FILM-KONZEPTE 56 - Jaques Demy -

FILM-KONZEPTE 56 - Jaques Demy (eBook)

Kristina Köhler (Herausgeber)

eBook Download: EPUB
2020 | 1. Auflage
112 Seiten
edition text + kritik (Verlag)
978-3-86916-871-5 (ISBN)
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Farbe, Tanz, Gesang! Mit seinen 'comédies en-chantées' wie 'Les Parapluies de Cherbourg' (1963) und 'Les Demoiselles de Rochefort' (1966) hat Jacques Demy (1931-1990) das Filmmusical ins Frankreich der 1960er Jahre übertragen und dessen Gestaltungsmittel zu einer modernen Filmsprache ausgearbeitet. Auch dort, wo in seinen Filmen nicht explizit gesungen und getanzt wird, begegnen die Körper einander tänzelnd, sind Räume und Bewegungen sorgfältig orchestriert, und Dekor und Kostüme zelebrieren die Sinnlichkeit von Farbe und Materialität. Auf diese Weise eröffnen Demys Filme Zwischenwelten, die sich stets in flirrender Nähe zu Traum und Märchen bewegen - selbst dann, wenn alltagsnahe Themen wie Streiks, soziale Konflikte oder die Schwangerschaft eines Teenagers verhandelt werden. Anders als für viele seiner Zeitgenossen im Umfeld der Nouvelle Vague setzt Demy dabei weniger auf den ästhetischen Bruch als auf subtile Verschiebungen, die Bekanntes in einen Schwebezustand versetzen. Mit einer Mischung aus Hommage, Pathos und Ironie zitiert er Märchen, Geschichten oder visuelle Stereotype der Film-, Kunst- und Literaturgeschichte und ver- oder überdreht sie zugleich. In diesem doppelten Spiel, so soll der Band zeigen, liegt nicht nur die ästhetische, sondern auch eine (bisher kaum gewürdigte) politische Dimension von Demys Kino.

Kristina Köhler ist Juniorprofessorin für Filmwissenschaft an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Davor war sie Assistentin und Oberassistentin am Seminar für Filmwissenschaft der Universität Zürich, wo sie mit der Arbeit 'Der tänzerische Film. Frühe Filmkultur und moderner Tanz' (2017) promoviert wurde. Sie ist Mitherausgeberin der Film-Konzepte und der Zeitschrift Montage AV. Ihre Forschungsschwerpunkte umfassen Filmgeschichte bzw. Theorie- und Wissensgeschichte des Films, Tanz- und Körperkulturen der Moderne, Medienarchä ologie und Fragen des Medienwandels.

Kristina Köhler ist Juniorprofessorin für Filmwissenschaft an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Davor war sie Assistentin und Oberassistentin am Seminar für Filmwissenschaft der Universität Zürich, wo sie mit der Arbeit "Der tänzerische Film. Frühe Filmkultur und moderner Tanz" (2017) promoviert wurde. Sie ist Mitherausgeberin der Film-Konzepte und der Zeitschrift Montage AV. Ihre Forschungsschwerpunkte umfassen Filmgeschichte bzw. Theorie- und Wissensgeschichte des Films, Tanz- und Körperkulturen der Moderne, Medienarchä ologie und Fragen des Medienwandels.

- Kristina Köhler: Verschiebungen im Sinnlichen. Zum Kino von Jacques Demy. Ein Vorwort
- Simon Frisch: Jacques Demys Poetik der Verschiebung und der Schwerelosigkeit. Eine Lektüre der Anfänge von Lola und La Baie des anges
- Barbara Flückiger: Farbe und Ausdrucksbewegung. Jacques Demys Musicals Les Parapluies de Cherbourg und Les Demoiselles de Rochefort
- Jörg Schweinitz: Mit Susan Sontag im Kino von Jacques Demy. Les Parapluies de Cherbourg als Camp
- Anne E. Duggan: Verque(e)re Märchenwelten. Zur Camp-Ästhetik von Peau d'âne
- Jörg Becker: "Ein Streik und die Liebe." Klassengegensätze, Arbeiterkampf und Liebestod in Une chambre en ville
- Daniel Winkler / Christian Quendler: Show Musical und "cinéma en chanté". Metareferenzialität und
Nostalgie in Trois places pour le 26
- Sophie Rudolph: Demy par Varda. Über das persönliche und filmische Erinnern
- Biografie
- Filmografie
- Autor*innen

Simon Frisch

Jacques Demys Poetik der Verschiebung und der Schwerelosigkeit


Eine Lektüre der Anfänge von LOLA und LA BAIE DES ANGES*

»Es ist schwer zu beschreiben, wie Demy es macht,

seine Filme der Schwerkraft zu entheben.«

(Frieda Grafe, 1965)1

Betrachtet man Anfänge von Filmen genau, so lassen sich daraus meist tiefe poetologische Einsichten gewinnen. Hier soll in diesem Sinne in einem close reading der ersten 20 Minuten der beiden Filme LOLA (LOLA, DAS MÄDCHEN AUS DEM HAFEN, 1961) und LA BAIE DES ANGES (DIE BLONDE SÜNDERIN, 1963) deren Arbeitsweise beobachtet werden, um daraus Erkenntnisse zur Poetik und filmischen Poesie von Jacques Demy zu gewinnen und diese in den Kontext der Nouvelle Vague und des französischen Films jener Zeit zu rücken.

LOLA und LA BAIE DES ANGES sind die beiden ersten abendfüllenden Spielfilme von Jacques Demy. LOLA entsteht im Sommer 1960 (Drehzeit: 7. Juni bis 17. Juli 1960, Erstaufführung in Frankreich: 3. März 1961),2 LA BAIE DES ANGES entsteht 1962 (Drehzeit: 17. September bis 28. Oktober 1962, Erstaufführung in Frankreich: 1. März 1963).3

1. LOLA – vom Anfang her


Möwengeräusche, auf dunkler Leinwand weiße Schrift in Großbuchstaben, ohne Komma, aber mit Punkt am Ende:

»PLEURE QUI PEUT

RIT QUI VEUT.«4

Unten rechts im Eck ein chinesisches Schriftzeichen und kleiner darunter: »PROVERBE CHINOISE«.

Die Schrift verschwindet, dann öffnet sich aus der Mitte eine Irisblende und der Film beginnt mit einer kontinuierlichen, flüssigen Bewegung, die lange anhalten wird: Wir sehen, schwarz-weiß, leicht von oben auf eine leere Küstenstraße einer nordfranzösischen Kleinstadt in Panoramaaufnahme. In der linken Bildhälfte das graue Meer, eine ausgeschaltete Ampel blinkt vorn im Bild, der Himmel ist bedeckt. Mit der Aufziehbewegung der Irisblende senkt sich die Kamera leicht ab. Sie hält einen großen weißen Cadillac mit offenem Verdeck im Kader, der von hinten über die einsame Uferstraße heranfährt, und sinkt mit dem größer werdenden Wagen schließlich auf Augenhöhe; in schlanken, weißen Lettern erscheint über das ganze Bild eingeblendet der Titel: »LOLA«, dazu erklingt Musik von Michel Legrand (Harfe und Geige), dann rechts unten, kleiner und kursiv: »à Max Ophüls …« (mit drei Punkten). Der Wagen biegt – immer noch dieselbe Einstellung – vor der Kamera ein, sodass er in ganzer Breite im Profil zu sehen ist, am Steuer ein Mann mit weißem Cowboyhut. Während die Schrift verschwindet, öffnet sich die Tür des Wagens, die Musik verklingt und die Schreie der Möwen sind wieder zu hören. Zügig, aber ohne Eile, steigt der Mann mit dem Cowboyhut aus dem Auto – wir sehen seinen weißen Anzug und seine weißen Slipper und hören das satte Geräusch der Autotür. Er läuft rasch ein paar Schritte zur Straßenkante, von wo er hinaus aufs Meer schaut. Die Bewegung verlagert sich in rasch wechselnde Überblendungen: das Gesicht des Mannes, nah, leichte Untersicht (nicht alt, Typ gemachter Mann, mit Sonnenbrille, Zigarre im Mund), dann eine Überblendung auf das Meer (ein leeres, graues Bild aus Strand, Meer und Himmel), von dort wieder eine Überblendung nah aufs Gesicht und gleich zurück aufs Auto, in das er, während das Gesicht noch ausgeblendet wird, schon wieder einsteigt. Er wirft sich in den Sitz – erneut das satte Geräusch der Autotür – und in zügig wechselnden Überblendungen erscheinen die Credits im Bild: »Anouk Aimée«, »Marc Michel«, »Jacques Harden«, »Alan Scott« usw., dazu hebt der zweite Satz aus Beethovens 7. Sinfonie an.5 In Untersicht sehen wir das riesige Auto zurückstoßen und die Kamera beginnt, langsam am Boden vor ihm her zu fahren. Ihr folgend fädelt der Wagen sich wieder auf die leere Uferstraße ein. Solange die Credits in einer gleichmäßigen Bewegung laufen, zeigt der Film in wechselnden Bildern ebenfalls Überblendungen: den weißen Cadillac und seinen Fahrer mit dem riesigen weißen Cowboyhut, mal von der Seite, mal von hinten, mal fährt die Kamera seitlich mit …

LOLA (LOLA, DAS MÄDCHEN AUS DEM HAFEN, 1961)

Aus den Überblendungen der Bilder und der Schriftzüge entsteht eine flüssige, kontinuierliche Bewegung, in der der Film, getragen von Beethovens Musik, an der französischen Atlantikküste entlang in seine Welt hineingleitet. Mit der letzten Texteinblendung »Un film de Jacques Demy« hebt sich die Kamera etwas und entlässt den Wagen nach hinten in eine Küstenstadt (La Baule), zugleich klingt die Beethoven-Musik aus und die Schrift verschwindet, aber das Bild bleibt noch kurz stehen. Dann ein harter Schnitt: eine Landstraße und dazu nervöse Percussion-Musik. Der Cadillac rast jetzt in einem schnellen Schwenk von rechts nach links durch das Bild. Schnitt: nah im Profil der Fahrer, noch ein Schnitt: das Auto wieder von rechts nach links durch das Bild, dann Umschnitt: der Fahrer schräg von hinten und wieder im Profil usw.6 Nur noch Schnitte jetzt, keine Überblendungen mehr. Das Gleiten ist vorbei, auch die Aufnahmewinkel sind extremer, alles ist eiliger, härter. Das ist kein Vorspann mehr, sondern Handlung. Die Sequenz erinnert ein wenig an die Autofahrt am Beginn von À BOUT DE SOUFFLE (AUSSER ATEM, 1960), in der Michel Poiccard auf der Landstraße von Marseille nach Paris fährt – und es wird im Verlauf des Films noch einige Erinnerungen an À BOUT DE SOUFFLE geben.7 Der Wagen hat mit dem Ende der Credits in La Baule die Küste verlassen und fährt durch Landschaften des Landesinneren. Schließlich rast er am Ortsschild von Nantes vorbei in die Stadt.8 Hier bleibt die Kamera erneut zurück und lässt den Wagen nach hinten ins Bild hinein fahren. Aber der Film entlässt ihn noch nicht. Das nächste Bild: eine Straße am Hafen, Kräne und Verladegerät im Hintergrund, eine fröhliche Gruppe junger Matrosen in weißen Anzügen überquert die Fahrbahn. Da rast der Cadillac heran, Bremsen quietschen, der Wagen stoppt und auch die Percussion verstummt. Die Matrosen sind aufgebracht, die Bewegung ist jetzt in der Gruppe. Ein blonder Junge (Alan Scott) – Gesicht in Nahaufnahme – pöbelt: »Where did you learn to drive, Cowboy?!« (der erste Dialog). Dann fährt der Wagen weiter, auch die Percussion setzt noch einmal ein, aber leiser und langsamer, eine andere Gangart, nicht mehr rasend, sondern Stadtverkehr. Noch eine vorerst letzte Aufnahme von dem Cadillac: Er kurvt zwischen Häusern in den Straßen der Stadt herum, auch hier wieder eine Bewegung von rechts nach links (so deutlich immer wieder gegen die Leserichtung – eine Rückkehr?). Dann ein Schnitt und ein völlig neues Bild: Wir sehen einen jungen Mann mit Buch (Marc Michel),9 der von einer Couch hochschreckt – war alles ein Traum? Der junge Mann steht auf und sieht aus dem Fenster, unten fahren Autos vorbei. Ein Bild weiter läuft er schon eilig über die Straße in ein kleines Café hinein, im Hintergrund wieder (dieselben?) Hafenanlagen. Die Musik trommelt noch, aber leiser, fast unhörbar mischt sie sich mit den Umgebungsgeräuschen. Eine Soundbrücke stiftet Raum- und Zeitverhältnisse. Wir verstehen: Wir befinden uns noch in der Stadt, in Nantes, in die das Auto gerade gefahren ist. Es wirkt sogar so, als habe das Auto den Jungen hochschrecken lassen.

Subtil dosiert der Film die filmischen Mittel. Er hätte den Cadillac auch vor dem Fenster des Jungen oder etwas später vor dem Café vorbeifahren lassen können, um sicherzugehen, dass die Raum-Zeit-Einheit verstanden wird. Aber der Film sucht offensichtlich solche eindeutigen Verknüpfungen nicht. Er legt die Beziehungen schwebend an. Der Cadillac kann ein Traumbild sein. Von Beginn an übt der Film unsere Sinne in feiner Wahrnehmung. Schon in der zweimaligen Einfahrt des Autos in den Film – zuerst in Überblendungen und dann in Schnitten – arbeitet die Inszenierung mit feinen Verschiebungen: Indem er nach den Credits noch an ihm festhält, nimmt der Film den Cowboy im Cadillac als Figur in die Handlung auf. Zugleich klingen in dem wundersamen Bild zahlreiche Themen und Motive an: Der weiße Cowboy ist ein fantastisches Märchenbild – ein weißer Reiter. Und zugleich ein klassisches Westernmotiv: ein Fremder kommt in eine Stadt. Aber der Reiter kommt im Auto – und was für ein Schlitten! Aber nicht auf dem Highway, es ist die Route Nationale in der französischen Provinz. Und er fährt – das ist aber schon eine Feinheit – gegen die Leserichtung. Viele kleine Verschiebungen charakterisieren die Arbeitsweise des Films von seinem Anfang her.

Der Film bleibt im Café in der fließenden Bewegung, die er vom Anfang her hat, denn der junge Mann hat sie wie einen Staffelstab aufgenommen und in das Café hineingetragen. Dort geht er direkt zum Tresen. Die Besitzerin Claire (Catherine Lutz),10 begrüßt ihn mit Namen aus einem hinteren Raum: »Monsieur Roland«.11 Und sie mahnt: Er werde zu spät aus der Mittagspause kommen (ein Zeitindex), er riskiere, wieder seine Stelle zu verlieren (eine Charakterisierung der Figur). Die Atmosphäre ist familiär. Roland bestellt einen Kaffee und entgegnet, es sei ihm egal, er wolle frei sein und unbeaufsichtigt. Nun verklingen die letzten Trommelrhythmen. Den weißen Cadillac sehen wir jetzt eine ganze Weile nicht mehr, eigentlich bis zum...

Erscheint lt. Verlag 5.3.2020
Reihe/Serie FILM-KONZEPTE
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Kunst / Musik / Theater Film / TV
Schlagworte Filme-Macher • Film-Konzepte • Filmmusical • Jaques Demy • Kino • Les Demoiselles de Rochefort • les parapluies de Cherbourg • Regisseur
ISBN-10 3-86916-871-4 / 3869168714
ISBN-13 978-3-86916-871-5 / 9783869168715
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