World Wide Wunderkammer -  Holger Noltze

World Wide Wunderkammer (eBook)

Ästhetische Erfahrung in der digitalen Revolution
eBook Download: EPUB
2020 | 1. Auflage
256 Seiten
Edition Körber-Stiftung (Verlag)
978-3-89684-572-6 (ISBN)
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Digitalisierung war für Opernhäuser und Konzertsäle, Theater und Museen lange allenfalls ein Marketingthema. Dass sich für die Zauberorte des Analogen auch digitale Wunderkammern öffnen könnten - kaum vorstellbar. Holger Noltze vermisst dieses neue Terrain und prüft seine Entdeckungen auf ihren Mehrwert für die ästhetische Erfahrung der Zukunft. Langsam erst - manchmal von der Not getrieben, manchmal von Abenteuerlust - entdecken Opern- und Konzerthäuser die eigenständigen Qualitäten des Streaming, entwickeln Museen digitale Sammlungen, die Schaulust und Kunstverstand ansprechen. Es ist höchste Zeit, dass die Kulturinstitutionen sich auf ihre Kernkompetenzen der Kuratierung und qualitativen Unterscheidung besinnen. Dann können sie die Möglichkeiten des Web zur Vertiefung und Differenzierung nutzen, um den Hunger auf ästhetische Entdeckungen jenseits des Erwarteten und Erwartbaren zu wecken. Dafür braucht es neben überzeugenden Erlösmodellen vor allem kluge Lenkung, Fantasie, Komplexitätstoleranz - und die Bereitschaft, ins Unbekannte aufzubrechen.

Holger Noltze ist Musikjournalist und seit 2005 Professor für Musik und Medien an der TU Dortmund. Nach Stationen beim Deutschlandfunk und im WDR Fernsehen arbeitet er heute u. a. für den WDR, für 'Opernwelt' und die ZEIT. Noltze veröffentlichte Bücher über Goethe, Wagner und Verdi. In der Edition Körber erschienen 'Die Leichtigkeitslüge' (2010) und zusammen mit dem Pianisten Menahem Pressler der Gesprächsband 'Dieses Verlangen nach Schönheit' (2016). Holger Noltze ist Mitgründer der Online-Plattform takt1.de für klassische Musik.

Holger Noltze ist Musikjournalist und seit 2005 Professor für Musik und Medien an der TU Dortmund. Nach Stationen beim Deutschlandfunk und im WDR Fernsehen arbeitet er heute u. a. für den WDR, für "Opernwelt" und die ZEIT. Noltze veröffentlichte Bücher über Goethe, Wagner und Verdi. In der Edition Körber erschienen "Die Leichtigkeitslüge" (2010) und zusammen mit dem Pianisten Menahem Pressler der Gesprächsband "Dieses Verlangen nach Schönheit" (2016). Holger Noltze ist Mitgründer der Online-Plattform takt1.de für klassische Musik.

TEIL I

Kritik der digitalen Dummheit

»Kurz, er versenkte sich so tief in die Bücher, dass er über ihnen die Nächte vom letzten bis zum ersten Licht und die Tage vom ersten bis zum letzten Dämmer verlas, und der knappe Schlaf und das reichliche Lesen trockneten ihm das Gehirn ein, so dass er den Verstand verlor. Sein Kopf bevölkerte sich mit dem, was er in den Büchern fand, mit Verzauberungen und Turnieren, mit Schlachten, Fehden, Blessuren, Liebesschwüren, Amouren, Herzensqualen und anderem abwegigen Unfug.«

MIGUEL DE CERVANTES:
DON QUIJOTE VON DER MANCHA (1605)

Für Kinder: nicht!

Ein Kulturkampf ist im Gang, die Kombattanten stehen sich unversöhnlich gegenüber. Gekämpft wird um die Flughoheit über den Kinderzimmern, das erklärt die Unversöhnlichkeit, denn wenn es um das Wohl der Kinder geht, wird kaum Pardon gegeben. Dass die Auseinandersetzung über die Frage, was die Digitalisierung in den Hirnen, den Körpern und im Leben der Menschen bewirkt, was sie anrichtet oder wozu sie inspiriert, mit dem Fokus auf dem Nachwuchs geführt wird, ist kein Zufall, denn der Kampf um den kindlichen Kopf ist natürlich der um unsere Zukunft. Da kann und soll man sich sorgen. Und gewarnt wird gern, in Deutschland zumal, wo man eher nicht nur die Vorteile einer Sache sieht.

Wenn Gerald Lembke und Ingo Leipner in Die Lüge der digitalen Bildung. Warum unsere Kinder das Lernen verlernen ihre Überlegungen als »Kontrapunkt zum vorherrschenden Digital-Diskurs«1 verstehen, ist das eine überraschende Wahrnehmung, denn tatsächlich lassen sich ihre Thesen in den Mainstream der Digitalisierungskritik einordnen. Deren Savonarola ist der Hirnforscher und Bestsellerautor Manfred Spitzer, dessen Erkenntnisse über die Folgen des Digitalen sich bündig so zusammenfassen lassen: Es macht dick, dumm, dement, depressiv. Zumal die Nutzung von Social Media bedeutet für Spitzer den direkten Weg in den Untergang der Menschheit: »Mangelnde Selbstregulation, Einsamkeit und Depression sind in unserer modernen Gesellschaft die wichtigsten Stressoren. Sie bewirken das Absterben von Nervenzellen und begünstigen damit langfristig die Entwicklung einer Demenz. Bei unseren Kindern kann die Ablösung echter zwischenmenschlicher Kontakte durch digitale Online-Netzwerke langfristig mit einer Verkleinerung ihres sozialen Gehirns verbunden sein. Langfristig besteht die Gefahr, dass Facebook & Co zur Schrumpfung unseres sozialen gesamten Gehirns führen werden.«2 Wie man sich so ein »Gesamtgehirn« vorstellen soll, wird nicht recht klar, aber natürlich geht es ums Große, Ganze und Gesamte. Spitzers Thesen zum Untergang des Denkens und damit der Bildung haben alle Zutaten eines Horrorfilms: deformierte Hirne überall, unaufhaltsam. Bloß wie eine Bildung verfallen soll, die es, so das Panorama des Schreckens, doch gar nicht mehr geben dürfte, bleibt rätselhaft. Der Mann ist in ernster Sorge, so viel ist klar, und sammelt Argumente, wo immer sie sich finden: »Googelt man die Stichwörter ›digitale Demenz‹ bzw. ›digital dementia‹, dann erhält man in etwas weniger als einer Fünftelsekunde etwa 8000 und auf Englisch 38 000 Einträge.«3 Das ist dann, zum Erweis der Validität der eigenen These, schon ein wenig lustig. Auf der gleichen Seite wird ja das Googeln als Gegenteil von »selbst denken, speichern, überlegen« gegeißelt. »Neue Medien haben wie Alkohol, Nikotin und andere Drogen ein Suchtpotenzial. Computer- und Internetsucht sind hierzulande mittlerweile häufig auftretende Phänomene mit verheerenden Folgen für die Betroffenen.«4

Das ist ohne Zweifel schlimm, nur war die Suchtpolizei immer schon mit erhöhter Wachsamkeit auf Streife, wenn neue Medien auf den Plan traten. Ein verarmter Landjunker aus der Mancha verwechselt aufgrund von zweifellos suchthaftem Konsum von Ritterromanen Fiktion und Wirklichkeit, hält Windmühlen für Riesen und wird von der Wirklichkeit dafür wiederholt schmerzhaft bestraft: Anfang des 17. Jahrhunderts machte Miguel de Cervantes daraus ein ironisch-exemplarisches Meisterstück für eben das Medium, dessen üble Wirkungen doch höchst komisch vor die Augen seiner Leserinnen und Leser geführt wurden, die sich süchtig lasen an den Abenteuern dieses Don Quijote. Heute wäre man froh, mehr Menschen läsen Cervantes, es geht eben immer noch schlimmer. »Ein Computer zu Hause führt zu schlechteren Schulleistungen«5 – derlei Zuspitzungen klingen ungut nach Teufelsaustreibung, denn das Ding muss natürlich weg, wenn das familiäre Gesamtgehirn noch eine Chance haben soll.

Im Vergleich zu Spitzers am Ende nun doch haltloser Ereiferung sind Lembke und Leipner zwar kaum weniger entschieden kritisch, was die Effekte digitaler Medien auf das noch wachsende junge Hirn angeht, bemühen sich jedoch um Differenzierung. Kinder sollen im Matsch spielen und nicht mit Tablets, finden sie, und die Matsche steht für das Konzept »Wirklichkeit«: Kinder brauchen »starke Verwurzelung in der Realität, bevor sie sich in virtuelle Abenteuer stürzen«.6 Wo ein digitales Reizbombardement auf das Belohnungssystem eines noch nicht gereiften Hippocampus losgelassen wird, leidet die Fähigkeit, sich zu konzentrieren, auch mal dicke Bretter zu bohren, nachhaltig – das leuchtet ein. Den Autoren, deren einer immerhin einen Studiengang zu Digitalen Medien leitet, geht es um Ergänzung, um ein sinnvolles Zusammenspiel von realen Erfahrungen und »virtuellen Abenteuern«: Das kann man verstehen, ohne ihren Begriff von Realität weiter problematisieren zu müssen. Irgendwas mit Matsche eben. Die Hirnforscherin Gertraud Teuchert-Noodt bringt die offensichtliche Ambivalenz auf den Punkt: »Einerseits profitieren Erwachsene auf geniale Weise von den Möglichkeiten der digitalen Medien. Andererseits beeinträchtigt Digitalität Babys, Klein- und Schulkinder fatal in der Hirnentwicklung.«7

Für Lembke und Leipner ist es jedenfalls »eine Illusion zu glauben, digitale Medien seien eine sinnvolle Ergänzung, die den Alltag der Kinder bereichert (Komplementarität). In Wirklichkeit rauben sie den Kindern viele Gelegenheiten, sich mit der Welt intensiv auseinanderzusetzen (Substitution).«8 Durchaus einleuchtend erscheint ihre Einschätzung, dass der produktive Umgang mit digitalen Medien ein bereits früher gefestigtes Lernverhalten und die Fähigkeit zu intrinsisch motivierter Konzentration voraussetzt. Es geht nicht nur um Daddeln und Ballern. Auch vermeintlich kindgerechte Lernspiele werden kritisch gesehen, insofern sie das intrinsische Belohnungssystem durch Punkte, Rankings usw. korrumpieren.9 Ihre Wirkungsweise wird nicht anders als toxisch beschrieben: »Ein digitaler Sinnesreiz schleicht sich auf verkürztem Weg direkt ins limbische System ein – und trickst den so wichtigen zweiten Eingangskanal aus, den Gedächtnisspeicher des Großhirns. Er ist für die Korrektur des inneren Antriebs (Motivation) zuständig, um ihn nicht übers Ziel hinausschießen zu lassen. Ohne diese sinnvolle Kontrolle gerät mein ›limbisches Belohnungssystem‹ außer Rand und Band, im schlimmsten Fall entsteht Suchtverhalten.«10

Haben Jörg Dräger und Ralph Müller-Eiselt all die Warnliteratur nicht zur Kenntnis genommen? Für sie ist Die digitale Bildungsrevolution ein entschieden euphorisch begrüßtes Ereignis, Risiken und Nebenwirkungen kommen nur am Rande in den Blick. Die Autoren elektrisiert vor allem die Aussicht auf ein Zeitalter neuer Chancengerechtigkeit: »So wie die industrielle Revolution weit mehr als Produktionsprozesse verändert hat, wird die digitale Revolution nicht nur Lernprozesse, sondern auch gesellschaftliche Strukturen verändern. Wenn bisher Abgehängte Zugang zu günstiger und guter Bildung erhalten, wenn Können mehr zählt als Titel, wenn soziale Netzwerke für die Karriere wichtiger sind als persönliche Beziehungen, dann geraten bisherige Eliten unter Druck: Internet-Unis öffnen Harvard für alle, zwanzig Minuten Computerspielen verhilft zu attraktiveren Jobs, Onlineplattformen machen Kindergärtnerinnen zu Millionären. Das führt zu einer faireren Gesellschaft.«11 Haben wir, bei so viel Verheißungsrhetorik, ein Ironiesignal übersehen? Dräger und Müller-Eiselt, Vorstand und Forscher im Dienste der Bertelsmann Stiftung, geben mit ihrer guten Laune zwar ein Gegengift zum gnarzigen Untergangssound der Digitalkritiker, ihr Lob von Massive Open Online Courses und flipped classrooms12 zeigt aber auch ein offenbar strukturelles Problem des Digital-Diskurses: Die Zuspitzungen gehen recht ungebremst in beide Richtungen, Verheißung und Verdammnis. Kulturkampf eben. Das ist einerseits kaum überraschend, erschwert aber leider eben das, wovon man angesichts des dramatischen Veränderungsdrucks bei gleichzeitiger Riesenratlosigkeit am besten mehr hätte: Gelassenheit, abwägend differenzierte Einlassung. Auch die Offenlegung der eigenen, womöglich wirtschaftlichen Interessen würde das Gewicht der Argumentation nicht mindern. Immerhin verfügt die Bertelsmann Stiftung über die Mehrheitsbeteiligung an einem bedeutenden Medienkonzern, dessen Geschäftsmodelle neben der Produktion und Vermarktung von Unterhaltungsfernsehen mit durchaus beschränktem Bildungsauftrag sicher auch für kommerzielle Angebote und Lernplattformen offen wären, die die Möglichkeiten von Big Data für individualisiert optimiertes Lern-Management nicht nur partizipativ, sondern auch ökonomisch aussichtsreich erscheinen lassen. Es werden ja durch...

Erscheint lt. Verlag 11.5.2020
Verlagsort Rastede
Sprache deutsch
Themenwelt Kunst / Musik / Theater Malerei / Plastik
Schlagworte Ästhetik • Digitalisierung • Klassische Musik • Kultur • Kulturbetrieb • Kulturtheorie • Medientheorie • Museen • Musikindustrie • Rezeption
ISBN-10 3-89684-572-1 / 3896845721
ISBN-13 978-3-89684-572-6 / 9783896845726
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