Ein Lied für die Vermissten (eBook)

Roman
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2020 | 1. Auflage
432 Seiten
Berlin Verlag
978-3-8270-8005-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Ein Lied für die Vermissten -  Pierre Jarawan
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»Schon ein Sandkorn genügt, um eine große Geschichte daraus zu machen.« Als 2011 der Arabische Frühling voll entfacht ist, löst der Fund zweier Leichen auch in Beirut erste Unruhen aus. Während schon Häuser brennen, schreibt Amin seine Erinnerungen nieder: an das Jahr 1994, als er als Jugendlicher mit seiner Großmutter in den Libanon zurückkehrte - zwölf Jahre nach dem Tod seiner Eltern. An seine Freundschaft mit dem gleichaltrigen Jafar, mit dem er diese verschwiegene Nachkriegswelt durchstreifte. Und daran, wie er schmerzhaft lernen musste, dass es in diesem Land nie Gewissheit geben wird - weder über die Vergangenheit seines Freundes, noch über die Geschichte seiner Familie. Nach dem internationalen Bestseller Am Ende bleiben die Zedern führt auch Pierre Jarawans neuer Roman in eine Welt voller unvergesslicher Figuren, sinnlicher Eindrücke und Emotionen, einfühlsam, spannend und virtuos verknüpft mit der bewegten Geschichte des Nahen Ostens. »Pierre Jarawan schreibt temporeich und klar und mit einer erzählerischen Souveränität, die den Leser vorantreibt.« The Guardian »Pierre Jarawan ist ein Hakawati, ein Geschichtenerzähler. Seine expressive Bildsprache, schwelgerisch durchzogen von Melancholie, lässt fremde Welten spürbar werden.« Lalena Hoffschildt/Hugendubel am Stachus, München »Mit beeindruckender Leichtigkeit entwirft Pierre Jarawan eine Geschichte, die so lebendig aus den Seiten strahlt, dass ich mich beim Lesen tief eingehüllt gefühlt habe in diese besondere Atmosphäre aus Stimmen, Duft und Licht. Eine Welt, aus der man gar nicht mehr auftauchen möchte - eine Welt voller Figuren, denen man bis zum letzten Absatz folgen will. Scheinbar mühelos verbindet er dabei persönliches Erleben seiner Charaktere mit weltgeschichtlich Großem, verwebt wundersam Märchenhaftes mit politisch Hochbrisantem. 'Ein Lied für die Vermissten' ist soghaft spannend und atmosphärisch berauschend - und all das in einer Sprache, die wundervoll klar ist und genau meint, was sie sagt. Was für ein begnadeter Erzähler!« Maria-Christina Piwowarski/Buchhandlung ocelot, Berlin

Pierre Jarawan wurde 1985 als Sohn eines libanesischen Vaters und einer deutschen Mutter in Amman, Jordanien, geboren, nachdem diese vor dem Bürgerkrieg geflohen waren. Im Alter von drei Jahren kam er mit seiner Familie nach Deutschland. 2012 wurde er Internationaler Deutschsprachiger Meister im Poetry Slam. Sein Romandebüt »Am Ende bleiben die Zedern« (2016), für das er Auszeichnungen und Preise erhielt, war ein Sensationserfolg und ist heute, übersetzt in viele Sprachen, ein internationaler Bestseller. Im März 2020 erschien sein lang erwarteter neuer Roman »Ein Lied für die Vermissten«. Pierre Jarawan lebt in München.

Pierre Jarawan wurde 1985 als Sohn eines libanesischen Vaters und einer deutschen Mutter in Amman, Jordanien, geboren, nachdem diese vor dem Bürgerkrieg geflohen waren. Im Alter von drei Jahren kam er mit seiner Familie nach Deutschland. Seit 2009 zählt er zu den erfolgreichsten Bühnenpoeten im deutschsprachigen Raum. 2012 wurde er Internationaler Deutschsprachiger Meister im Poetry Slam. Sein Romandebüt "Am Ende bleiben die Zedern" (2016), für das er Auszeichnungen und Preise erhielt, war ein Sensationserfolg und ist heute, übersetzt in viele Sprachen, ein internationaler Bestseller. Pierre Jarawan lebt in München.

Ein Haus mit vielen Zimmern


Eine Geschichte erscheint in jeweils anderem Licht, je nachdem wo man sie zu erzählen beginnt. Diese hier ließe sich mit den beiden Särgen eröffnen, die eigentlich einfache Holzkisten waren und die man vor den Augen der Öffentlichkeit von einer Baustelle trug. Oder mit der herabfallenden Asche in einer Straße, als kurz danach die ersten Häuser brannten, als zu befürchten war, alles würde sich wiederholen. Sie könnte auch mit einem Bild beginnen: Großmutter und ich vor einer zugewucherten Mauer, und sie sagt: Hier. Hier ist es passiert. Oder mit einem anderen Bild, einer Zeichnung, die mir ein Mann, der später berühmt wurde, schenkte, als ich dreizehn war. Sie könnte auch damit beginnen, dass ich mir die Linie bewusst mache, in der das Mädchen sich über den Flohmarkt und später von der Geisterbahn weg bewegte, bevor es aus meinem Leben verschwand. Oder mit dem Blick auf eine Hand, die einen Mantel entgegennimmt, in einem alten und schönen Theater. Oder aber, und das erscheint mir richtig, genau in der Mitte. Mit einem Tag vor fünf Jahren. Denn alles ist mit allem verbunden. Und soweit ich weiß und sagen kann, war dies ein Tag, der gleichzeitig in die Zukunft und in die Vergangenheit wies.

2006

Tausend Bomben waren auf Beirut gefallen, und ich war endlich angekommen. Selbst hier in der Abgeschiedenheit des Hauses, in das ich mich zurückgezogen hatte, konnte man sie hören: Jets, die in großer Entfernung über den Himmel jagten, und dann, verzögert und abgeschwächt, das Grollen von Detonationen. Ihre Schallwellen legten die Strecke aus der Stadt bis herauf ins Gebirge innerhalb von Sekunden zurück. Sie stiegen aus dem Tal auf, wälzten sich über die einsamen Hänge und über die Steinmauern meines Hauses hinweg. Ein Zittern der Luft. Die hohen Zypressen vor dem Fenster schwankten. Vögel stoben aus den Zweigen. Wäre es nicht Sommer gewesen, taghell und nur vereinzelte Wolken am Himmel, ich hätte es für Donner gehalten. Ein Sommergewitter.

Ich stand am Küchenfenster und sah den Vögeln zu, wie sie in Schwärmen über den Himmel zogen. Sie legten sich schräg in den Wind, dicht an dicht wie ein geflochtenes Band, stoben über den Hügeln auseinander und verschwanden aus meinem Blick. Ich legte das Werkzeug beiseite und ging hinaus in den Garten. Es war August. Die Luft voller Wärme und Feuchtigkeit. Ein Geruch von Holz, Harz und Laub über dem Garten. Das Haus lag, von zwei Hügeln umgeben, in einer Senke, und ein schmaler Weg, dessen Einfahrt man leicht übersah, führte vom Ende des Anwesens aus in gerader Linie einige Hundert Meter weit auf eine Straße zu. Ich durchquerte den Garten, ging in Hausschuhen den Weg entlang und warf einen Blick in den Briefkasten. Ich hatte ihn blau angestrichen, damit er nicht zu übersehen war, denn das Haus lag versteckt hinter Bäumen. Der Briefkasten war leer. Wieder eine Detonation. Schwach und leise und weit entfernt.

Ich ging zurück ins Haus, setzte eine Kanne Kaffee auf und trat wieder in den Garten, wo ich mich auf einem morschen Stuhl niederließ, den Wind und Wetter lange bearbeitet hatten und der unter meinem Gewicht verdächtig knackte. Eine Eidechse huschte unter einem Stein hervor und verharrte zwei Armlängen entfernt in einem Sonnenfleck.

»Mach dir keine Sorgen«, sagte ich, »hier sind wir sicher.«

 

Was mich an Nachrichten aus Beirut erreichte, waren kurze, irrlichtgleiche Anekdoten, die ich aufschnappte, wenn ich zweimal in der Woche das Grundstück verließ. Etwa eine Viertelstunde Fußmarsch von der Einfahrt entfernt gab es eine größere Kreuzung. Ein Mann namens Walid kam dort regelmäßig mit seinem Pick-up hin, von dessen Ladefläche er Brot, Reis, Gemüse und Medikamente verkaufte, die die Menschen aus der Umgebung bei ihm bestellten. Die Häuser hier oben lagen so weit auseinander, dass es ihn Stunden gekostet hätte, sie einzeln anzufahren, und irgendwann vor meiner Zeit hatte man sich darauf geeinigt, dass dieser Punkt in etwa in der Mitte lag.

Die Tage, wenn ich vor zur Kreuzung ging, waren im Grunde die einzigen, an denen ich auf meine Nachbarn traf. Viele von ihnen waren hier geboren. Sie grüßten mich, wir unterhielten uns. Und mehr als einmal luden sie mich zu sich ein. Ein Abendessen, ein kühles Getränk in der Sommerhitze, höfliche Gespräche. Ich glaube, sie misstrauten mir. Hier oben in den Häusern aus der Zeit der Jahrhundertwende, fast zwei Autostunden von Beirut entfernt, lebte sonst niemand unter dreißig. Nur ein Sonderling also konnte dieses Haus in den Bergen gekauft haben. Dieses Haus mit dem verwilderten Land, das es umgab.

Während Walid seine Ware verteilte, ließ er das Radio laufen. So drängten sich seit Wochen Nachrichten in die Gespräche: ein Luftangriff auf Kana. In Beirut wurden die Viertel der Hisbollah beschossen, die sich in Wohnhäusern unter Zivilisten verschanzte. Das Ölkraftwerk in Dschije war bei Kampfhandlungen beschädigt worden, Tausende Tonnen Öl flossen seitdem ins Meer.

»Vollkommen schwarz ist die See vor Byblos«, ergänzte Walid, der gerade zwei Kartoffelsäcke von der Ladefläche hob, um sie einer Frau auf die Sackkarre zu reichen, »ein schwarzer Teppich, und was den Fischern ins Netz geht, ist bereits tot.«

Ich stand da und versuchte, mich an die geschwenkten Fahnen, den Jubel, die Tänze zu erinnern. All das war erst ein knappes Jahr her. Freudentränen waren in aller Öffentlichkeit vergossen worden, als die syrische Armee abgezogen war. Nach dreißig Jahren militärischer Präsenz. Nach Wochen der Proteste und des öffentlichen Drucks waren die letzten Panzer über die Grenze gerollt, dorthin zurück, woher sie gekommen waren. Ich war an jenem Tag durch Beirut gelaufen. Die Stadt eingehüllt ins letzte Licht des Tages, dunkelblau, fast Nacht, die langen Schatten der Häuser und in diesen Schatten Menschen, großes Gedränge, ein Gefühl von statischem Knistern. Ich sah die Leute einander umarmen, hörte sie rufen: Endlich! Endlich können wir aus eigener Kraft unser Land führen! Es war wie ein Lied, fröhlich und hoffnungsvoll, und ich weiß noch, dass ich dachte: Vielleicht, vielleicht ist dies der Anfang von etwas Gutem, auch für mich.

»Wir werden die Hisbollah vernichten und den Libanon um zwanzig Jahre zurückwerfen«, zitierte Walid jetzt einen israelischen General. »Das haben sie gesagt. Zwanzig Jahre. Den Flughafen, die großen Straßen und Brücken haben sie zerstört. Sogar das Meer ist abgeriegelt.« Walids Gestalt hob sich gegen den Himmel ab. Von der Ladefläche aus sah er auf uns herab, unser Bote aus der Stadt.

 

In der kurzen Zeit, die ich hier oben wohnte, hatte meine Unruhe abgenommen. Und immer häufiger gab es überraschende Momente heller Zuversicht, ausgelöst durch nebensächlichste Dinge: wanderndes Licht an der Wohnzimmerwand, das genau zur Mittagszeit das Bild erhellte, das ich dort aufgehängt hatte. Oder der stille Anblick der Landschaft, die sich verschwenderisch leer unter einem strahlend blauen Himmel über Hügel, Talfalten und Bergketten zog. Oder wenn ich unverhofft an ein vergessenes Lied denken musste, das plötzlich mit Text und Melodie wieder vor mir stand. Ich wachte nachts nur noch selten auf, fühlte mich meist sogar ausgeruht, und es fiel mir schwer, mir in Erinnerung zu rufen, wie es gewesen war, als ich glaubte, der Boden müsse jeden Moment unter meinen Füßen einbrechen und mich mit in eine Tiefe reißen, in der ich nie aufhören würde zu fallen.

Sicher hatte es auch mit den vielen Dingen zu tun, die es rund um das Haus zu erledigen gab. Ich verbrachte meine Tage damit, das Holz der Fensterläden abzuschleifen, die früher einmal blau gestrichen worden waren, überprüfte Ziegel an Teilen des Dachs, zog Schrauben in Türrahmen und Regalen nach, wischte Staub von Möbeln, von jeder Schräge, jedem schiefen Fenstersims und fiel abends erschöpft ins Bett. Das Haus verwandelte mich, so wie es sich verwandelt hatte. Früher war das Grundstück weitläufig und gepflegt gewesen, doch über die Jahre war die Natur näher herangerückt, hatten Unkraut und dichtes Gras die Herrschaft über die Einfahrt und den Weg zur Straße übernommen, bewuchs Efeu die alten Mauern und Fensterläden, wucherten Hecken und Bäume in alle Richtungen aus.

An manchen Abenden, wenn ich vor dem Haus saß, während die Zypressen wie Schattentänzer in der Dämmerung wogten, hatte ich das befreiende Gefühl, nichts, weder Moskitos noch die fernen Kriegsgeräusche, könnte die Abgeschiedenheit, die ich hier gefunden hatte, jemals stören.

 

An jenem Tag im August 2006 wartete ich im Garten darauf, dass es Mittag wurde. Walid kam immer relativ pünktlich zur Kreuzung, und auch ich hatte wieder ein paar Dinge bei ihm bestellt. Seit die Israelis das Land großflächig unter Feuer nahmen, um, wie sie sagten, Rache zu üben für die Entführung zweier Soldaten, hatte er uns gebeten, in größeren Mengen zu bestellen, da er nicht wusste, ob die Strecke in nächster Zeit noch zu befahren sein würde.

Als ich aus meinen Gedanken auftauchte, ließ ein dunkler Fleck mich stutzen. Er wölbte sich auf der Steinplatte neben mir, wo ihn Fliegen umkreisten. Wie lange hatte ich über Walid und dessen düstere Geschichten nachgedacht? Vor wenigen Augenblicken noch hatte sich hier die Eidechse in der Sonne gewärmt. Jetzt war sie verschwunden, und nur der Fleck und die Fliegen verrieten, dass etwas passiert sein musste. Ich fand nichts, das auf einen Kampf hingedeutet hätte, nichts, das die Abwesenheit der Eidechse erklärte. Nur diese leere Stelle.

Den Vogel nahm ich wahr, weil er mich blendete. Er saß auf dem obersten Ast des Apfelbaums, seine Federn reflektierten das Sonnenlicht. Ein Shikra. Wie schön er war! Und wie groß! Etwas...

Erscheint lt. Verlag 2.3.2020
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Kunst / Musik / Theater Malerei / Plastik
Geisteswissenschaften Religion / Theologie Christentum
Schlagworte Beirut • Bestseller 2020 • Bestseller Autor • Comics • Flüchtlingsthematik • Freundschaft • Geheimnis • Geschichte • Heimkehr • Heranwachsender • Israel-Palästina-Konflikt • Kunst • libanesische Geschichte • libanesischer Bürgerkrieg • Libanon • Liebe • Naher Osten • Nahost-Konflikt • Religionskonflikte • Syrien • Tod • Verlust • Weltreligionen
ISBN-10 3-8270-8005-3 / 3827080053
ISBN-13 978-3-8270-8005-9 / 9783827080059
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