Dichterisch denken (eBook)

Ein Essay

(Autor)

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2020 | 1. Auflage
200 Seiten
Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag
978-3-633-76701-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Dichterisch denken -  Amir Eshel
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Was Dichten und Denken unterscheidet und wie eng das eine mit dem anderen doch zusammengehört, zeigt Amir Eshel in diesem Essay. Dichten ist nach einem Wort von Hannah Arendt Denken ohne Geländer: frei, ungebunden, ein Versuch jenseits einer Systematik. Damit wirkt Dichtung auf das Denken ein. Es gibt ein dichterisches Denken, das Eshel anhand von Gedichten aufzeigt, aber auch an Bildern von Gerhard Richter, an Werken von Dani Karavan und Installationen, die allesamt einen ganzen Zusammenhang ausdrücken. Amir Eshel richtet seine Aufmerksamkeit auf zeitgenössische Künstler, deren Werke Inhumanität und Unfreiheit ins Zentrum rücken und in ihrer künstlerischen Gestaltung einen Ausweg aus der negativen Wirklichkeit, Erfahrung und Einschränkung weisen zu eigenem Denken, zu perspektivischer Weite, die den Anderen in die Betrachtung einbezieht, zu neuen Formen und Inhalten. Und Amir Eshel zeigt, wie wir es lernen können, dichterisch zu denken, denkend zu dichten.



Amir Eshel ist Edward Clark Crossett Professor für vergleichende Literaturwissenschaft an der Stanford University. Von ihm erschienen zuletzt der Band <em>Zeichnungen</em>, gemeinsam mit Gerhard Richter, 2018, und<em> Dichterisch denken. Ein Essay</em>, 2020.

17Einleitung


Das Kernproblem


Tyrannei wird häufig als eine überkommene politische Herrschaftsform angesehen, als schwere staatspolitische Verwerfung, die in der Bedeutungslosigkeit verschwunden ist oder – im schlimmsten Falle – anderswo passiert, aber doch nicht im eigenen Staat. Nichts davon entspricht der Wahrheit, sosehr wir es uns auch wünschen mögen. Tyrannei ist hier, und sie bleibt. Sie tritt, so definiert es der Duden, in Form von Gewalt-, Willkür-, Schreckensherrschaft in Erscheinung. Doch Tyrannei meint auch andere, weniger offensichtliche repressive Kräfte. Häufig sind diese weitaus heimtückischer, zerstörerischer und deshalb erfordern sie ebenso unsere Aufmerksamkeit.

Auch heute noch, 75 Jahre nach dem Zusammenbruch Nazideutschlands und drei Jahrzehnte nach der Implosion der Sowjetunion, ist Hannah Arendt eine unserer scharfsinnigsten Beobachterinnen moderner Tyrannei in all ihren verschiedenen Ausprägungen geblieben. Ihre Studie Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft bildete den Auftakt zu ihrer lebenslangen Beschäftigung mit den verschiedenen Aspekten dieser repressiven Herrschaftsform. Dabei war Arendt davon überzeugt, dass Tyrannei nicht ausschließlich innerhalb von geschlossenen Herrschaftssystemen existierte; vielmehr, so glaubte sie, sei jegliches Denken, insbesondere das westliche, von tyrannischen Tendenzen durchdrungen. Kurz bevor Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft erschien, setzte sich Arendt in ihrem Denktagebuch mit der Wesensverwandtschaft von Philosophen und Tyrannen auseinander. Seit Platon sei die westliche Logik, die auf Prinzipien basierte, die 18aus »Denken und Vernunft« resultierten, »by definition« tyrannisch.1 Die Idee, dass Verstehen und fundiertes Urteilen ausschließlich auf Logik, Methode, Stringenz und Systematik gründeten, stelle eine permanente Bedrohung für die Freiheit dar. So wie der politische Tyrann als Souverän allein und für alle Bereiche des Lebens darüber entscheidet, was richtig und was falsch ist, wird auch das westliche Denken von einem Despoten regiert: der Logik. Arendt identifiziert und akzentuiert die Kernfrage, die uns im Verlauf dieses Essays beständig begleiten wird: »Gibt es ein Denken, das nicht tyrannisch ist?«2

Arendt, selbst nur knapp aus Nazideutschland entkommen, war sich der Verbindung zwischen der westlichen philosophischen Tradition und den zeitgenössischen totalitären Regimen überaus bewusst. Und zweifelsohne hatte sie dabei auch ihre intellektuellen Gefährten im Sinn, die sich in den 1930er Jahren rasch und bereitwillig den neuen Verhältnissen und Machthabern angepasst hatten.3 Ich möchte jedoch anregen, dass die Implikationen aus Arendts Fragestellung – Gibt es ein Denken, das nicht tyrannisch ist? – weit über die politischen Realitäten ihrer Zeit hinausreichen. Ihre Frage hat nichts von ihrer Relevanz verloren, denn wie und was wir über die Welt denken, ist stets von unserem Verständnis darüber gerahmt, was das Denken beinhaltet, woraus es sich zusammensetzt. Die meisten von uns gehen ganz selbstverständlich davon aus, dass Denken ist, was es ist – eine mentale Beschäftigung, die uns den ganzen Tag, jeden Tag umtreibt –, und schenken den verschiedenen Aspekten des Denkens nur wenig Beachtung. Auch realisieren die wenigsten, dass sich das Denken mitnichten auf die Aktivitäten beschränkt, mit denen wir es üblicherweise assoziieren: etwa den systematischen Versuch, eine Situation einzuschätzen, Probleme zu lösen, eine sinnvolle Entscheidung zwischen verschiedenen beruflichen Optionen zu treffen und Ähnliches. Arendts Frage impliziert eine weit darüber hinausgehende, faszinierende Möglichkeit: Das Denken umspannt weit mehr als 19jene Formen der Erkenntnis, die die westliche Tradition hervorgebracht und idealisiert hat – angefangen bei Platon über die wissenschaftliche Revolution bis hin zum Transhumanismus, jene Denkrichtung, die die Grenzen menschlicher Möglichkeiten, sowohl geistig, körperlich als auch emotional, durch Aufwendung technologischer Systeme zu verschieben sucht. Was, wenn es auch ganz andere Arten des Denkens gibt?

Wie bereits im Vorwort angedeutet, möchte ich mich in diesem Essay dafür aussprechen, dass es sie gibt. Ich denke, die meisten von uns wissen – auf eine intuitive, in der Regel unausgesprochene Weise –, dass das Denken sehr vielfältige Formen annehmen kann. Im Folgenden untersuche ich eine dieser Formen, von der ich glaube, dass sie von besonderem Wert für die Beantwortung von Arendts bohrender Frage ist; eine Art des Denkens, die ich für besonders wesentlich halte, um auf tyrannische Tendenzen zu reagieren. »Dichterisches Denken« nenne ich diese Form, und ich verstehe darunter jenes kreative und grenzenlose Denken, das »Denken ohne Geländer«, dem wir häufig (aber nicht ausschließlich) in der Literatur und in den Künsten begegnen.

Da ich mich insbesondere für repressive Formen des Denkens und der Politik in der Moderne interessiere, konzentriert sich dieser Essay auf einige wenige Dichter und Künstler, deren Werke sich sowohl mit modernen Tyranneien beschäftigen, insbesondere mit dem Nationalsozialismus und seinen Folgen, als auch dichterisches Denken verkörpern: Paul Celan (1920-1970), Dan Pagis (1930-1986), Gerhard Richter (geb. 1932) und Dani Karavan (geb. 1930). Abschließend, in der Koda, wende ich mich noch dem Werk von Laura Poitras (geb. 1964) zu, um zu zeigen, dass auch die zeitgenössische Kunst – im Zusammenhang mit bestehenden Gefahren für die menschliche Freiheit – diese poetischen Gedankengänge aufnimmt und weiterentwickelt. Obwohl Poitras Arendts Enkeltochter sein könnte (und Jahrzehnte jünger ist als Celan, Pagis, Richter und Karavan), hat sie mit einigen der tyrannischen Kräfte, 20die Arendt in Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft und in anderen Werken untersucht hat, Erfahrungen aus erster Hand gemacht. Diese verarbeitet sie in ihrer Kunst und fordert unsere Fähigkeit heraus, mit all unseren Sinnen zu denken, uns nicht auf Logik und Vernunft zu verlassen. So versetzen wir uns eventuell in die Lage, poetisches Denken als einen einzigartigen, uneingeschränkten Modus unseres geistigen Lebens zu erkennen. Gerade weil die Werke, die ich hier präsentiere, so wenig durchdrungen sind – sowohl im Inhalt als auch in der Form – von den gewohnten Denksystemen, können sie hilfreich sein, individuelle und kollektive Freiheit zu verteidigen und zu kultivieren. Gewiss, auch wenn wir es uns anders wünschen würden, ein Gedicht besteht nur aus Worten, und ein Gemälde nur aus Farbe. Kunstwerke allein sind kaum ein adäquates Mittel, um Tyranneien zu bekämpfen, und ein Kunstwerk als solches kann die Welt nicht verändern. Aber die Art und Weise, mit der wir dieser Kunst begegnen, kann etwas bewirken – zunächst in uns selbst, doch schließlich auch innerhalb der öffentlichen Sphären, in denen wir uns bewegen. Ich glaube, dass Kunstwerke wie jene, die ich hier diskutiere, unsere Art, ihnen zu begegnen, und die Debatten, die sie auszulösen, in der Lage sind, ein differenzierteres und freieres Gemeinwesen zu erzeugen – eine öffentliche Sphäre, in der Dynamik und Achtsamkeit existieren, die sich vielleicht als belastbarer erweist als jene, die wir in den letzten Jahren beobachtet haben: von Peking bis Manila, von Moskau bis Jerusalem und Washington, D. ‌C. – bis hin zu der wachsenden Bedrohung, die Tyranneien im Hier und Heute darstellen.

21»Denken ohne Geländer«


Ihr Leben lang beschäftigte sich Arendt mit verschiedenen Ausprägungen des freien, grenzenlosen Denkens, des »Denken[s] ohne Geländer«.4 Die Konsequenzen für unsere heutige Zeit muten einerseits eher bescheiden an und sind andererseits doch einschneidend: Unsere historische Dynamik (wobei anzumerken ist, dass sich Arendts Überlegungen auf die westliche Zivilisation fokussierten) ist gekennzeichnet durch einen fundamentalen Bruch mit dem antiken und mittelalterlichen Erbe und seinen intellektuellen und institutionellen Rahmenbedingungen. Arendt verweist ...

Erscheint lt. Verlag 17.8.2020
Übersetzer Ursula Kömen
Sprache deutsch
Themenwelt Kunst / Musik / Theater Malerei / Plastik
Schlagworte Denken • Dichtung • Kunst • Literatur • Philosophie
ISBN-10 3-633-76701-0 / 3633767010
ISBN-13 978-3-633-76701-4 / 9783633767014
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