Nietzsche nackt

Die Autorin, gebürtige Berlinerin, lernte mit fünf Jahren lesen und sog seither alles in sich auf, was sie in die Hände bekam. Mit elf war sie bei den großen Klassikern der Literatur wie Böll und Grass angekommen, las Bukowski oder begeisterte sich für Wallraffs Energie. Ihr Studium der Physik und Philosophie und ein Studentenleben in Berliner Straßenschluchten und Szene-Clubs bereitete ihrer Entwicklung zur Autorin ungewöhnlicher Literatur den Weg. Ihr Debut „Nietzsche nackt“ reifte als gekonnte Mischung aus persönlichen Erlebnissen und tiefen Gedanken um das Leben und die Welt - und auf dem Nährboden einer bemerkenswerten Fantasie.

Ich hab in diesem Semester ein Seminar in Systemtheorie belegt. Nach ner knappen Einführung in das selbstverständlich notwendige, ganz eigene Vokabular, das sich Niklas Luhmann wie jeder Sozialwissenschaftler zu seiner Systemtheorie gebastelt hat, bin ich bei ihm angekommen. Staune und erlebe zum ersten Mal Respekt vor einem Sozialwissenschaftler. Aber gut, er ist ja schließlich auch in erster Linie Rechtswissenschaftler, vertröste ich mein Vorurteil im Hinblick auf den bestehenden Wahrheitsgehalt. Kommunikation und die Reduktion der Komplexität sind Luhmann wichtige Begriffe. Hätt er mal auf seine Theorie anwenden sollen, verdammt komplex ist die. Nachdem ich mich aber eingefühlt habe in sein Konstrukt des Menschen, der aus drei Systemen zusammengesetzt funktioniere, einem psychischen, einem sozialen und einem biologischen, versuche ich zu begreifen, warum die Reduktion der unendlich vielen Möglichkeiten, die die Welt für uns bereithielte, so absolut notwendig für unsere Existenz sei. Reduktion von Anschlussmöglichkeiten schaffe Ordnung. Das verstehe ich. Wenn ich in jedem Moment meines Lebens alles neu entscheiden müsste, käme ich kaum mehr dazu, auch nur einen Schritt zu tun. Aufstehen und zur Uni gehen, einkaufen, Essen machen, lernen, arbeiten, am Wochenende feiern, daraus besteht mein Alltag. Wann aufstehen? Zur Uni radeln oder Zugfahren? Wo was einkaufen und kochen? Im Wohnzimmer oder in der Küche essen? Welche Parties mit wem abgrasen? Das sind Möglichkeiten genug, damit ich nicht in jedem Moment meines Lebens in endloses Grübeln verfalle. Tatsächlich hat er ja Recht, ich könnte jeden Moment ausbrechen aus dem Korsett der erlernten Handlungen und vorgezeichneten Lebenswege. Oft genug tue ich das ja auch, stelle ich grinsend fest. Aber Gefühle als Ausschlusskriterium für Möglichkeiten? Als ein Mechanismus der Reduktion von Komplexität? Das ist schon harter Stoff. „Gefühle reduzieren die Möglichkeiten der Umwelt durch Präferenz für einen Gegenstand und legen damit zugleich die internen Möglichkeiten der Erlebnisverarbeitung im selben Sinne fest. Weder nach außen, noch nach innen Alternativen übriglassend, sind Gefühle unelastisch, fixiert, unübertragbar“, schreibt Luhmann. Der romantische Kram liegt mir ja eh nicht, deshalb freunde ich mich mal spaßeshalber mit dem Gedanken unelastischer Gefühle an. Eine Abneigung reduziert die Möglichkeiten, weist einen Weg, versuche ich die Gedanken Luhmanns nachzuvollziehen. Eine Sympathie ebenso. Es ist was dran, muss ich zugeben, tatsächlich. Wenn der moderne Biologismus daneben Recht hat und Gefühle aus hormonellen Gegebenheiten heraus entstehen, dann sind die Komplexitäten der Welt für uns Menschen also sogar schon auf biophysikalischer oder molekularer Ebene reduziert worden. Gefühlt würden dann die Ausrichtung der Moleküle oder die Richtung zur energieärmsten Zustandsfunktion oder einem stabilen Minimum des Potentials oder so. Ausgeklügelter Mechanismus, vor unserem Bewusstsein durchaus verborgen gehalten. Spannende These, denke ich. (‚Nietzsche nackt‘, Kap. ‚Generalisierte Medien‘)