Licht und Schatten (eBook)

Kinotagebuch 1929–1945
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2020 | 1. Auflage
240 Seiten
Aufbau digital (Verlag)
978-3-8412-2578-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Licht und Schatten - Victor Klemperer
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Eine bemerkenswerte Erstveröffentlichung: der große Chronist über seine Filmleidenschaft. Erstmals vollständig gedruckt: Victor Klemperers Tagebuchnotizen über seine Kinobesuche zu Beginn der Tonfilm-Ära. Von Anfang an erlebt der Cineast mit, wie die technische Neuerung 1929 in Deutschland Einzug hält. Nicht selten geht er mehrmals pro Woche ins Kino. Zunächst kritisch, lässt er sich schon bald von den neuen Möglichkeiten mitreißen. Von den Nationalsozialisten aber wird das Medium immer weiter vereinnahmt, Klemperer schließlich durch das Kinoverbot für »Nichtarier« 1938 ganz aus den Lichtspielhäusern verbannt. Doch nicht einmal das kann ihn fernhalten. Das leidenschaftliche Bekenntnis eines Kinomanen, der uns den Tonfilm als Spiegel deutscher Geschichte mit allen Licht- und Schattenseiten vorführt. »Aus der Geschichtsschreibung über den Alltag der Judenverfolgung im >Dritten Reich< ist das Zeugnis Victor Klemperers nicht mehr wegzudenken.« DIE ZEIT. Zu einer Schattenexistenz gezwungen, erlebte Klemperer im Kino Lichtmomente: »So viel Musik, Humor, Schauspielkunst y todo. Es war mir eine richtige Erlösung.« Victor Klemperer, 1933. Mit einem Vorwort von Knut Elstermann

Victor Klemperers Tagebücher aus den Jahren 1933 bis 1945 machten ihn postum zu einem der wichtigsten Chronisten deutscher Geschichte. Geboren 1881 als Sohn eines Rabbiners, studierte er Philosophie, Romanistik und Germanistik. 1913 folgte die Promotion. Nachdem er als Kriegsfreiwilliger am Ersten Weltkrieg teilgenommen hatte, ging er als Privatdozent nach München, ab 1920 als Professor an die TH Dresden. 1935 wegen seiner jüdischen Herkunft aus seinem Lehramt für Romanistik entlassen, überlebte er das Dritte Reich in einem sogenannten »Judenhaus«. Klemperer, nach dem Krieg wieder ordentlicher Professor, starb 1960 in Dresden.

Klemperer im Kino


Von Knut Elstermann

Für Leserinnen und Leser in der DDR wurde über Generationen hinweg ein kleines unscheinbares Reclam-Heftchen aus der Wissenschaftsreihe zum wahren Erweckungserlebnis. Ich kenne in meinem Freundeskreis niemanden, der es nicht gelesen hätte: »LTI« (Lingua Tertii Imperii – Sprache des Dritten Reiches) des Romanisten Victor Klemperer, das bereits 1947 im Aufbau-Verlag erschien und unzählige Male nachaufgelegt wurde. Mit seinem sprachkritischen Ansatz wirkte es auf uns sehr gegenwärtig und unterschied sich völlig vom ritualisierten offiziellen Umgang mit dem Dritten Reich. Klemperer untersuchte die Hetzreden der Nazis, ihre Marschlieder, aber auch das Durchsickern der brauen Ideologie in die Alltagssprache. Anhand dieser Sprache, die nach Schiller »für dich dichtet und denkt«, deckte er die Mechanismen der Manipulierung, der Brutalisierung, der Entmenschlichung auf. Wir lasen das als einen subversiven Text. In Klemperers Analyse wurden fatale Parallelen im propagandistischen Sprachgebrauch der beiden Systeme deutlich, die ihm in der sowjetischen Zone noch vor Gründung der DDR durchaus auffielen.

Ich verdanke »LTI« bis heute sehr viel, vor allem ein andauerndes Misstrauen gegen Pathosformeln aller Art. Auch über den Autor, über sein Überleben als Jude im Dritten Reich erfuhr man einiges in diesem autobiographisch grundierten Buch, doch dass er einer der wichtigsten Zeitzeugen des 20. Jahrhunderts war, wurde mir – und nicht nur mir – erst durch die Herausgabe seiner Tagebücher ab Mitte der neunziger Jahre klar. Man kann nicht genug bewundern, wie Klemperer in höchster Bedrängnis, in tiefster Erniedrigung, unter ständiger Todesangst Tag für Tag gewissenhaft Zeugnis ablegte, wie anschaulich und sprachmächtig er das Leben in den finsteren Zeiten für die Nachwelt festhielt.

Eine Seite seiner Persönlichkeit kam in diesen umfangreichen Bänden aufgrund notwendiger Kürzungen kaum zum Tragen: seine sympathische Leidenschaft für das Kino. Dieses Buch schließt nun die Lücke und zeigt uns einen wahrhaft Filmliebenden, den es manchmal gleich mehrfach die Woche in die Dresdner Lichtspielhäuser zieht, ohne jeden bildungsbürgerlichen Dünkel. Wie Thomas Mann lässt sich auch Klemperer gern von filmischer Unterhaltungsware, vom Genrekino bezaubern und fesseln. Er liebt Produktionen mit dem Tenor Jan Kiepura und erwartet im Kino keineswegs immer große Kunst, er weiß den Wert von heiterer Ablenkung sehr zu schätzen. Das Kino spendet ihm in Zeiten persönlicher Not und gesellschaftlicher Krisen immer wieder Trost und Hoffnung. »Ich bin so sehr gern im Kino; es entrückt mich«, schreibt er im März 1933. Das Kino schafft in den Tagen voller Depressionen und Zukunftsangst, aber auch in der Melancholie des Älterwerdens eine Gemeinsamkeit mit seiner nichtjüdischen Frau Eva, die ihm mit ihrer Treue das Leben rettete. Sie teilen diese Leidenschaft, gehen zusammen ins Kino und reden ausführlich über das Gesehene, wobei sie sich nicht immer einig sind. Klemperer hält auch Evas abweichende Einschätzungen fest, denn ihm ist die Subjektivität jedes Kunsturteils sehr wohl bewusst.

Mit Klemperer wandern wir durch die Fläche des damaligen Kinoangebots, das wie heute zum größten Teil aus schnell vergessenen Werken bestand. Wer kennt noch Filme wie »Heut’ war ich bei der Frieda«, den Klemperer einen »erotischen Irrungsschwank« nennt, oder »Der nackte Spatz«, dieses seiner Meinung nach »törichte Volksstück«? Eine Filmgeschichtsschreibung, die sich nur von Meisterwerk zu Meisterwerk hangelt, verfehlt das Wesen der Massenattraktion Kino. Mit Klemperer sehen wir das, was die Leute damals täglich im Kino konsumierten, und verstehen diese Produkte als Spiegel der Gesellschaft, als Ausdruck verborgener Wünsche und Sehnsüchte. So packte ihn Fritz Langs technikbegeisterter Science-Fiction-Klassiker »Frau im Mond« von 1929 – mit diesem Jahr, in dem der Tonfilm nach Deutschland kam, setzt die vorliegende Ausgabe ein. Er sieht in ihm ein »Stück Zeitsehnsucht«, eine schöne und treffende Formulierung für die Modernität des epochemachenden Films.

Klemperers Urteil ist unbestechlich, er fordert auch von den Unterhaltungsfilmen beste Qualität und lässt den Schauspielern nichts durchgehen, keine Ungenauigkeit, keine Schludrigkeit. Die Präzision seiner Beobachtungen und Schilderungen ist für einen professionellen Filmjournalisten neiderregend, allein wie er mit wenigen Sätzen die Handlung, das Sujet eines Films anschaulich umreißen kann, erzeugt bei mir höchsten Respekt.

Klemperer ist Liebender und Enthusiast, doch seine Begeisterung verstellt ihm nie den klaren Blick. Als Wissenschaftler analysiert und kategorisiert er die Filme sehr genau, in einer witzigen, funkelnden Sprache, wunderbar etwa seine Einteilung der drei Arten des amerikanischen Filmhumors. Man gewinnt sofort einen Eindruck vom Film, von seiner Atmosphäre, seiner Tonlage. Klemperer ist, ohne es je angestrebt zu haben, ein Meister der pointierten Kurzkritik, dessen Filmbetrachtungen heute jedes Stadtmagazin zieren könnten.

In seinen Texten zum Kino ist Klemperer ein gewissenhafter Chronist, der uns eine Geschichte des Übergangs vom Stumm- zum Tonfilm liefert. Heute mag uns seine heftige Ablehnung der tönenden Filme anachronistisch erscheinen, doch ist sie aus der Zeit heraus völlig verständlich. Der Stummfilm hatte seine höchste Blüte visueller Ausdruckskraft erreicht, er hatte den Reichtum seiner Mittel vervollkommnet und verfeinert, als sein Ende eingeläutet wurde. Ein Meisterwerk wie der deutsche Film »Der letzte Mann« von 1924 konnte seine Geschichte nur mit Bildern, ohne Zwischentitel erzählen. Dagegen mussten die knarrenden Stimmen und überlauten Geräusche der ersten Tonfilme Klemperers Ohr beleidigen. Die meist simple dialogische Erzählweise erschien ihm als ein Rückschritt, obwohl er in dem Titanic-Film »Atlantic« von 1929 immerhin die Stimme von Fritz Kortner als natürlich empfindet und ein »Etappen-Ereignis« erkennt. Die Stimmen aller anderen, vor allem der Frauen, aber seien entstellt, wie »in einen Topf gesprochen«. Über die »Tonfilmseuche« klagt Klemperer und erlegt sich 1930 einen Boykott auf, den er etwa ein Jahr durchhält. Chaplin, der noch lange am Stummfilm festhielt, gelten seine Sympathien. In dessen Film »Lichter der Großstadt« (»City Lights«) sieht er durch die grotesken Klangeffekte sogar eine Verhöhnung des Tonfilms.

Mit den verbesserten technischen Möglichkeiten werden auch Klemperers Urteile freundlicher. »Das lockende Ziel« mit Richard Tauber (1930) ist für ihn zum ersten Mal »ein wirklich guter Tonfilm«. Die künstlerisch bedeutende deutsche Produktion »Der blaue Engel« sieht er erst 1932, also zwei Jahre nach der spektakulären Premiere in Berlin, von der er gehört haben mag. Vielleicht fiel der Tonfilm noch dem selbst auferlegten Boykott zum Opfer, den Klemperer nun glücklicherweise durchbricht. Dank der Wiederaufnahme ins Programm kann er den »Blauen Engel« in Dresden sehen, ist mit der Tonqualität vollauf zufrieden und erkennt als Fachmann die besondere Schönheit des Films trotz der melodramatisch-kitschigen Handlung, wie er zu Recht meint. Marlene Dietrich findet er »fast noch besser als Jannings«. Sein Gespür für überzeugende schauspielerische Leistungen ist untrüglich. Was Klemperer an ihr rühmt, trifft genau die einzigartige Natürlichkeit, die berlinische Frische des aufstrebenden Stars: »Diese selbstverständliche Tönung, nicht gemein, nicht schlecht, nicht sentimental – unbewusst menschlich […].«

Wie so oft würdigt er auch hier die Nebendarsteller. Damals gab es noch Begleithefte zu den Filmen, die über Besetzung und Stab informierten und die von Klemperer als Quelle für seine Aufzeichnungen genutzt wurden. Als er 1940 mit seiner Frau ins »Judenhaus« ziehen und ans Aufräumen gehen muss, trennt er sich von vielen wissenschaftlichen Ausgaben, aber die großen Kinoprogramme »mit ihren amüsanten Bildern« will er unbedingt aufbewahren. Bedauerlicherweise verbrennen sie in den Dresdner Bombennächten im Februar 1945.

Zu den schönsten und eindrucksvollsten Abschnitten dieses Film-Tagebuchs gehören für mich die Schilderungen eines Besuchs in Berlin im Juli 1931. Klemperer, der sich in Dresden zuweilen als »hängen geblieben« empfindet, kennt die deutsche Hauptstadt aus seiner Kindheit und Jugend sehr gut. Er geht mit Eva ins Museum, in die Bauausstellung, sieht im Deutschen Theater Zuckmayers »Hauptmann von Köpenick« mit Max Adalbert, der auch in der Verfilmung von 1931 die Titelrolle spielte. Stück und Inszenierung bewegen ihn tief. »Das Ganze ergreifendstes Zeitbild, erschütterndste Tragikomödie.« Klemperer, dieser assoziative Kulturkritiker, sieht das Stück über die »Macht der Uniform« als eine Art Vorspiel für den von den Rechten damals heftig attackierten amerikanischen Film »Im Westen nichts Neues«. Den ewigen Konflikt des Theaterstücks »Individuum, Staat – Submission, Auflehnung, Naturrecht« findet er in der Remarque-Verfilmung wieder. »Dieser Film war nun das Allererschütterndste der letzten Tage, als Kunstwerk, Dokument u. Erinnerung.« Er, der selbst im Ersten Weltkrieg gekämpft hatte, hebt mit innerer Bewegung die Zurichtung zum Töten hervor, den »Drill auf dem Kasernenhof«, »das mechanische Arbeiten des Maschinengewehrs […], der Mordmaschine«. Die ausführliche Besprechung des pazifistischen Films sagt ebenso viel über das Werk wie über ihn selbst aus, über seine zutiefst menschliche Haltung. Er spürt als einer der Ersten, wie sehr seine humanistischen Werte bedroht sind, als andere sich...

Erscheint lt. Verlag 10.11.2020
Vorwort Knut Elstermann
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Kunst / Musik / Theater Malerei / Plastik
Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik 20. Jahrhundert bis 1945
Geschichte Allgemeine Geschichte 1918 bis 1945
Geisteswissenschaften Geschichte Regional- / Ländergeschichte
Schlagworte Chronist • Cineast • Drittes Reich • Kino • Kinogeschichte • Kinotagebuch • Klemperer • Licht und Schatten • Nationalsozialimus • Tagebücher 1933-945 • Tonfilm • Victor Klemperer • Zeitzeuge • Zeitzeugenbericht
ISBN-10 3-8412-2578-0 / 3841225780
ISBN-13 978-3-8412-2578-8 / 9783841225788
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