Schar-Ptiza

Tanz-Roman
Buch | Hardcover
363 Seiten
2018
Dielmann, Axel (Verlag)
978-3-86638-221-3 (ISBN)
20,00 inkl. MwSt
"Worüber man nicht sprechen kann, muss man tanzen" (Nietzsche) - in diesem Sinne beschreibt der Roman in eindrücklicher Weise, wie der Tanz zum Ausdruck jener Gefühle und Erlebnisse einer jungen Tänzerin wird, über die sie nicht sprechen kann - Maja, erfolgreiche Prima Ballerina im kommunistischen Bulgarien, reist in den 1960er Jahren nach West-Deutschland, um sich in Modernem Tanz weiter auszubilden. Die Tanzproben am Theater in Gelsenkirchen, dann in Frankfurt und Wuppertal, angelehnt an die Arbeitsweisen von Mary Wigman und Pina Bausch, werden immer mehr zur Selbsterkundung Majas. Die Auseinandersetzung mit ihrer Familiengeschichte und den politischen Repressalien drängen sie in neue künstlerische Ausdrucksformen. - Zugleich unternimmt der Roman eine Zeitreise in die 1960er Jahre mit ihrem Nebeneinander von Rückwärtsgewandtheit, Verdrängung und Revolte im Künstlerischen wie im Gesellschaftlichen.

Kerstin Maria Pöhler wurde in Köln geboren. Sie studierte Musik (Hauptfach Klavier) und Germanistik an der Musikhochschule Köln und der Universität zu Köln. Als Musiktheater-Regisseurin hat sie an bedeutenden Opernhäusern im In- und Ausland gearbeitet. Ihre Inszenierung der Oper Friedenstag von Richard Strauss wurde, nach vielen anderen Auszeichnungen für ihre Bühnenarbeit, 2015 für den International Opera Award nominiert und in der Fachzeitschrift Die Deutsche Bühne in den Rubriken beste Regie und beste Bühne der Saison 2014/15 genannt.

Erstes Kapitel
Aufbruch
Zweites Kapitel
Die Fahrt
Drittes Kapitel
Weihnachten in der fremden Familie
Viertes Kapitel
Enttäuschung zum Jahreswechsel
Fünftes Kapitel
Erinnerungen
Sechstes Kapitel
Rückkehr zum Theater
Siebentes Kapitel
Die sieben Tänze des Lebens
Achtes Kapitel
Begehren und Scham
Neuntes Kapitel
Abschied von Gelsenkirchen
Zehntes Kapitel
Wiedersehen mit Simeon an der Adria
Elftes Kapitel
Gefährdetes Glück
Zwölftes Kapitel
Neuanfang in Frankfurt
Dreizehntes Kapitel
Orpheus
Vierzehntes Kapitel
Lampenfieber und Fluchtvorbereitung
Fünfzehntes Kapitel
Die Flucht

Aufbruch Sie trat auf die Bühne, das Licht des Scheinwerfers richtete sich auf sie. Sie atmete tief ein, so tief sie konnte, ihre Muskeln spannten sich an, ihre Sehnen strafften sich. Sie atmete aus, und die angestaute Kraft in ihrem Körper entlud sich. Sie rannte in der Diagonalen nach vorne, kraftvoll sprang sie vom Boden ab, getragen vom Klang der Musik. Sie flog, die Arme seitlich nach oben gestreckt, die Beine gespreizt im Spagat. Sie hat das Gefühl zu schweben, den Kopf weit zurück in den Nacken gelegt, den Blick in den Bühnenhimmel gerichtet, schwereloser Glücksmoment, doch schon spürt sie, wie sie an Höhe verliert, erblickt den schwarzen Boden unter sich, landet und federt den Schwung mit zwei kleinen Schritten ab, während sie ihre Arme sinken lässt, langsam einholt wie Flügel und ihre Finger spreizt wie einzelne Federn. Der Prinz tritt auf, er will sie fangen, sie flieht. Und plötzlich: Ihr Atem beginnt zu flackern, ihr Körper zittert, doch sie darf nicht aus dem Rhythmus kommen, ihre Bewegungen müssen sich in die von Valery fügen. Sie ringt um Luft, seine Hände langen nach ihr, ergreifen sie und heben sie empor, sie entflieht ein zweites Mal, den vorgegebenen Bahnen der Choreographie folgend, beim dritten Mal entkommt sie ihm nicht. Auf der Spitze stehend dreht sie eine Pirouette, die Arme über dem Kopf, mit abstehendem Tutu, er umfasst ihre Taille und dreht sie immer schneller, ihr schwindelt, er reißt ihr eine Feder aus dem Kostüm, die Feder, die ihn beschützen soll, die sie ihm hätte geben müssen. Sie bekommt keine Luft mehr, der Boden wankt unter ihren Füßen – nur nicht fallen, sie meint zu ersticken, endlich lösen sich Valerys Hände von ihr. Scheinwerfer blenden auf, der Zuschauerraum stürzt auf sie zu, Applaus. Luft strömt in ihre Lungen, gerettet, denkt sie. Der Beifall verebbte. Hinter dem Vorhang wartete schon Valery mit einem Geschenk auf sie, einem kleinen bunten Holzvogel, Schar Ptiza, er hatte ihn selbst geschnitzt. Für meinen Feuer­vogel, sagte er – ihre erste große Rolle, ihr Durchbruch als Solistin. Der Ballettmeister eilte mit tippelnden Schritten auf sie zu und meinte, einen solchen Grand jeté mache ihr in der ganzen Compagnie keiner nach. Seine Umarmung war hart und erdrückend. Er roch nach Veilchen. War das alles, was der Mann ihr nach Monaten eisernen Trainings zu sagen hatte? Für sie bedeutete der Tanz sehr viel mehr als ein technisch perfekter Sprung: sich Wiederfinden in einer Rolle. Ein hagerer Mann hielt im Theaterfoyer die Premierenansprache. Er redete über den Auftrag der Kunst in der sozialistischen Gesellschaft. Nach vorne geneigt las er von seinem Manuskript ab, ohne seine Zuhörer anzu­sehen, seine Stimme klang heiser. Ungeduldig strich er sich eine widerspenstige Haarsträhne, die ihm immer wieder ins Gesicht fiel, mit flacher Hand zurück. Zum Glück fasste er sich diesmal kürzer. Am Ende dankte er dem gesamten Theaterkollektiv und insbesondere der neuen Primaballerina Maja Stoyanova, in vorbildlicher Weise hätten sie sich in den Dienst der gesellschaftlichen Erneuerung und der Verbesserung Bulgariens gestellt. Bei der Spartacus-Premiere hatte er genau dasselbe gesagt, erinnerte sich Maja, und es reizte sie, ihn zu fragen, was denn ein Märchen mit einem Sklavenaufstand zu tun habe. Der Funktionär kam auf sie zu. Er trug das Abzeichen BKP am Revers, drei klobige rote Buchstaben auf goldenem Grund, und schüttelte ihr die Hand. Als sie in sein Gesicht mit dem starren Blick sah, schwieg sie. Sie wollte keinen Ärger. Später kamen ihre Freunde, Verwandten und Kollegen in das Restaurant Hotel Doiena in der Nähe des Theaters, um mit ihr zu feiern. Sie waren die einzigen Gäste in dem ehemaligen Ballsaal mit seinen verstaubten Lüstern und angelaufenen Spiegeln. Zwei Kellner wiesen ihnen einen langen Tisch zu und ließen auf sich warten, ehe sie die Speisekarten brachten. Als sie die Bestellung aufnahmen, mahnten sie zur Eile, da die Küche gleich geschlossen werde. Maja war glücklich, dass auch ihre Mutter, Onkel Nikolai und ihre Schwester Katja aus Sofia angereist waren, um ihr Debut zu sehen. Sie bebte am ganzen Körper, als ihre Mutter am anderen Kopf­ende des Tisches aufstand und eine kleine Rede begann, ganz Grande Dame im schwarzem Kostüm und mit der doppelreihigen Perlenkette, die sie ihre kleinen Zwillinge nannte. „Allen Widerständen zum Trotz bist du deinen Weg gegangen und deine Disziplin und Willenskraft trägt nun ihre Früchte. Für mich war es nicht leicht, zwei Töchter alleine groß zu ziehen. Man soll euch nicht bemitleiden, sondern bewundern, habe ich euch mit auf den Weg gegeben, das war hart, vielleicht manchmal zu hart, aber der heutige Abend gibt mir Zuversicht, dass ihr beide euren Weg in die Welt gefunden habt. Maja, du hast heute als Feuervogel dein großes Talent als Tänzerin bewiesen, und du Katja wirst als angehende Zahnärztin die Medizinertradition unserer Familie fortführen. Euer Vater wäre sicherlich stolz gewesen, hätte er das noch alles miterleben können. Ich danke euch.“ Alle applaudierten und ließen Maja hochleben. Die Mutter gab ihr ein Zeichen aufzustehen, und langsam erhob sich Maja. Sie hasste es, im Mittelpunkt zu stehen, außer wenn sie auf der Bühne tanzte. Alle starrten sie nun an und erwarteten, dass auch sie etwas sagen würde. Aber ihr stockte der Atem. Die Mutter nickte ihr auffordernd zu, doch Maja brachte kein Wort heraus. Sie sah, wie das Lächeln auf den Lippen der Mutter langsam erstarb und ihr Blick hart wurde. Stille. Danke, hörte Maja sich leise sagen. Die Mutter hob die Hände und fing an zu klatschen, erst zögerlich, dann immer rascher, wie Hiebe knallte es in Majas Ohren. Maja setzte sich, zitternd ergriff sie die Hand ihrer Schwester, die neben ihr saß. Katja lächelte sie aufmunternd an und sagte: „Na also, jetzt hast du endlich ihre Absolution erhalten, Schwesterherz.“ Onkel Nikolai kam zu ihr, beugte sich von hinten zur ihr herab und flüsterte ihr ins Ohr: „Siehst du, es hat sich doch gelohnt, dass wir zusammenhalten, wir zwei Magier. Ich bin stolz auf dich.“ Nicht einmal Majas engste Vertraute bemerkten, was wirklich in ihr vorging. Am liebsten hätte sie aufgeschrien, aber sie bezwang ihren Zorn und riss sich zusammen. Simeon hatte während des Essens noch neben ihr gesessen, doch jetzt trank er ein Bier nach dem anderen und scherzte mit den Orchesterkollegen auf der anderen Seite des Tisches, er beachtete sie kaum. Plötzlich fragte sie jemand, ob der Platz neben ihr noch frei sei. Sie nickte. Es war Milan Pokorny, ein Dirigent und alter Bekannter ihrer Mutter aus Wiener Studienzeiten vor dem Krieg. Er war Österreicher und lebte inzwischen in Deutschland, soviel wusste sie von ihm. Er war aufmerksam und machte ihr Komplimente, lobte ihre Musikalität und ihr technisches Können. Sie mochte seine angenehme Stimme, die mehr sang als sprach, und seinen weichen Wiener Akzent, die seinem Bulgarisch etwas Schwebendes gaben. „Die Musik hebt dich empor und trägt dich fort wie ein Blatt im Wind“, sagte er und schaute sie mit halb geschlossenen Lidern an, als folgte er einem inneren Bild. Am Ende zwinkerte er ihr schelmisch zu und sie musste lächeln, das erste Mal an diesem Abend. Er war ein Schauspieler, ein Charmeur, der alles nicht zu ernst nahm, das gefiel ihr. Er rückte etwas näher an sie heran und fragte: „Aber eins musst du mir verraten, warum hast du dem Prinzen die Feder nicht gegeben? Es sah aus, als hättest du es mit Absicht getan.“ Ihr gefiel die Verwegenheit, die er ihr unterstellte, sie widersprach ihm nicht. Sich widersetzen, ausbrechen – die Vorstellung hatte etwas Verlockendes. Sie mochte es, wie er sie erwartungsvoll anschaute. In seinem eleganten, etwas zu hellen Anzug mit rotem Einstecktuch sah er aus wie ein in die Jahre gekommener Eintänzer, liebend gern würde sie einen Walzer mit ihm tanzen, quer durch den Saal. Sie blitzte ihn an und sagte mit kokettem Schulterzucken: „Als Feuervogel gibt man seinen Zauber nicht Preis.“ „Natürlich nicht, das war ja auch das Aufregendste am ganzen Abend, diese Verweigerung. Um ehrlich zu sein, der Rest war zum Sterben langweilig. Welche Ballettmumie hat sich das denn ausgedacht?“ Mit welch charmantem Lächeln er ihr diese Unverschämtheit servierte, schon wollte sie protestieren, doch er stieß sie mit dem Ellbogen beschwichtigend in die Seite. „Versteh mich nicht falsch, du bist eine herausragende Tänzerin, aber das was du da machen musst, ist doch absolut passé. Du könntest viel spannendere Dinge tanzen“, sagte er. Sie fragte, was er damit meine. Er kam auf das zeitgenössische Tanztheater zu sprechen. Ob sie John Cranko, Kurt Jooss oder Merce Cunningham kenne? Auch die Welt des Tanzes sei wohl in West und Ost geteilt, entschuldigte sie ihr Unwissen, in Bulgarien werde nur die Russische Schule und etwas Volkstanz unterrichtet. Da schwärmte er ihr von den neuen tänzerischen Ausdrucksmöglichkeiten vor, die das Hässliche, das Deformierte, ja auch das Triebhafte auf der Bühne darstellen. Unverfroren starrte er ihr ins Gesicht und meinte, es gebe keine Tabus mehr. Soeben habe er in New York Winterbranche von Merce Cunningham gesehen, eine Studie über das Fallen, ganz ohne Handlung, einfach nur zu Boden gehen und wieder aufstehen, immer wieder das Gleichgewicht verlieren, aus der Balance geraten, in allen möglichen Variationen. Die geschmeidigen Bewegungen seiner Arme, mit denen er seine Worte begleitete, erregten sie. Sie spürte dieses Fallen, von dem er erzählte, das Stürzen, das Hinwerfen, das über den Boden kriechen, das Übereinanderwälzen am eigenen Körper, nicht mehr nach Schwere- losigkeit streben, sondern sich der Schwerkraft überlassen, eine Faszination wie von etwas Verbotenem ging davon aus. Sie fühlte sich an etwas lange Zurückliegendes erinnert und vertraute ihm ein Spiel aus Kindheitstagen an, fallendes Mädchen nannte sie es. Sobald sie nach der Turnstunde alleine in der Halle war, denn niemand durfte sie dabei beobachten, sprang sie auf den Schwebebalken. Sie stellte sich auf die Spitze ihres rechten Fußes, beugte den Oberkörper vor, streckte das linke Bein nach hinten und breitete die Arme aus, soweit wie nur irgend möglich. Dann hob sie den Blick, bis sie das Gefühl hatte zu schweben. Sie verharrte in dieser Haltung und wartete, bis ihre Muskeln ermüdeten, zu zittern begannen und sie aus dem Gleichgewicht brachten. Wann würde sie sich nicht mehr halten können, wann würde sie fallen? Jede Faser ihres Körpers kämpfte gegen den Absturz, Arme und Beine bebten, ihr rechter Fußknöchel schlug mal nach rechts, mal nach links, um in der Balance zu bleiben, schließlich knickte er ein. Sie sah noch, wie die Halle sich neigte, einen Bruchteil einer Sekunde später schlug sie auf der dicken Gummimatte auf. Vorbei. An das eigentliche Fallen konnte sie sich nie erinnern. Und das war der Reiz des Spiels, gestand sie Milan. Schweißperlen standen ihr auf der Stirn, ihr Puls raste. Milan legte lachend den Arm um ihre Schulter und sagte: „Na, wenn das so ist, wird es doch Zeit, sich auf das Fallen zu konzentrieren, oder?“ Er betonte das „Fallen“ seltsam und überraschte sie mit dem Vorschlag, einen Kontakt zur Folkwang-Hochschule herzustellen, eine der ersten Adressen für zeitgenössischen Tanz in Deutschland, wie er ihr versicherte. Alle Künste seien dort unter einem Dach vereint, um sich gegenseitig zu inspirieren. Ein Semester könne sie dort ohne Probleme als Gast studieren, er habe gute Kontakte zum Ensemble von Kurt Jooss. Mit seiner persönlichen Einladung gebe es auch keine Probleme mit der Aufenthaltsgenehmigung in Deutschland, wohnen werde sie selbstverständlich bei ihm und seiner Familie in Gelsenkirchen, das sei gar nicht weit von Essen entfernt. Maja nahm sein Angebot sofort an. Sie bemerkte, dass Simeon sie beobachtete, seine Orchesterkollegen waren bereits aufgebrochen. Milans Hand lag noch auf ihrer Schulter, sie richtete sich auf. Er verstand und zog seinen Arm zurück. Simeon erhob sich schwerfällig, ging torkelnd durch den Saal und ließ sich auf den freien Stuhl zwischen ihrer Mutter und ihrem Onkel fallen. Simeon lachte laut und klopfte Onkel Nikolai immer wieder auf den Rücken. Ihre Mutter stand auf und nahm woanders Platz. Maja konnte nicht mitansehen, wie Simeon sich aufführte und entschuldigte sich bei Milan für sein Verhalten. „Mach’ dir nichts draus, so sind sie halt, die jungen Männer. Morgen geht er wieder gerade aus und ist ein anständiger Cellist. Sein Solo hat mir übrigens gefallen“, sagte Milan. Er bot ihr an, noch vor seiner Abreise, gleich morgen früh, mit ihrer Mutter über die Einladung nach Deutschland zu sprechen, wenn Maja das wünsche. Ihre Mutter schätze seine Meinung und werde seinen Vorschlag sicherlich nicht ablehnen, sagte er. Maja war dankbar und stimmte zu. Mit Handkuss verabschiedete er sich, ging zu ihrer Mutter ans Kopfende des Tisches, flüsterte ihr etwas ins Ohr, worauf sie nickte und den Kopf lachend in den Nacken warf. Maja erstaunte der mehr als vertraute Umgang der beiden, für gewöhnlich zeigte sich ihre Mutter Männern gegenüber distanziert und unnahbar. Auf dem Nachhauseweg ertrug Maja es kaum, wie Simeon neben ihr hin und her schwankte. „Wann hörst du endlich mit der Trinkerei auf?“, fragte sie. Er lachte, es klang höhnisch, seine Gesten waren unkontrolliert und fahrig. „Was bleibt mir anderes übrig, wenn du dich den ganzen Abend von diesem Scheißösterreicher umgarnen lässt?“ Seine unartikulierten Laute hallten an den Hauswänden wider, peinlich berührt sah Maja sich um, aber die Straße war menschenleer. „Ich habe mich mit ihm über Tanz unterhalten, nichts weiter“, erwiderte sie leise. „Du hast mich den ganzen Abend nicht beachtet, gegen einen Maestro aus dem goldenen Westen kommt ein kleiner Cellist wie ich nicht an“, krakelte er. Sie schwieg. Plötzlich umarmte er sie und bedrängte sie, die Nacht bei ihm zu verbringen. Er stank nach Bier, seine nassen Küsse waren ihr widerwärtig. Sie ohrfeigte ihn, sofort ließ er sie los. Sie konnte seinen Anblick nicht länger ertragen und rannte davon. Wenn er trank, war er ein anderer, nicht der, den sie liebte. Oder geliebt hatte? Sie wusste es nicht. Der Alkohol drängte sich zwischen sie und ihn, trieb sie fort von ihm. Todmüde fiel sie ins Bett im Theaterwohnheim. Doch sie fand keinen Schlaf, war innerlich aufgerieben, in ihren Armen und Beinen kribbelte es unerträglich, sie hielt es liegend nicht mehr aus, stand auf, schaute aus dem Fenster auf den dunklen Wohnblock gegenüber. Sie hatte Simeon geohrfeigt, einfach Ja zu Milan gesagt, es war ihr erschreckend leicht gefallen, in ihrer Euphorie hatte sie nicht an Simeon gedacht, ihn vergessen. Sie machte sich Vorwürfe, wie sie so schnell auf alles eingehen konnte. Jetzt, wo sie alleine war, erschien ihr alles, wovon Milan erzählt hatte, weit weg, nicht fassbar, unwirklich. Sie fühlte sich einsam, wie abgeschnitten vom Leben und vermisste Simeon, sie liebte ihn, wie er einmal gewesen war, heiter, ungezwungen, sorglos, er nahm die Dinge leichter als sie, durch ihn hatte sie das Leben erst richtig kennen gelernt, Ballett war Verzicht, Disziplin, auch Kampf. Er dagegen genoss es, in den Tag hinein zu leben, mit Freunden bis in die Nacht zusammen zu sitzen, damals, als sie ihn kennen lernte, trank er noch nicht so viel und war erfüllt von seiner Musik. Er schien sein Cello zu umarmen, wenn er sich hinsetzte, um zu spielen, mit großer Geste führte er den Bogen durch die Luft und ließ ihn über die Saiten springen, niemals hatte sie ihn verbissen üben gesehen und liebte es, wenn er Gitarre spielte und für sie sang, sie zum Lachen brachte. Würden sie wieder zueinander finden? Als die ersten Lichter in den Fenstern gegenüber aufschienen, ging sie zu Bett. Vormittags weckte sie ein Klopfen an der Zimmertür, erschöpft von der schlaflosen Nacht öffnete sie. Simeon stand vor ihr, er lutschte ein Pfefferminzbonbon und lächelte verschmitzt. Mit spielerischer Geste zauberte er einen Strauß Blumen hinter seinem Rücken hervor und reichte ihn ihr. „Verzeih, meine Schöne, ich habe mich daneben benommen.“ Sie wollte sich nicht auf sein Spiel einlassen, mit einer Phrase und ein Paar Rosen war nicht alles abgetan, doch als sie die Melancholie hinter seiner aufgesetzten Fröhlichkeit erkannte, nahm sie ihm die Blumen ab. „Das mit der Ohrfeige tut mir leid“, sagte sie leise. Mit Schwung hob er sie hoch – vor Schreck schrie sie auf – und drehte sich mit ihr im Kreis, bis ihr schwindelte, er wusste wie sehr sie dieses Kinderspiel liebte. „Ist schon gut, meine Kleine, du bist stark und lässt dir von einem Zigeuner wie mir nicht alles gefallen. Ich verspreche dir, ich rühre kein Glas mehr an.“ Seine Augen leuchteten. „Lass mich runter, ich muss dir etwas sagen. Komm herein.“ Er setzte sie ab und folgte ihr in das Zimmer. Sie nahm das Papier von den Rosen und stellte sie in eine Vase auf der Fensterbank. Ihre Finger nestelten nervös an dem Blumenpapier, während sie sich auf das Bett setzte und überlegte, wie sie es ihm sagen sollte. Simeon jedoch bangte, sie würde ihn verlassen. Er kniete sich vor sie hin und nahm ihre Hände, flehend redete er auf sie ein und ließ sie nicht zu Wort kommen: „Ich bin ein elender Egoist, ich weiß, die ganze Zeit habe ich nur an mich gedacht, ich habe das einfach nicht verkraftet … das Krankenhaus, wie du gelitten hast … ich werde mich ändern, alles wird so, wie es einmal war, glaub’ mir, bitte.“ Maja zog ihn zu sich heran und gestand ihm, dass sie ein Angebot habe, für ein halbes Jahr nach Deutschland zu gehen, des Tanzes wegen. „Hat er dir das vorgeschlagen?“, fragte er. Sie nickte und befürchtete, dass Simeon ihr eine Szene machen würde. Sie konnte seine Miene nicht deuten, und es dauerte eine Weile, bis er antwortete. „Also gut“, sagte er und sah sie eindringlich an, „aber versprich mir eins, lass’ mich nicht im Stich.“ Es war das erste Mal, dass er ihr ein Versprechen abverlangte, und sie gab ihm ihr Wort. Mittags traf sie ihre Mutter, ihre Schwester und Onkel Nikolai im Doiena Hotel, in dem die drei logierten. Selbst am Wochenende blieb ihnen wegen ihrer beruflichen Verpflichtungenin Sofia, keine Zeit für einen längeren Aufenthalt, ihr Onkel war Intendant der Staatsoper und musste am Abend für den Empfang der Parteispitze zurück sein, ihre Mutter hatte Notdienst in der Poliklinik. Gemeinsam nahmen sie einen Kaffee in der Lobby, bevor das Taxi kam. Zu ihrem Erstaunen hatte ihre Mutter nichts gegen einen Studienaufenthalt in Deutschland einzuwenden: „Milans Einladung ist eine wunderbare Gelegenheit, neue Erfahrungen zu sammeln, zumal sie dir für deine künstlerische Laufbahn in Bulgarien nützen. Das meint auch Onkel Nicolai“, sagte sie und sah auffordernd zu ihrem Bruder, der ihr beipflichtete: „Mit der Reisegenehmigung dürfte es keine Probleme geben, ich werde mit ein paar Freunden im Kulturministerium reden.“ „Nur eine Bedingung stelle ich“, fuhr die Mutter fort und sah sie ernst an. Maja erschrak, welches Hindernis könnte die Mutter ihr in den Weg legen? „Du brauchst ein Auslandsstipendium, wenn du nach Deutschland gehst, denn freie Kost und Logis reichen nicht aus, um dort ein halbes Jahr lang zu studieren.“ Maja konnte ihr Glück kaum fassen und versicherte ihr, sich darum zu kümmern. Das Taxi war vorgefahren, sie gingen hinaus. Katja sagte leise zu ihr: „Ich freue mich so, dass sie dich gehen lässt, genieße deine Freiheit. Ich werde dich vermissen.“ „Du tust so, als ob ich morgen abreisen würde.“ „Ich bewundere dich, kleine Schwester, du hast etwas, wofür du kämpfst. Manchmal denke ich, ich mache mir alles zu einfach: Ich bohre den Leuten im Mund herum genau wie Mutter. Und das soll’s dann gewesen sein?“ Maja kannte den Weltschmerz ihrer Schwester nur zu gut, ab und zu brauchte sie diese kleinen Stoßseufzer, die ihr halfen genauso weiterzumachen wie bisher. Aber im Grunde schien sie zufrieden mit sich und ihrem Leben. Katja küsste sie auf die Wange und setzte sich als erste in das Taxi. Die Mutter lächelte und reichte ihr die Hand zum Abschied. Sie trug schwarze Wildlederhandschuhe, die sich in Majas Hand wie Katzenpfötchen anfühlten. „Wir telefonieren wegen der Reisegenehmigung. Eins möchte ich dir noch sagen, auch wenn es mir unangenehm ist: Simeon hat sich gestern Abend unmöglich benommen, sturzbetrunken wie er war. Frag’ deinen Onkel, er wird mir beipflichten. Glaub’ mir, er ist nicht der Richtige für dich, das habe ich dir von Anfang an gesagt, und ich kann nur hoffen, dass auch in dir bald diese Erkenntnis reift.“ Maja schwieg beschämt, die Mutter wandte ihr den Rücken zu und stieg in den Wagen. Onkel Nikolai nahm Maja in den Arm und sagte leise: „Du weißt doch, wie sie ist. Im Grunde genommen meint sie es gut.“ Maja wartete nicht ab, bis das Taxi losfuhr, sie rannte in die andere Richtung fort und lief weiter, bis sie keine Luft mehr bekam. In den darauffolgenden Tagen bereitete Maja alles für ihren Deutschlandaufenthalt vor. Gerne hätte sie einen Sprachkursus besucht, doch bot nur das Goethe-Institut in Sofia welche an. Mit einem Wörterbuch und einem veralteten Sprachführer aus der Bibliothek erarbeitete sie sich einige Grundkenntnisse. Sie sprach bei der Deutschen Botschaft in Sofia vor und erkundigte sich, wie sie ein Auslandsstipendium erhalten könne. Da gebe es verschiedene Möglichkeiten, erklärte ihr die Dame in der Kulturabteilung, über die Friedrich Ebert Stiftung zum Beispiel, doch sei sie mit ihrem Antrag für dieses Jahr leider zu spät, die Stipendien seien bereits vergeben. Die einzige Hoffnung bestehe darin, dass einer der Kandidaten kurzfristig abspringe. Die Dame notierte sich Name und Adresse von Maja und riet ihr, regelmäßig nachzufragen. Simeon setzte in dieser Zeit alles daran, sie wieder für sich zu gewinnen. Er hielt sein Versprechen und trank nicht mehr. Nach den Proben traf sie ihn meist vor dem Theater, gemeinsam schlenderten sie Hand in Hand durch den herbstlichen Park, in dem sie sich vor einem Jahr kennen gelernt hatten. Aufmerksam nahm Simeon Anteil an dem, was sie von den ermüdenden Ballettproben am Vormittag berichtete, und hörte interessiert zu, als sie von ihrer Recherche über modernen Tanz erzählte. Viel habe sie nicht in dem staatlichen Tanzarchiv gefunden, klagte sie, doch war sie tief beeindruckt von einer alten Filmaufnahme aus den zwanziger Jahren, die sie dort hatte anschauen können. Es war der Hexentanz von einer gewissen Mary Wigman, die mit bizarren Gesten und eruptiven Bewegungen eine Besessene darstellte, wobei sie den Zuschauer mit starrem, weit aufgerissenen Blick fixierte. Maja faszinierte, wie es der Tänzerin gelang, seelische Abgründe körperlich auszudrücken, ihr Körper schien beherrscht von inneren Wahnvorstellungen, ja behext zu sein. Simeon verglich Majas Suche nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten mit seinen eigenen Ausflügen zum Jazz und Chanson, wenn er nach langen Orchesterproben auf der Gitarre improvisierte. Der Vergleich erschien Maja ein wenig naiv, doch wollte sie ihn nicht vor den Kopf stoßen. Milan erwähnte sie mit keinem Wort, aber sie dachte oft daran zurück, mit welcher Leidenschaft er über das Tanzen gesprochen hatte. Drei Wochen waren seit ihrem Kennenlernen vergangen, und sie sehnte sich nach einer Nachricht von ihm. Auf einem ihrer Spaziergänge machten Maja und Simeon Halt an einem entlegeneren Ort des Parks, den sie noch nicht kannten, sie setzten sich auf eine Bank, Maja rollte sich wie eine Katze ein und legte ihren Kopf auf Simeons Beine, er strich ihr durch das Haar. Es war ein warmer, sonniger Oktobertag. Ihr Blick fiel auf die Bäume, sie bemerkte, wie sie sich von Tag zu Tag veränderten und die Farben der Blätter langsam fahler wurden, doch über den näher kommenden Abschied redeten Simeon und Maja nicht. Sie sprang von der Bank auf und lief über die Wiese zu dem Ahornbaum. „Komm, hilf mir“, rief sie Simeon zu und fing an, bunte Blätter aufzusammeln. Simeon rannte lachend zu dem leuchtenden Essigbaum und zeigte ihr seine Ausbeute. Sie machten einen kleinen Wettbewerb daraus, wer die farbenprächtigsten Exemplare unter den Bäumen fand. „Schau, das Ahornblattlatt, wie spitzgezackt es ist, am Stiel ist es ganz grün, doch an den Rändern so rot, als ob Blut durch seine Adern fließt.“ Er hielt einen Zweig mit orangegelb verfärbten Essigbaumblättern gegen den tiefblauen Himmel: „Und schau dir das an“, sagte er, „sieht aus wie die Feder eines wunderschönen Vogels.“ Hand in Hand liefen sie weiter zwischen Linden, Eichen und Buchen herum und sammelten auf, was ihnen ins Auge sprang. Zu Hause angekommen, nahm Simeon ihr die bunten Blätter ab und legte sie zu seiner Sammlung auf den Tisch im Wohnzimmer. Er bat Maja Platz zu nehmen, und sie schaute ihm dabei zu, wie er sorgsam die Blätter nach Farben auf der runden Tischplatte sortierte, einem Maler gleich, der die Farbskala auf einer Palette zusammenstellt. Sie beobachtete, wie sein Blick über die farbigen Flecken schweifte und plötzlich hängen blieb, seine Hand griff nach einem Essigbaumzweig. Simeon löste mehrere der gelben Blätter davon ab und heftete sie mit Stecknadeln übereinander an die Wand, zwei schlank aufragende Parallelen entstanden, er trat ein wenig zurück wie ein Maler von der Staffelei und wählte zwei bräunliche Eichenblätter aus, die er längs unter den gelben Blättern fixierte. Maja meinte, zwei Stelzen zu erkennen, war sich aber nicht sicher und beobachtete weiter, wie er karmesinrote Essigbaumzweige zu einem Strauß band und quer über den beiden Stelzen an der Wand befestigte. In diesem Moment erkannte sie darin einen Vogel mit glutrotem Gefieder, staksigen gelben Vogelbeinen und braunen Krallen. Ganz am Ende heftete Simeon einen hübschen grünen Schnabel in Gestalt eines einzelnen Lindenblatts an den Vogelkopf. Maja war gerührt von seiner Liebeserklärung und umarmte ihn. In den folgenden Tagen machten sie sich einen Spaß daraus, weitere Blätter im Park aufzulesen, ein phantastisches Märchen entwickelte sich daraus, das von den zu bestehenden Abenteuern des Feuervogels in der Fremde und seiner glücklichen Rückkehr erzählte. Simeon überraschte Maja mit dem Ende: der Feuervogel wird zur Braut, sein Essigbaumgefieder zu ihrem feuerroten Brautkleid, daneben der stolze Bräutigam mit Frack und Zylinder aus gelbbraunen Ahornblättern. Ihr Herz pochte wild, die Brust wurde ihr so eng, dass sie kaum atmen konnte. Er lächelte verschmitzt, sein Jungenlächeln, das sie so sehr liebte. Er fragte, wie ihr das Happy End gefalle. Ihr Hals schnürte sich zu, ihre Zunge klebte am Gaumen. Sie wollte ihn nicht verletzen und antwortete: „Das ist ein schöner Gedanke.“ Der Ballettmeister verlangte nicht mehr als früher von ihr, doch empfand sie die Proben zunehmend als Qual, und es kostete sie immer mehr Kraft, seinen Anforderungen zu genügen. Er verlor kein Wort darüber, noch schützte sie ihr Premierenerfolg, aber sie wusste, dass jeder ersetzbar war, und es entging ihr nicht, dass der Ballettmeister hinter ihrem Rücken eine andere Tänzerin aufbaute. Immer öfter betrat sie die Bühne mit Angst. Erst in der vergangenen Feuervogel-Vorstellung hatte sie wieder gegen diese Atemnot ankämpfen müssen, die sie gleichsam aus dem Hinterhalt überfiel. Es geschah niemals an derselben Stelle, und so war es ihr unmöglich, sich darauf vorzubereiten, sie war den plötzlichen Anfällen ausgeliefert, Panik überkam sie dann, keine Luft mehr zu bekommen und auf der Bühne ohnmächtig zu werden en, wogegen sie verzweifelt antanzte und hoffte, dass es niemand bemerkte. Auf ihre Technik konnte sie sich verlassen, doch wie lange noch? Sie erzählte niemandem davon, auch Simeon nicht, bis zu ihrer Abreise musste sie durchhalten. Allerdings hatte sie einen positiven Bescheid von der Deutschen Botschaft noch immer nicht erhalten. In ihrer freien Zeit entfloh Maja dem Theater und machte Ausflüge mit Simeon in die Umgebung, an Orte, die sie gemeinsam mit ihm im vergangenen Herbst entdeckt hatte und wo sie glücklich miteinander waren. Sie erinnerte sich, was sie dort mit ihm erlebt hatte und machte ein Fragespiel daraus, Simeon musste erraten, was es gewesen sein könnte. Sie nannte es Lovememory, aber sie wich von der Regel des reinen Erinnerns ab und erfand immer etwas Neues hinzu, eine Kleinigkeit, die sie glücklicher machte. So kletterten sie einmal in Plovdiv nach Sonnenuntergang über den Zaun der Ruinen des römischen Amphitheaters. Sie standen auf der Orchestra und schauten die leeren Ränge hinauf. „Weißt du noch, vor einem Jahr“, fragte sie ihn, und als er sich nicht erinnerte, nahm sie seine Arme und tanzte einen langsamen Tango mit ihm. Er wollte abbrechen, da er die Schrittfolge nicht beherrschte, du hast sie vergessen, sagte sie lächelnd und führte ihn über den sandigen Boden, während er auf ihre Füße schaute, um zu folgen. Für sie war das Hinzuerfinden eine Bereicherung des Vergangenen, bald wollte sie gar nicht mehr unterscheiden, was Realität und Fiktion war, in ihrer Phantasie ließ sie alles gelten, was sie als beglückend empfand. Fast jede Nacht verbrachte sie nun bei Simeon. Morgens vor dem Aufstehen beobachtete sie ihn mit fast geschlossenen Augen durch die Wimpern hindurch blinzelnd, so dass er glauben musste, sie schliefe noch. Er lächelte und strich sanft über ihre Schultern, ein angenehmer Schauer lief ihr dann über den Rücken. Sie konnte seine Berührungen wieder ertragen, sie waren vorsichtig, nie fordernd. Einmal gab sie seinem Wunsch nach, wieder mit ihr zu schlafen, auch sie sehnte sich danach. Vorsichtig drang er in sie ein, und als seine Bewegungen heftiger wurden, spürte sie wieder den Schmerz in ihrem Unterleib und versuchte ihn auszuhalten, in der Hoffnung er ginge vorbei, Simeon bedeckte sie mit Küssen, doch je leidenschaftlicher er wurde, desto unerträglicher wurde der Schmerz, Stiche bis zum Herzen, sie weinte. Er war verzweifelt, ihr weh getan zu haben und umarmte sie, presste sie an sich. Sie zitterte am ganzen Körper und mit einem Mal waren all die Erinnerungen wieder da, die sie längst überwunden glaubte. :

AufbruchSie trat auf die Bühne, das Licht des Scheinwerfers richtete sich auf sie. Sie atmete tief ein, so tief sie konnte, ihre Muskeln spannten sich an, ihre Sehnen strafften sich. Sie atmete aus, und die angestaute Kraft in ihrem Körper entlud sich. Sie rannte in der Diagonalen nach vorne, kraftvoll sprang sie vom Boden ab, getragen vom Klang der Musik. Sie flog, die Arme seitlich nach oben gestreckt, die Beine gespreizt im Spagat. Sie hat das Gefühl zu schweben, den Kopf weit zurück in den Nacken gelegt, den Blick in den Bühnenhimmel gerichtet, schwereloser Glücksmoment, doch schon spürt sie, wie sie an Höhe verliert, erblickt den schwarzen Boden unter sich, landet und federt den Schwung mit zwei kleinen Schritten ab, während sie ihre Arme sinken lässt, langsam einholt wie Flügel und ihre Finger spreizt wie einzelne Federn. Der Prinz tritt auf, er will sie fangen, sie flieht. Und plötzlich: Ihr Atem beginnt zu flackern, ihr Körper zittert, doch sie darf nicht aus dem Rhythmus kommen, ihre Bewegungen müssen sich in die von Valery fügen. Sie ringt um Luft, seine Hände langen nach ihr, ergreifen sie und heben sie empor, sie entflieht ein zweites Mal, den vorgegebenen Bahnen der Choreographie folgend, beim dritten Mal entkommt sie ihm nicht. Auf der Spitze stehend dreht sie eine Pirouette, die Arme über dem Kopf, mit abstehendem Tutu, er umfasst ihre Taille und dreht sie immer schneller, ihr schwindelt, er reißt ihr eine Feder aus dem Kostüm, die Feder, die ihn beschützen soll, die sie ihm hätte geben müssen. Sie bekommt keine Luft mehr, der Boden wankt unter ihren Füßen - nur nicht fallen, sie meint zu ersticken, endlich lösen sich Valerys Hände von ihr. Scheinwerfer blenden auf, der Zuschauerraum stürzt auf sie zu, Applaus. Luft strömt in ihre Lungen, gerettet, denkt sie. Der Beifall verebbte. Hinter dem Vorhang wartete schon Valery mit einem Geschenk auf sie, einem kleinen bunten Holzvogel, Schar Ptiza, er hatte ihn selbst geschnitzt. Für meinen Feuervogel, sagte er - ihre erste große Rolle, ihr Durchbruch als Solistin. Der Ballettmeister eilte mit tippelnden Schritten auf sie zu und meinte, einen solchen Grand jeté mache ihr in der ganzen Compagnie keiner nach. Seine Umarmung war hart und erdrückend. Er roch nach Veilchen. War das alles, was der Mann ihr nach Monaten eisernen Trainings zu sagen hatte? Für sie bedeutete der Tanz sehr viel mehr als ein technisch perfekter Sprung: sich Wiederfinden in einer Rolle. Ein hagerer Mann hielt im Theaterfoyer die Premierenansprache. Er redete über den Auftrag der Kunst in der sozialistischen Gesellschaft. Nach vorne geneigt las er von seinem Manuskript ab, ohne seine Zuhörer anzusehen, seine Stimme klang heiser. Ungeduldig strich er sich eine widerspenstige Haarsträhne, die ihm immer wieder ins Gesicht fiel, mit flacher Hand zurück. Zum Glück fasste er sich diesmal kürzer. Am Ende dankte er dem gesamten Theaterkollektiv und insbesondere der neuen Primaballerina Maja Stoyanova, in vorbildlicher Weise hätten sie sich in den Dienst der gesellschaftlichen Erneuerung und der Verbesserung Bulgariens gestellt. Bei der Spartacus-Premiere hatte er genau dasselbe gesagt, erinnerte sich Maja, und es reizte sie, ihn zu fragen, was denn ein Märchen mit einem Sklavenaufstand zu tun habe. Der Funktionär kam auf sie zu. Er trug das Abzeichen BKP am Revers, drei klobige rote Buchstaben auf goldenem Grund, und schüttelte ihr die Hand. Als sie in sein Gesicht mit dem starren Blick sah, schwieg sie. Sie wollte keinen Ärger. Später kamen ihre Freunde, Verwandten und Kollegen in das Restaurant Hotel Doiena in der Nähe des Theaters, um mit ihr zu feiern. Sie waren die einzigen Gäste in dem ehemaligen Ballsaal mit seinen verstaubten Lüstern und angelaufenen Spiegeln. Zwei Kellner wiesen ihnen einen langen Tisch zu und ließen auf sich warten, ehe sie die Speisekarten brachten. Als sie die Bestellung aufnahmen, mahnten sie zur Eile, da die Küche gleich geschlossen werde. Maja war glücklich, dass auch

Erscheinungsdatum
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Maße 125 x 210 mm
Gewicht 425 g
Themenwelt Literatur
Kunst / Musik / Theater Theater / Ballett
Schlagworte Ballett • BALLETTSCHULE • Bulgarien • Feuervogel • Folkwang • Kalter Krieg • Mary Wigman • Modern Dance • Pina Bausch • Prima Ballerina • Republikflucht • Schauspiel Frankfurt • Sophia • Sophia (Stadt) • Tanz • Tanztheater • Tschaikowski
ISBN-10 3-86638-221-9 / 3866382219
ISBN-13 978-3-86638-221-3 / 9783866382213
Zustand Neuware
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