Hesmats Flucht

Wolfgang Böhmer wurde 1970 in Innsbruck (Österreich) geboren. Er ist seit 14 Jahren als Journalist für den österreichischen Rundfunk im In- und Ausland tätig. Für den ORF berichtete er aus Afghanistan, Pakistan, dem Kosovo, aus Bürgerkriegs- und Katastrophengebieten. Seit Jahren arbeitet er eng mit dem SOS-Kinderdorf zusammen und besuchte für SOS auch die Kriegsregion in Somalia.

"Ein fantastisches Buch - das eine beeindruckende Ahnung vom Schicksal vieler afghanischer Jugendlicher gibt." Westfälische Nachrichten

Hesmat hatte sich nicht umgedreht. Erst als das Auto die Ebene n rdlich von Mazare Sharif in Richtung Osten durchschnitt, wurde ihm bewusst, dass er wohl nie mehr zur ckkehren w rde. Er hatte auf der zerfetzten R ckbank einen Platz bekommen, eingepfercht zwischen drei fremden M ern, die sich unruhig hin und her schoben und nach jedem Schlagloch von Neuem begannen, ihren Platz zu verteidigen.
Sobald sie Mazar verlassen hatten, leerten sich die Stra n, und sie kamen schneller voran. Sie waren zu sechst in dem Wagen, in dem Tuffon ihm einen Platz organisiert hatte. Tuffon, der Freund seines Vaters, hatte Hesmat lange umarmt, dann hatte er ihn in das Auto gesetzt. Jetzt flatterte der Fluchtplan in Hesmats H en im Fahrtwind des offenen Fensters, und er wiederholte noch einmal die Nummern, Adressen und jeden Punkt auf dem Plan, den Tuffon n telang entworfen hatte und den er l st auswendig kannte.
Ich wei nicht, ob du alles noch so vorfinden wirst, wie ich es in Erinnerung habe , hatte Tuffon gesagt. Vieles hat sich wahrscheinlich ver ert, aber das meiste wird dir doch n tzlich sein. Er hatte einen ganzen Tag an der improvisierten Karte gezeichnet. Stundenlang war er in seinem Gesch auf und ab gegangen und hatte versucht, sich Details der Route wieder in Erinnerung zu rufen. Immer wieder hatte er der Karte einen weiteren Hinweis, einen weiteren wichtigen Punkt hinzugef gt. Er hatte alles aufgezeichnet, was f r Hesmat von Bedeutung sein konnte. Wege, die er meiden sollte, D rfer, die er umgehen musste. Er hatte ihm gezeigt, wo er Menschen treffen w rde, die ihm m glicherweise weiterhalfen. Er hatte auch von Schluchten gesprochen, die den sicheren Tod bedeuteten.
Du darfst auf keinen Fall den direkten Weg nehmen , hatte er gesagt. Egal wie verlockend die Sache auch aussieht, du musst zuerst nach Osten, hinein in die Berge. Es ist ein sehr langer Umweg, aber es ist der einzig sichere Weg. Die Grenze im Norden, hin ber nach Tadschikistan, ist dicht. Man wird st ig kontrolliert, au rdem wird dort gek ft. H r mir gut zu , sagte er dann. Du wirst viele Leute auf deinem Weg treffen. Sind es Fl chtlinge, ist es gut. Wenn du Schmuggler triffst, kannst du dich ihnen f r ein paar Tage anschlie n, musst aber vorsichtig sein. Du darfst nicht zu lange bei ihnen bleiben. Schlaf nicht in ihrem Zelt. Sag ihnen, du w t auf dem Weg nach Hause. Sag, du warst bei deinen Verwandten in Kabul und du bist jetzt auf dem Weg zur ck zu deinem Vater. Sie werden dich nichts Genaueres fragen. Lass dich nicht t chen. Und vergiss nicht, du musst zuerst in die Berge! Lass dich von niemandem dazu berreden, direkt ber die Grenze zu gehen!
Es war eine sehr genaue Karte und Hesmat fasste Mut. Er w rde damit ber die Grenze kommen. Von dort w rde er mit dem Zug einfach nach Moskau fahren, wo Tuffon Freunde hatte. Sie werden auf dich warten , hatte er gesagt, ich gebe ihnen Bescheid. Du kannst ihnen vertrauen. Du musst sie unbedingt finden. Ohne Freunde hast du in Moskau keine Chance. Immer wieder waren Tuffon Zweifel gekommen. Es war Selbstmord, sagte er sich, aber der Junge hatte den Willen seines Vaters geerbt.
Zwei Tage nach dem Streit mit seinem Gro ater war Hesmat, noch bevor die Sonne aufgegangen war, in das Auto nach Kunduz gestiegen. Jetzt holperte der Wagen ber die schlechte Stra und lie die Stadt in einer Staubwolke verschwinden, die der Wagen hinter sich herzog. Die Dollarscheine, die nicht mehr in seinen G rtel gepasst hatten, hatte er in seine Unterhose gestopft. Jetzt zwickten die Scheine in seinem Schritt. Das gro Tuch seiner Mutter, das er zu einer Schultertasche gebunden hatte, lag auf seinen Knien. Nachdem sich der Gro ater am vergangenen Abend schlafen gelegt hatte, hatte er Brot, ein St ck getrocknetes Fleisch und vier Eier in das Tuch gepackt und alles hinter dem Haus versteckt. Er konnte kein Auge zumachen, so gro war seine Aufregung und vor allem die Angst.
Sein kleiner Bruder Hasip schlief ruhig neben i