"Dunkel ist das Leben"

Liedsinfonien zur Vergänglichkeit von Mahler bis Penderecki

(Autor)

Buch | Softcover
320 Seiten
2020
Edition Gorz (Verlag)
978-3-938095-27-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

"Dunkel ist das Leben" - Siglind Bruhn
33,00 inkl. MwSt
Vorwort

Dieses Buches widmet sich der Darstellung von fünf Liedsinfonien, die inhaltlich um die Themen Tod, Vergänglichkeit und Vergeblichkeit kreisen. Die Erläuterungen zu den Werken vermitteln zunächst Hintergründe zur Entstehung der Kompositionen. In den einzelnen Kapiteln folgen kurze Interpretationsvorschläge für das im Sinfoniesatz gesungene Gedicht und eine Beschreibung des musikalischen Geschehens sowie eventueller klanglicher Besonderheiten. Auffällige instrumentale Motive und rhythmische Muster werden mit Notenbeispielen illustriert. Abrundende Beobachtungen ermöglichen einen Überblick über Struktur und Verlauf des jeweiligen Sinfoniesatzes.
Das Zentrum jedes Kapitels bildet eine vollständige, ein- oder mehrseitige Abbildung von Melodie und Text des Gesangsparts. Diese Exzerpte aus der Partitur sind zum Mitlesen beim Anhören der Werke gedacht und sinngemäß gestaltet: Wo immer möglich, entspricht jede Notenzeile einem ganzen oder halben Vers. Einrückungen der Zeilen weisen auf strukturelle Entsprechungen, vertikal angeglichene Muster auf identische Rhythmen. Wo melodische Analogien wesentlich erscheinen, sind diese durch Markierungen gekennzeichnet.
In anderer Hinsicht handelt es sich bei diesen Illustrationen allerdings tatsächlich um Exzerpte: Im Interesse der Übersichtlichkeit wird auf alle Angaben zu Tempo und Lautstärke sowie deren Veränderungen im Verlauf des Sinfoniesatzes verzichtet. Auch Taktangaben bezeichnen, wo sie verwendet werden, nur das Grundmetrum eines Satzes oder Abschnitts; Einschübe abweichender Takte werden nicht ausgewiesen. Vorzeichen eröffnen die Sätze Mahlers und wurden für vereinzelte ausdrücklich tonale Zeilen der späteren Werke hinzugefügt. Dagegen werden Versetzungszeichen in Abschnitten, deren Bezug auf eine bestimmte Tonart weniger ausgeprägt ist, wie in den dazugehörigen Partituren vor die betreffende Note gesetzt, mit Gültigkeit jeweils nur bis zum nächsten Taktstrich.
Im Haupttext wurde weitestmöglich auf Fachterminologie verzichtet. Detailangaben für Musiker und andere Leser, die Zugang zum Notentext haben und das Erwähnte vergleichen möchten, finden sich in den Fußnoten. Einige musikalische Begriffe sind jedoch im Text unverzichtbar, da sie kein deutsches Äquivalent haben, das gleichzeitig griffig und unmissverständlich wäre. Dazu bietet der Anhang ein Glossar.
Vorwort

Dieses Buches widmet sich der Darstellung von fünf Liedsinfonien, die inhaltlich um die Themen Tod, Vergänglichkeit und Vergeblichkeit kreisen. Die Erläuterungen zu den Werken vermitteln zunächst Hintergründe zur Entstehung der Kompositionen. In den einzelnen Kapiteln folgen kurze Interpretationsvorschläge für das im Sinfoniesatz gesungene Gedicht und eine Beschreibung des musikalischen Geschehens sowie eventueller klanglicher Besonderheiten. Auffällige instrumentale Motive und rhythmische Muster werden mit Notenbeispielen illustriert. Abrundende Beobachtungen ermöglichen einen Überblick über Struktur und Verlauf des jeweiligen Sinfoniesatzes.
Das Zentrum jedes Kapitels bildet eine vollständige, ein- oder mehrseitige Abbildung von Melodie und Text des Gesangsparts. Diese Exzerpte aus der Partitur sind zum Mitlesen beim Anhören der Werke gedacht und sinngemäß gestaltet: Wo immer möglich, entspricht jede Notenzeile einem ganzen oder halben Vers. Einrückungen der Zeilen weisen auf strukturelle Entsprechungen, vertikal angeglichene Muster auf identische Rhythmen. Wo melodische Analogien wesentlich erscheinen, sind diese durch Markierungen gekennzeichnet.
In anderer Hinsicht handelt es sich bei diesen Illustrationen allerdings tatsächlich um Exzerpte: Im Interesse der Übersichtlichkeit wird auf alle Angaben zu Tempo und Lautstärke sowie deren Veränderungen im Verlauf des Sinfoniesatzes verzichtet. Auch Taktangaben bezeichnen, wo sie verwendet werden, nur das Grundmetrum eines Satzes oder Abschnitts; Einschübe abweichender Takte werden nicht ausgewiesen. Vorzeichen eröffnen die Sätze Mahlers und wurden für vereinzelte ausdrücklich tonale Zeilen der späteren Werke hinzugefügt. Dagegen werden Versetzungszeichen in Abschnitten, deren Bezug auf eine bestimmte Tonart weniger ausgeprägt ist, wie in den dazugehörigen Partituren vor die betreffende Note gesetzt, mit Gültigkeit jeweils nur bis zum nächsten Taktstrich.
Im Haupttext wurde weitestmöglich auf Fachterminologie verzichtet. Detailangaben für Musiker und andere Leser, die Zugang zum Notentext haben und das Erwähnte vergleichen möchten, finden sich in den Fußnoten. Einige musikalische Begriffe sind jedoch im Text unverzichtbar, da sie kein deutsches Äquivalent haben, das gleichzeitig griffig und unmissverständlich wäre. Dazu bietet der Anhang ein Glossar.

Siglind Bruhn, Konzertpianistin und Musikanalytikerin/Musikwissenschaftlerin, arbeitet seit 1993 als Life Research Associate am Institute for the Humanities der University of Michigan/Ann Arbor, USA. In zahlreichen Veröffentlichungen widmet sie sich vor allem den Beziehungen der Musik des 20./21. Jahrhunderts zu Literatur, Kunst und Religion. Für ihren amerikanischen Verlag Pendragon Press betreut sie die Buchreihe “Interplay: Music in Interdisciplinary Dialogue”. 2001 wurde sie in die Europäische Akademie der Wissenschaften und Künste gewählt; 2008 verlieh ihr die Linnaeus-Universität in Schweden die Ehrendoktorwürde.

Vorwort
Einleitung: Die Liedsinfonie

Gustav Mahler: Das Lied von der Erde. Eine Symphonie
1. Das Trinklied vom Jammer der Erde (Tenor)
2. Der Einsame im Herbst (Alt)
3. Von der Jugend (Tenor)
4. Von der Schönheit (Alt)
5. Der Trunkene im Frühling (Tenor)
6. Der Abschied (Alt)
Sechs Lieder – eine Sinfonie

Alexander Zemlinsky: Lyrische Symphonie
1. Langsam (Bariton)
2. Lebhaft (Sopran)
3. Adagio (Bariton)
4. Langsam (Sopran)
5. Feurig und kraftvoll (Bariton)
6. Sehr mäßig (Sopran)
7. Molto Adagio (Bariton)
Rückblick und Gesamtschau

Dmitri Schostakowitsch: Sinfonie Nr. 14 op. 135
1. De profundis (Bass)
2. La Malagueña (Sopran)
3. Loreley (Sopran, Bass)
4. Le Suicidé / Der Selbstmörder (Sopran)
5. Les Attentives I / Auf Wacht (Sopran)
6. Mais Madame / Sehen Sie, Madame! (Sopran, Bass)
7. À la Santé / Im Kerker der Santé (Bass)
8. Réponse des Cosaques [...] /Antwort der Saporoger
Kosaken an den Sultan von Konstantinopel (Bass)
9. An Delwig (Bass)
10.Der Tod des Dichters (Sopran)
11. Schlussstück (Sopran, Bass)
Zwischen Fatalismus und Auflehnung

Krzysztof Penderecki: 8. Sinfonie – Lieder der Vergänglichkeit
1. Nachts (Mezzosopran, Chor), Ende des Herbstes I (Chor)
2. Der brennende Baum (Sopran, Mezzosopran, Bariton, Chor)
3.Bei einer Linde (Bariton) und 4. Flieder (Bariton)
5. Frühlingsnacht (Bariton), Ende des Herbstes II (Chor)
6.Sag’ ich’s euch, geliebte Bäume (Sopran, Chor)
7. Im Nebel (Sopran, Chor)
8. Der Blütengarten (Bariton)
9.Abschied (Sopran, Mezzosopran)
10.Vergänglichkeit (Sopran), Ende des Herbstes III (Chor)
11.Herbsttag (Bariton)
12. O grüner Baum des Lebens (Sopran, Mezzo, Bariton, Chor)
Eine musikalische Autobiografie

Epilog
Krzysztof Penderecki: 6. Sinfonie – Chinesische Lieder
1.Die geheimnisvolle Flöte
2.In der Fremde
3.Auf dem Flusse
4.Die wilden Schwäne und 5. Verzweiflung
6.Mondnacht
7.Nächtliches Bild
8.Das Flötenlied des Herbstes
Sehnsuchtsbilder einer verzauberten Natur

Anhang I: Schostakowitschs russische Textvorlagen
Anhang II: Pendereckis stark verkürzte Textvorlagen
Illustrationen
Musikbeispiele
Abbildungen
Gedichte
Bibliografie
Glossar
Index
Über die Autorin

Einleitung: Die Liedsinfonie In seinem Aufsatz zur “Geschichte der Symphonie mit Singstimmen”, einem Beitrag zu der von Renate Ulm herausgegebenen Anthologie zu Mahlers Sinfonien, schreibt Christian Martin Schmidt zum Hintergrund der durch Mahlers Lied von der Erde begründeten Sonderform: "Das System der Gattungen im 19. Jahrhundert war keineswegs so klar bestimmt, wie es einer klassifizierenden oder didaktisch ausgerichteten Rückschau erscheinen mag. [...] Selbst die Reinheit der Gattung Symphonie, deren Merkmale klar zu sein scheinen (Orchesterwerk, zyklische Folge von vier durch Form, Tempo und Charakter bestimmten Sätzen) war von Anfang an durch einen ästhetischen Rechtfertigungszwang bedroht." Damit nicht genug. An der Sinfonie als reiner Instrumentalmusik wurde oft das Fehlen einer semantischen Dimension bedauert. Erste Kompositionen, die dem entgegenzusteuern suchten, waren die “sinfonischen Dichtungen”, in denen eine zugrunde liegende Erzählung zwar nicht vokal artikuliert, aber doch vom Schöpfer, den Ausführenden und den Hörenden mitgedacht wurde. Im weiteren Umfeld nichtvokaler Werke, die in dieser Weise ein bekanntes “Programm” zum Klingen bringen, entstanden im 19. Jahrhundert zunächst Instrumentalkompositionen zu Gedichten, die idealerweise in Partitur und Konzertprogramm abgedruckt wurden und so das tönend Gehörte auf einen poetischen Inhalt bezogen. Als erstes wichtiges Beispiel gilt Hector Berlioz’ 1834 vollendete “Sinfonie mit Viola obbligato” Harold en Italie nach Lord Byrons Versepos Childe Harold’s Pilgrimage. In der Nachfolge entstanden zahlreiche Orchesterwerke ähnlich programmatischer Ausrichtung, darunter prominente Kompositionen von Franz Liszt, César Franck und Richard Strauss. Unmittelbar vor der Jahrhundertwende entwickelten sich die instrumentalen Wiedergaben poetischer Werke immer mehr in Richtung auf das hin, was ich “musikalische Ekphrasis” genannt habe: nichtvokale Kompositionen, die Inhalt und/oder Stil, sprachliche Besonderheiten und/oder andere Eigenschaften eines Gedichtes vom Medium der Sprache in das der Musik übertragen. Ein Werk des Übergangs ist Paul Dukas’ L’Apprenti sorcier (1896-1897) nach Goethes Ballade Der Zauberlehrling. Voll verwirklicht ist die instrumental vorgetragene Poesie dann mit Arnold Schönbergs Streichsextett Verklärte Nacht nach Richard Dehmels gleichnamigen Gedicht aus der 1896 veröffentlichten Sammlung Weib und Welt. Parallel zu dieser Entwicklung ganzer Instrumentalwerke auf der Basis poetischer Texte begannen Komponisten in der Nachfolge von Beethovens Neunter Sinfonie mit ihrem Finalsatz nach Schillers Ode an die Freude, Vokalsolisten oder Chöre in einen oder auch mehrere Sätze ihrer Sinfonien zu integrieren. Auch diese Entwicklung begann mit Berlioz, dessen Roméo et Juliette, eine “dramatische Sinfonie” nach Shakespeare mit Chor und Solosängern, bereits 1839 uraufgeführt wurde. Zwischen diesem Ereignis und der Entstehung von Mahlers erstem sinfonischen Werk mit Vokalbeteiligung, der als Auferstehungs-Sinfonie bezeichneten Zweiten Sinfonie von 1894, entstanden in dieser hybriden Kategorie u.a. die Zweite Sinfonie von Felix Mendelssohn Bartholdy mit dem Titel Lobgesang (1840) sowie die Faust-Sinfonie und die Dante-Sinfonie von Liszt (1854 bzw. 1856). Mahler intensivierte diese Entwicklung. Seine Dritte Sinfonie (1896) enthält im 4. Satz das vom Altsolo gesungene Gedicht “O Mensch! Gib acht!” aus Nietzsches Also sprach Zarathustra und im 5. Satz das Lied “Es sungen drei Engel” aus Des Knaben Wunderhorn. Mahlers Achte Sinfonie schließlich, die 1906-1907 entstand und dem Lied von der Erde somit unmittelbar vorausging, sieht acht Solisten (fünf Frauen- und drei Männerstimmen) sowie zwei große gemischte Chöre und einen Knabenchor vor und ist mit Ausnahme eines gliedernden Zwischenspiels durchgehend vokalsinfonisch. Sie besteht aus zwei Teilen, deren erster den Hrabanus Maurus zugeschriebenen Pfingsthymnus Veni creator spiritus in einem motettenartigen Satz vertont, während dem umfangreicheren zweiten Teil die Schlussszene aus Goethes Faust II zugrunde liegt. Der sinfonischen Form in vier Sätzen, die ehemals als Standard galt und die auch Mahlers Erste, Vierte, Sechste und Neunte Sinfonie bestimmt, stellt dieser Komponist somit alternative Strukturmodelle zur Seite. Auf seine fünfsätzige Zweite Sinfonie folgt in der Dritten Sinfonie ein Werk, dessen sechs Sätze er zu zwei “Abteilungen” gruppiert, in denen der umfangreiche Kopfsatz einer aus Satz II-VI bestehenden fünfteiligen Gruppe gegenübergestellt ist. Die Fünfte und die Siebte Sinfonie sind wieder fünfsätzig, doch in der Achten Sinfonie verzichtet Mahler dann ganz auf die Unterteilung in einzelne sinfonische Sätze. Das Lied von der Erde fügt sich nahtlos in diese Entwicklung. Wie Mahlers Achte Sinfonie besteht es ausschließlich aus Sätzen, die thematisch und strukturell durch ihren Vokalpart definiert sind; wie die Dritte Sinfonie umfasst es sechs Sätze, die faktisch (wenn auch nicht explizit) aus zwei Abteilungen bestehen, wobei es hier der ausgedehnte Finalsatz ist, der einer aus Satz I-V gebildeten fünfteiligen Gruppe gegenübersteht. Alexander Zemlinskys 1923 vollendete Lyrische Symphonie verdichtet den bei Mahler beobachteten Prozess dadurch, dass die sieben Sätze teils ohne Pause aufeinander folgen, teils sogar wie in einem durchkomponierten Werk auseinander hervorgehen. Günther Metz hebt in seiner Studie zu dem Werk hervor, dass dem Komponisten die Bedeutung dieser Gattungserweiterung ein Herzensanliegen war. So “ist die Lyrische Symphonie das einzige seiner Werke, das er selbst während seiner Prager Zeit uraufgeführt hat, und es ist mehr als merkwürdig, dass er in diesem einen Falle sogar die gewohnte Zurückhaltung aufgab und sich – vorweg! – zu ihm geäußert hat.” Das vollständige Zitat dieser ankündigenden Äußerung findet sich in der Zemlinsky-Biografie von Horst Weber: "Innere Zusammengehörigkeit der 7 Gesänge mit ihren Vor- und Zwischenspielen, die alle ein und denselben tiefernsten, leidenschaftlichen Grundton haben, muss bei richtiger Erfassung und Ausführung einwandfrei deutlich zur Geltung kommen. Im Vorspiel und 1. Gesang ist die Grundstimmung der ganzen Symphonie gegeben. Alle anderen Stücke, so sehr sie sich auch durch Charakter, Zeitmaß usw. voneinander unterscheiden, sind der Stimmung des ersten entsprechend abzutönen. So darf beispielsweise der 2. Gesang, der etwa die Stelle eines Scherzos einer Symphonie einnimmt, durchaus nicht spielerisch flüchtig, unernst aufgefasst werden; der 3. Gesang – das Adagio der Symphonie – keinesfalls als weichliches, schmachtendes Liebeslied. Namentlich bei diesem Lied ist der tiefernste, sehnsüchtige, doch unsinnliche Ton des 1. Gesanges festzuhalten. Durch Auslegung der 7 Gedichte, die erst von mir durch Anordnung und Vertonung in eine innere Zusammengehörigkeit gebracht wurden, sowie durch eine Art leitmotivischer Behandlung einiger Themen ist die Einheitlichkeit des Werkes ebenfalls deutlich betont und vom Dirigenten in diesem Sinne wiederzugeben." Als Dmitri Schostakowitsch im Frühjahr 1969 seine 14. Sinfonie als Liedsinfonie konzipierte, blickte er auf drei frühere Werke dieser Gattung zurück. Diese kreisen ausnahmslos um politische Themen: 1927 gab der staatliche sowjetische Musikverlag dem damals 21-jährigen Komponisten den Auftrag für ein Werk zum 10. Jahrestag der Oktoberrevolution; drei Jahre nach dieser Zweiten Sinfonie “An den Oktober” folgte die Dritte Sinfonie “Zum 1. Mai” mit ähnlichem propagandistischen Anspruch. In beiden Sinfonien geht ein orchestrales Largo unmittelbar in ein Finale mit Chor über. Es folgten neun rein instrumentale Sinfonien. Erst mit seiner 1961-1962 entstandenen 13. Sinfonie “Babi Jar” für Bass, Männerchor und Orchester kehrte der inzwischen 55-jährige Schostakowitsch zur Sinfonie mit Vokalbeteiligung zurück. Im Kopfsatz vertont er einen Text, in dem der Dichter Jewgeni Jewtuschenko beklagt, dass zwanzig Jahre nach dem Ende September 1941 von einem Sonderkommando der SS verübten Massaker an 33.771 jüdischen Männern, Frauen und Kindern in der Kiewer Schlucht Babi Jar noch immer kein Mahnmal existiert. Das Gedicht wurde über Nacht in der UdSSR wie im Westen zum Politikum. Auch die weiteren vier Sätze basieren auf Gedichten von Jewtuschenko, die politische und gesellschaftliche Missstände der Sowjetunion beklagen. Einzig das Finale klingt zumindest musikalisch hoffnungsvoll. Schostakowitschs 14. Sinfonie für Sopran, Bass und Kammerorchester weicht von diesen Vorläufern deutlich ab, insofern sie sich nicht auf ein bestimmtes historisches Ereignis bezieht. Vielmehr kreisen die Texte der elf Sätze um das Thema Tod, dem sie sich in immer anderen Perspektiven nähern. Dafür wählte der Komponist russische Übersetzungen von Gedichten des spanischen Lyrikers Federico García Lorca, des (Wahl-)Franzosen Guillaume Apollinaire und des deutschen Rainer Maria Rilke, ergänzt um einen original-russischsprachigen Gedichtauszug. Auch der polnische Komponist Krzysztof Penderecki hat im Verlauf seiner schöpferischen Entwicklung neben zahlreichen vokalsinfonischen Kompositionen im Bereich der geistlichen Musik vier Werke geschaffen, in denen er sich thematisch auf politische Ereignisse bezieht. Allerdings handelt es sich dabei um Werke, die nicht als “Sinfonie” gekennzeichnet sind, oft sogar um Abschnitte innerhalb eines religiösen Werkes. Dies änderte sich in seinen vorerst letzten drei Sinfonien. 1996 entstand Seven Gates of Jerusalem. Das mit fünf Vokalsolisten, einem Sprecher, drei gemischten Chören und Orchester besetzte Werk wurde bei seiner Uraufführung in Jerusalem am 9. Januar 1997 noch als Oratorium angekündigt, wofür auch die vom Komponisten selbst aus verschiedenen Büchern des Alten Testaments zusammengestellten Texte sprechen. Erst nach der polnischen Erstaufführung änderte Penderecki die Gattungsbezeichnung zugunsten von 7. Sinfonie. 2007 folgten die Lieder der Vergänglichkeit als 8. Sinfonie für drei Vokalsolisten, Chor und Orchester auf der Basis von dreizehn deutschen Gedichten aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert. Diese Komposition präsentiert mit ihrer beeindruckenden Verbindung aus poetischer Vielfalt, komplexen strukturellen Analogien und musikthematischen wie tonalen Entwicklungen ein exemplarisches Beispiel der Gattung “Liedsinfonie”. Mit den über einen langen Zeitraum entwickelten und von Anbeginn als 6. Sinfonie geplanten Chinesischen Liedern für Bariton und Orchester, die er 2017 vollendete, stellt Penderecki seiner großen 8. Sinfonie eine kleinere Schwester an die Seite. Dies betrifft sowohl Umfang und Besetzung als auch die Übernahme wesentlicher thematischer Komponenten aus dem Meisterwerk. Mit der Textgrundlage der Komposition, acht Gedichten aus Hans Bethges Die chinesische Flöte, schließt sich dabei zugleich der Kreis zu Mahlers Lied von der Erde.

Erscheinungsdatum
Zusatzinfo 114 Musikbeispiele, 3 Abbildungen
Verlagsort Waldkirch
Sprache deutsch
Maße 148 x 210 mm
Gewicht 433 g
Themenwelt Kunst / Musik / Theater Musik Allgemeines / Lexika
Kunst / Musik / Theater Musik Musiktheorie / Musiklehre
Schlagworte Alexander Zemlinsky • Dmitri Schostakowitsch • Federico García Lorca • Guillaume Apollinaire • Gustav Mahler • Hans Bethge • Hermann Hesse • Joseph von Eichendorff • Krzysztof Penderecki • Li Bai • Rabindranath Tagore • Rainer Marian Rilke
ISBN-10 3-938095-27-X / 393809527X
ISBN-13 978-3-938095-27-0 / 9783938095270
Zustand Neuware
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