wird erst einmal berichtet, was die anderen getan haben, und auch die Missverständnisse zwischen Tristrams Vater und Onkel Toby gehen noch eine Weile weiter, bis wir Genaueres über das Unglück mit der Geburtszange, die missglückte Namensgebung und die Nottaufe erfahren. Was will Sterne uns mit diesem konfusen Erzählen sagen, mit all den Abschweifungen, nur um nicht auf den Punkt kommen zu müssen? Warum vermeidet er Folgerichtigkeit, die er doch bei seinen «Memoirs» pingelig genau beachtet? Wie erklärt sich der Widerspruch?

Folgen wir Wolfgang Isers vorzüglichem Buch zu «Tristram Shandy»,[4] so will Sterne uns mit seiner Verzögerungstaktik klarmachen, dass die Bedingungen unserer Existenz uns ebenso prägen wie unsere sich aus den Bedingungen ergebenden Marotten, dass es uns aber unmöglich ist, dieses Bedingungsverhältnis wirklich zu verstehen. Ersteres macht Sterne gleich am Anfang klar: «Meines Tristram’s Unglück begann ja schon neun Monate bevor er überhaupt zur Welt kam».[5] Die sprichwörtlich gewordene Formulierung, mit der Tristrams Mutter den unmittelbaren Vollzug der ehelichen Pflichten einfordert: «Ei, mein Guter, hast du auch daran gedacht, die Uhr aufzuziehen»,[6] was bei seinem Vater jedes Mal ein gewisses Entsetzen auslöst, liefert uns ein Beispiel für eine besonders absurde Bedingung menschlicher Existenz. Natürlich möchte Sterne uns mit der Formulierung auf das Rituelle des Vollzuges hinweisen, dem die Engländer noch heute frönen sollen, wenn sie sich Samstagnachmittag um 15 Uhr zurückziehen. Doch wichtiger ist der Hinweis auf all die Hypotheken, die wir mit uns tragen, die unsere Gefühle, Reaktionen, Handlungen gänzlich subjektiv erscheinen lassen und auch weitgehend unerklärlich machen. Das Leben lässt sich nur in Grenzen steuern, unsere Antriebe – und mögen wir noch so überzeugt davon sein – lassen sich selten rational erklären. Wir kreisen um uns selbst, einen geraden Lebensweg gibt es nicht. Sternes permanente Abschweifungen in seinem Text entsprechen unserem schlangenförmigen Lebensweg. Folgerichtigkeit, Logik, rationales Argument – nichts funktioniert wirklich.

Sterne demonstriert dies in einer detaillierten Auseinandersetzung mit John Lockes «Essay Concerning Human Understanding». Für Locke ist bekanntlich das menschliche Bewusstsein zu Beginn eine «tabula rasa». Mittels Sinneseindrücken machen wir Erfahrungen, die uns prägen. Die Erfahrungen wiederum verbinden sich und lassen uns Ideen fassen. Nach Locke folgen sie logischen Gesetzen, sind natürlich und rational. Negative Erfahrungen lassen uns vorsichtig werden, auch das scheint vernünftig. Falsche Gedankenverbindungen, die sich etwa durch Gewohnheit eingeschliffen haben, sind zu eliminieren. Sie diskreditiert Locke mit aller Macht, um die fortschreitende Vernünftigkeit der Existenz, von der er gänzlich überzeugt scheint, zu retten. Es liegt offensichtlich an uns, ob wir vernünftig oder verrückt werden.[7]

Sterne nutzt alle diese Argumente, nur um sie auf den Kopf zu stellen. Wenn Tristrams Vater und Onkel Toby von morgens bis abends ihre Steckenpferde reiten und sich dabei ununterbrochen missverstehen, was ihrer wechselseitigen Sympathie mitnichten Abbruch tut, dann demonstriert Sterne, dass unsere Prägungen uns hierhin und dahin führen, bloß nicht dahin, wohin rationale Logik uns führen sollte. Kurz: Unsere Subjektivität schlägt immer durch, objektive Wertungen wünschen wir uns, wir können sogar glauben, gänzlich abstrakter Logik verpflichtet zu sein – allein, es hilft uns nichts. Und warum ist das so, selbst wenn man das Gepäck nicht berücksichtigt, das wir seit der Geburt mit uns tragen? Es liegt schlicht daran, dass John Locke eines grundsätzlich unterschlägt, wovon Sterne auch in seinem privaten Leben nur zu gut weiß, und das ist unsere Triebnatur. Sinneseindrücke sind von außen kommende Reize, doch von innen kommt jede Art von Triebverlangen, das noch weniger steuerbar ist. Der gesamte Text von «Tristram Shandy» ist mit den Folgen dieses Unbeherrschbaren befasst. Und diese Einsicht zerstört auch das logische Erzählen. Die Erzählebenen sind geradezu wild vermischt. Sternes permanente Abschweifungen haben den tieferen Sinn, uns darauf aufmerksam zu machen, dass, wenn wir schließlich zum eigentlichen Erzählstrang zurückkehren, wir und die Geschichte nicht mehr dieselben sind, die Abschweifung mit ihren Erfahrungen hat uns – und sei es subkutan – verändert.

Demgegenüber nun sollen Sternes «Memoirs» einfach nur der Reihe nach erzählen, was war, als wäre es in klarer Logik zu berichten? Man mag es kaum glauben. Dabei tut der Text so; die Chronologie ist eindeutig, erst dies, dann das. Aber ist das dann automatisch eine Autobiographie? Getreu dem Sterne’schen Verfahren ist an dieser Stelle mit gehöriger Verspätung nachzuliefern, dass Sternes «Memoirs» gar nicht in Gänze 1767, als er sich auf dem Höhepunkt seines Ruhmes befand und auch schon von Krankheit schwer gezeichnet war, entstanden sind. Vielmehr hat Lydia zwei Manuskripte, die zu unterschiedlichen Zeiten und Anlässen verfasst wurden, zusammengefügt, ohne dass ein Übergang markiert wäre. Dies weiß man erst seit einigen Jahren, seit Sternes Originalmanuskript für den ersten, längeren Text der «Memoirs» auftauchte. Kenneth Monkman von Shandy Hall hat dieses Manuskript mustergültig ediert, faksimiliert und kommentiert. Nun ist dieser Text von Sterne handschriftlich genau datiert, allerdings ist die Jahreszahl mit Tusche mehr oder weniger unleserlich gemacht worden, naheliegenderweise dürfte Lydia die Übeltäterin gewesen sein. Auf dem Faksimile kann man die Zahl nicht entziffern, im Original hat man als Datum den 5. September 1758 gelesen.[8]

Stimmt die Jahreszahl, dann könnte man argumentieren, sie würde das folgerichtige Abspulen der Daten...

Erscheint lt. Verlag 16.10.2020
Zusatzinfo mit 64 Abbildungen
Sprache deutsch
Themenwelt Kunst / Musik / Theater Kunstgeschichte / Kunststile
Kunst / Musik / Theater Malerei / Plastik
Schlagworte 18. Jahrhundert • 19. Jahrhundert • 20. Jahrhundert • Anekdote • gainsborough • Geschichtsschreibung • große Kunstwerke • Historiographie • Kunst • Kunstgeschichte • Kunstgeschichtsschreibung • Künstler • Künstleranekdoten • Maler • Malerei • Menzel • Rothko • Turner
ISBN-10 3-406-75826-6 / 3406758266
ISBN-13 978-3-406-75826-3 / 9783406758263
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