Klassik, Moderne, Nachmoderne. Eine Filmgeschichte (eBook)

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2015 | 1. Auflage
832 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-401767-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Klassik, Moderne, Nachmoderne. Eine Filmgeschichte -  Michaela Krützen
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Drei Filme, drei Geschichten - eine Filmgeschichte. Diese Geschichte des Films ist vollkommen anders. Statt chronologisch Hunderte von Produktionen abzuhandeln, zeigt Michaela Krützen die sich verändernden Grundprinzipien des filmischen Erzählens anhand von nur drei Titeln auf: »Casablanca«, »L'Année dernière à Marienbad« und »Eternal Sunshine of the Spotless Mind«. Anschaulich arbeitet sie an konkreten Szenen die Besonderheiten von drei grundlegenden Epochen heraus: Klassik, Moderne und Nachmoderne. Grundlage des Vergleichs ist ein Katalog von 16 Merkmalen, die diese Erzählweisen kennzeichnen. So entsteht eine neue Filmgeschichte - kompakt, verständlich und originell.

Michaela Krützen, geboren 1964 in Aachen, ist seit 2001 Professorin für Medienwissenschaft an der Hochschule für Fernsehen und Film in München. Im Fischer Verlag sind zuletzt  erschienen »Klassik, Moderne, Nachmoderne. Eine Filmgeschichte« (2015), »Dramaturgien des Films. Das etwas andere Hollywood« (2010), »Väter, Engel, Kannibalen. Figuren des  Hollywoodkinos« (2007), »Was ist Pop?« (Hg., 2004) sowie »Dramaturgie des Films. Wie Hollywood erzählt« (2003).

Michaela Krützen, geboren 1964 in Aachen, ist seit 2001 Professorin für Medienwissenschaft an der Hochschule für Fernsehen und Film in München. Im Fischer Verlag sind zuletzt  erschienen »Klassik, Moderne, Nachmoderne. Eine Filmgeschichte« (2015), »Dramaturgien des Films. Das etwas andere Hollywood« (2010), »Väter, Engel, Kannibalen. Figuren des  Hollywoodkinos« (2007), »Was ist Pop?« (Hg., 2004) sowie »Dramaturgie des Films. Wie Hollywood erzählt« (2003).

An dieser Filmgeschichte beeindrucken Genauigkeit und Kenntnis, die klugen Abschweifungen und fundierten Erklärungen.

[…] spannend erzählt. Ich habe auch die vorangegangenen Publikationen von Michaela Krützen hoch geschätzt und bin von ihrem neuen Buch sehr beeindruckt.

Michaela Krützen hat […] ein Buch geschrieben, das gerade selbst Geschichte schreibt. […] Ein wirklich moderner und reizvoller Text […]

Michaela Krützen hat mit ›Klassik, Moderne, Nachmoderne‹ eine reiche Typenlehre des Kinos geschaffen.

Ein wirklich moderner und reizvoller Text

Merkmal 1:

Die Folgerichtigkeit der Handlung


Filmminute 39. Der Arc de Triomphe ist zu sehen, der Auftakt der Marseillaise zu hören. Nach nur drei Sekunden werden die Bläser jedoch von Streichern abgelöst. Die französische Hymne weicht einem romantischen Motiv, und parallel dazu geht die Panoramaeinstellung in eine Halbtotale über. Der zuvor noch in Gänze zu bewundernde Triumphbogen bildet jetzt lediglich den Hintergrund. Im Vordergrund fahren ein Mann und eine Frau in einem Cabriolet die Champs Élysées entlang. Wie passend, dass das französische Wort ›cabrioler‹ auch mit ›Luftsprünge machen‹ übersetzt werden kann, denn in genau diesem euphorischen Gemütszustand befindet sich das Paar ganz offensichtlich. Und wie angemessen, dass sich die Prachtstraße bei prächtigem Wetter präsentiert, bei strahlendem Sonnenschein, denn auch die beiden strahlen regelrecht.

Nun fährt die Kamera ein Stück auf die Fahrenden zu, so dass ihr fröhlicher Gesichtsausdruck noch deutlicher zu erkennen ist. Der Hintergrund ändert sich; der Wagen rollt nicht mehr über den breiten Boulevard, sondern über eine schmale Landstraße. Zärtlich legt der Fahrer den Arm um seine Begleiterin, während er das Auto eine lichtdurchflutete Allee entlangsteuert. Sie legt ihren Kopf auf seine Schulter, er schaut kurz hinauf in den Himmel: Zwei Verliebte auf einer Landpartie.

Mit der Landpartie beginnt eine Sequenz, die Ricks Erinnerungen an seine Zeit mit Ilsa in Paris zeigt. In keiner anderen Einstellung des Films ist das Wetter so heiter wie in dieser. Der Wetterlage entspricht das Aussehen des Protagonisten. Rick trägt ausnahmsweise einen Straßenanzug mit Krawatte. In seiner Hand ist keine Zigarette zu finden. Ricks Haar, das sonst mit Pomade nach hinten gekämmt ist, flattert sogar leicht im Wind. Es scheint in dieser Einstellung voller, länger und heller zu sein, fast lockig. Das kontrollierte, strenge Aussehen des Barbesitzers ist hier einem weicheren Erscheinungsbild gewichen. Während der Autofahrt lächelt der sonst so starr blickende Rick sogar. Und auch Ilsa strahlt so glücklich, dass ihre Zähne blitzen.

Das Bild setzt also die großen Gefühle von Rick und Ilsa in Szene. Diese beiden sind sicherlich eines der berühmtesten Liebespaare der Filmgeschichte. Kein anderes Bild dieses Melodramas zeigt die Verliebtheit der Protagonisten deutlicher. Wenn CASABLANCA der Musterfall des Hollywoodkinos ist und wenn Rick und Ilsa das romantische Paar verkörpern, dann müsste die Autoaufnahme folgerichtig der Inbegriff der Romantik auf der Leinwand sein: das Bild der Liebe schlechthin.

Sucht man dieser Hypothese folgend nach Bildern aus dem Film, so wird man aber gerade dieses Motiv nicht finden. Kein Plakat und kein Aushangbild verwendeten diese spezielle Einstellung. Unter den rund ersten tausend Treffern, die Google Images anbietet, ist ausgerechnet die Autofahrt nicht auszumachen.[127] Selbst wenn man die Suche durch den Begriff ›car‹ einschränkt, erzielt man keinen Treffer. Auch wurde das Standbild des glücklichen Paares nur in einem der zahlreichen Bildbände über CASABLANCA abgedruckt, und zwar in einem Buch mit über 1500 Einzelaufnahmen aus dem Film, das sich der Vollständigkeit rühmt.[128] Und nur in einer von mehreren Dutzend Filmanalysen wird der Ausflug des frisch verliebten Paares überhaupt erwähnt, wohlgemerkt in einem Nebensatz.[129] Die Autofahrt ist wohl zu untypisch, um Beachtung zu finden. Sie spielt zu einer anderen Zeit als der Rest des Films (im Juni 1939 und nicht im Dezember 1941), an einem anderen Ort (in Paris und nicht in Casablanca). Vor allem aber spiegelt sie einen Gemütszustand der Figuren wider, der sich vom Rest des Films unterscheidet: In dieser Einstellung sind Rick und Ilsa glücklich.

 

Dieses Glück wird in neun weiteren Einstellungen präzisiert, die auf die Autofahrt folgen: Rick und Ilsa fahren auf einem Ausflugsdampfer die Seine entlang. An Bord kauft er Erdnüsse und wirft Ilsa spielerisch eine Frucht zu, die sie lachend auffängt. Außerdem verbringt das Paar einen Nachmittag in Ricks kleiner Wohnung: Sie arrangiert einen Frühlingsstrauß am offenen Fenster, er lässt im Hintergrund einen Champagnerkorken knallen – ein Rendezvous, das ganze fünf Einstellungen umfasst. Ins Revers seines Jacketts hat Rick sich an diesem Tag sogar eine kleine Blume gesteckt. Das Paar lächelt, wie schon bei der Autofahrt oder auf dem Boot. Rick prostet Ilsa zu. »Here’s looking at you, kid«, lautet sein romantischer Trinkspruch, der in der (aktuellen) deutschen Synchronfassung bekanntlich mit »Ich schau dir in die Augen, Kleines« übersetzt wird. Der Spruch wird von einem tiefen Blick in ihre Augen begleitet. Ebenso romantisch ist ein Tanz, den drei weitere Einstellungen zeigen. Ilsa lehnt ihre Wange an die seine; Rick führt sie elegant über das Parkett. Das Glück ist offenbar allgegenwärtig: am Tag und in der Nacht, zu Wasser und zu Lande, in der Natur und in einem Nachtclub.

Eine Aneinanderreihung von Situationen wie zum Beispiel Ausflug, Bootstour und Clubbesuch bezeichnet Christian Metz als syntage en accolade, als »Syntagma der zusammenfassenden Klammerung«[130]. Eine solche Klammerung ist zugleich typisch und untypisch für das classical cinema. Einerseits taucht sie in zahllosen Filmen auf, andererseits setzt sie sich innerhalb dieser Filme von der konventionellen Erzählweise ab. Inwiefern das so ist, erwähnt Christian Metz in einem Nebensatz: Der Betrachter solle bei der zusammenfassenden Klammerung nicht auf den Erzählfortgang achten. Die Handlung steht gewissermaßen still.

Der Stillstand


Wie Rick und Ilsa sich in Paris kennengelernt haben, wird nicht erzählt. Die in der romantic comedy übliche witzige Begegnung der Hauptfiguren – meet cute genannt[131] – bleibt ausgespart, da das erste Zusammentreffen für die Handlung des Melodramas nicht von Bedeutung ist: Der Kern der Geschichte ist ja die Trennung. Und so zeigt das erste Bild der Montagesequenz, dass das Paar sich bereits liebt. Wann Rick und Ilsa was in Paris unternommen haben, wird auch nicht ausgeführt. Denn das ist ebenfalls nicht von Belang: In Montagen wie diesen geht es ja gerade nicht um einen Ablauf. Christian Metz hebt darauf ab, dass der Zuschauer vielmehr ein Ganzes erkennen können muss – im Beispielfall also Rick und Ilsas Liebe. Die Liebe bildet die ›geschweifte Klammer‹, die die Einstellungen zusammenhält. Das ist in diesem Fall sogar doppeldeutig, da accolade auch ›Umarmung‹ bedeuten kann.

Statt der Formulierung syntage en accolade hat sich als Bezeichnung für eine solche umklammernde Szenenabfolge das Wort ›Montagesequenz‹ durchgesetzt, respektive montage sequence. Dieser Begriff findet nicht nur in Drehbüchern, sondern auch in Filmanalysen Verwendung. David Bordwell definiert: »Der Zuschauer muss das als kurze Zusammenfassung einer langen Ereigniskette verstehen, und wieder werden kleine eigenständige (und nicht immer messbare) Teile der Zeit der Erzählung übersprungen.«[132] Dass es zwei Begriffe für das gleiche Prinzip gibt, syntage en accolade und montage sequence, hängt nicht nur mit den unterschiedlichen Muttersprachen der beiden Autoren zusammen. Darin spiegelt sich auch eine unterschiedliche Sicht auf ein und dieselbe Einstellungsabfolge. Metz sieht vor allem die Klammer, Bordwell hingegen die Brüche. Während die Formulierung ›syntage en accolade‹ den Zusammenhang zwischen den Bildern betont, lenkt der Begriff ›Montagesequenz‹ die Aufmerksamkeit auf die Zeitsprünge und Szenenwechsel.

Der Hinweis auf die Brüche verdeutlicht, dass die Montagesequenz immer eine Form elliptischen Erzählens ist. Mehrere Szenen, die einen längeren Zeitraum umfassen, werden hier zusammengefasst; »hier wird Handlungsgeschehen komprimiert, in einer Art von ›sequentieller Raffung‹ beschleunigt, rhythmisiert und resümiert«[133]. Dabei passieren die Ortswechsel so schnell, dass die Szenen im Drehbuch ausnahmsweise keine eigene Nummer erhalten, sondern summarisch angegeben werden, selbst wenn das Geschehen an unterschiedlichen Drehorten umgesetzt werden muss. Wie groß die Zeitsprünge sind, lässt sich in der Regel nicht abschätzen. Zwischen dem Autoausflug und der Bootstour sind wahrscheinlich ein paar Tage vergangen; Ilsa trägt ein anderes Kleid, und auch Rick hat den Anzug gewechselt. Als Zeitangabe ließe sich lediglich ›Frühling‹ notieren.

Auffällig ist, dass Rick und Ilsa während ihrer Aktivitäten nahezu stumm sind. Michael Curtiz hat sogar einen ursprünglich bei der Autofahrt vorgesehenen Dialog gestrichen.[134] Offenbar hatte der Regisseur schon während der Dreharbeiten eine Montagesequenz im Sinn, denn diese werden im klassischen Kino fast immer ohne Dialog gestaltet.[135] Stattdessen erklingt Musik; heutzutage sind es einprägsame Popsongs, in den vierziger Jahren wurden Motive aus der Filmmusik verwendet.[136] So auch in CASABLANCA: Während der Montagesequenz werden nur fünf kurze Hauptsätze geäußert. Und diese wenigen Sätze handeln ausgerechnet davon, dass Ilsa nicht über die Beziehung sprechen will, was Rick mit seinem Trinkspruch akzeptiert. Er schaut ihr in die Augen, statt sie zu befragen: »Keine...

Erscheint lt. Verlag 21.5.2015
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Kunst / Musik / Theater Film / TV
Schlagworte Casablanca • Dramaturgie • Eternal sunshine of the spotless mind • Film • Filmanalyse • Filmerzählung • Filmgeschichte • HFF München • Klassik • Letztes Jahr in Marienbad • Marienbad • Moderne • Nachmoderne • Narration • Produktion • Sachbuch
ISBN-10 3-10-401767-0 / 3104017670
ISBN-13 978-3-10-401767-9 / 9783104017679
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