Die Wellenläufer (eBook)

Softcover mit Farbschnitt

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2024 | 1. Auflage
330 Seiten
Drachenmond Verlag
978-3-95991-677-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Wellenläufer -  Kai Meyer
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Ein magisches Beben erschüttert die Küsten der Karibik. In den Piratenhäfen werden Kinder mit einem besonderen Talent geboren: Sie können über Wasser gehen.  Vierzehn Jahre später glaubt Jolly, dass außer ihr keine Wellenläufer mehr leben. Bis sie Munk begegnet. Auch er geht auf dem Meer und kann aus Muscheln einen uralten Zauber wirken. Beide erwartet ein finsteres Schicksal: Mitten im Atlantik dreht sich ein gewaltiger Mahlstrom, dessen Boten Verderben über die Inseln bringen und Jagd auf die Wellenläufer machen. Nur Jolly und Munk können den Strudel zwischen den Welten schließen. Aber der Weg dorthin ist lang, gefahrvoll und wird ihre Freundschaft auf eine grausame Probe stellen. Der erste Band der Wellenläufer-Trilogie Band 1: Die Wellenläufer Band 2: Die Muschelmagier Band 3: Die Wasserweber

Kai Meyer hat rund siebzig Romane veröffentlicht, Übersetzungen erscheinen in dreißig Sprachen. Seine Geschichten wurden als Film, Hörspiel und Graphic Novel adaptiert und mit Preisen im In- und Ausland ausgezeichnet.

Kai Meyer hat rund siebzig Romane veröffentlicht, Übersetzungen erscheinen in dreißig Sprachen. Seine Geschichten wurden als Film, Hörspiel und Graphic Novel adaptiert und mit Preisen im In- und Ausland ausgezeichnet.

Die Quappe


Mit weiten Schritten lief Jolly über den Ozean. Ihre nackten Füße versanken fingerbreit im Wasser. Unter ihr gähnte der tintenblaue Abgrund der See, bis zum Meeresboden mochten es einige hundert Mannslängen sein.

Jolly konnte seit ihrer Geburt über Wasser gehen. Mit den Jahren hatte sie gelernt, sich mühelos auf der schwankenden Oberfläche zu bewegen. Für sie fühlte es sich an, als liefe sie durch eine Pfütze. Flink sprang sie von einer Woge zur nächsten und wich den schaumigen Wellenkämmen aus, die manchmal zu tückischen Stolperfallen wurden. Um sie herum tobte eine Seeschlacht. Kanonenkugeln pfiffen ihr um die Ohren, aber selten kam ihr eine so nahe, dass sie den Luftzug spürte. Beißender Rauch trieb über das Wasser zwischen den beiden Segelschiffen und vernebelte Jollys Sicht. Das Knarren der Planken und Flattern der großen Segel mischte sich mit dem Geschützdonner. Der Qualm des entzündeten Schwarzpulvers brannte in ihren Augen. Sie hatte diesen Geruch noch nie gemocht, ganz im Gegensatz zu den anderen Piraten: Ihre Freunde von der Mageren Maddy sagten, nichts rieche so gut wie der Duft abgefeuerter Kanonen. Und wenn dann in der Ferne die Bordwände feindlicher Schiffe barsten und das Geschrei der Gegner über das Meer wehte, war das besser als jedes Gelage mit Rum und Gin, Jolly mochte Rum nicht besonders, genauso wenig wie den Qualm der Bordkanonen. Aber ganz gleich was ihre Nase davon hielt – sie kannte ihre Aufgabe, und sie würde sie zu Ende bringen.

Bis zu dem gegnerischen Schiff, einem spanischen Dreimaster mit zwei Kanonendecks und dreimal so vielen Geschützen wie auf der Mageren Maddy, waren es noch fünfzig Schritt. Die Galeone war rundherum mit prachtvollen Verzierungen geschmückt, geschnitzten Gesichtern, die dann und wann wie vorwitzige Fabelwesen durch die Rauchwände lugten. Manche wirkten selbst auf die Entfernung so echt, dass sie jeden Augenblick zum Leben erwachen mochten. Die Beiboote des Spaniers befanden sich an den Seiten des Rumpfes; eines war von einer Kugel der Maddy gestreift worden, ein Teil der Aufhängung war zerfetzt, und nun schaukelte das kleine Boot bei jeder Erschütterung gegen den mächtigen Rumpf und erzeugte dunkle, hohle Laute.

Die Strömung war auf Jollys Seite und trieb sie während ihres Laufs noch schneller auf die Galeone zu. Jolly musste nur einen Fuß auf das Wasser setzen, um zu spüren, in welche Richtung sich die See bewegte, manchmal gar, ob hinterm Horizont Unwetter aufzogen oder Stürme tobten. Nie im Leben hätte sie sich vorstellen können, längere Zeit an Land zu verbringen. Sie brauchte die Vertrautheit des Ozeans, das Gefühl des bodenlosen Abgrunds unter ihren Füßen. So wie andere in großen Höhen Schwindel packte, so wurde Jolly von Panik ergriffen, wenn sie sich allzu weit vom Meer und seiner tosenden Brandung entfernte.

Inzwischen lief sie ein wenig geduckt, auch wenn auf dem Deck des Spaniers noch niemand auf sie aufmerksam geworden war. Sonderbarerweise entdeckte sie hinter den gedrechselten Geländern der Reling keine Menschenseele. Eine Galeone wie diese trug mindestens zweihundert Mann an Bord, und alle mussten damit rechnen, dass die Piraten von der Mageren Maddy versuchen würden, das spanische Schiff zu entern. Warum also zeigte sich niemand an Deck?

Normalerweise hätte Captain Bannon, der Anführer der Freibeuter und Jollys bester Freund, sich von einem Schiff wie diesem fern gehalten: zu groß, zu stark, zu schwer bewaffnet. Ganz zu schweigen davon, dass auf der Mageren Maddy gerade einmal siebzig Piraten Platz fanden und sie den Spaniern im Kampf Mann gegen Mann zahlenmäßig weit unterlegen waren.

Aber als das Schiff am Horizont aufgetaucht war, hatte trotz allem einiges dafür gesprochen, dass es ein lohnender Fang sein könnte. Captain Bannon persönlich hatte den Ausguck der Maddy erklommen und die Silhouette der Galeone lange mit dem Fernglas studiert. »Sie haben die Segel gerefft«, hatte er zu seiner Mannschaft hinabgerufen. »Sieht aus, als wären sie in Schwierigkeiten.«

Das Meer war an dieser Stelle zu tief zum Ankern. Das bedeutete, dass sich der Spanier trotz guter Windverhältnisse treiben ließ – was einfach keinen Sinn ergab. Aber Bannon wäre nicht einer der durchtriebensten Piraten der Karibischen See gewesen, hätte er sich in solchen Fällen nicht von seiner Nase und seiner Neugier leiten lassen.

»Ich hab ein seltsames Gefühl dabei«, hatte er gesagt, bevor er seine Männer an die Kanonen schickte, »aber vielleicht werden wir alle von dieser Sache noch mehr haben, als es jetzt den Anschein hat.« Captain Bannon sagte oft solche Dinge, deshalb wunderte sich niemand. Seine Mannschaft vertraute ihm – vor allem Jolly, für die Bannon so etwas wie Vater und Mutter zugleich war, seit er sie als kleines Kind auf dem Sklavenmarkt von Tortuga gekauft und zum Mitglied seiner Crew gemacht hatte.

Kanonendonner, lauter als zuvor, ließ Jolly einen Satz zur Seite machen. Sie spürte den Sog der schweren Eisenkugel und glaubte sie, kaum eine Armlänge entfernt, an sich vorüberpfeifen zu sehen. Als sie sich umschaute, bestätigten sich ihre schlimmsten Befürchtungen.

Die Magere Maddy war getroffen.

Eine Wolke aus Wasser und Holzsplittern stieg vom Heck der schnittigen Schebecke auf, einem Schiffstyp, den man in dieser Gegend nicht oft sah. Die Reling der Maddy bestand nicht aus Schmuckpfeilern wie die der Galeone, sondern aus einer hüfthohen, schlichten Holzwand, in die man Öffnungen für die Geschützrohre eingelassen hatte. Das Schiff war blutrot angestrichen, und im vorderen Teil hatte Bannon weiße Fangzähne auf den roten Rand malen lassen, sodass der Bug den Eindruck eines offenen Raubtiermauls erweckte.

Aufgebrachtes Gebrüll schallte zu Jolly herüber, Stimmfetzen, die durch die grauen Qualmwände zwischen den Schiffen herüberwehten.

Jolly wandte sich halb um und zögerte. Von hier aus ließ sich nicht erkennen, ob die Maddy ernsthafte Schäden erlitten hatte. Bitte lass ihr nichts passiert sein!, flehte Jolly in Gedanken.

Dann aber erinnerte sie sich an Bannons Befehl, an ihre Verpflichtung ihm und den anderen gegenüber, und sie wandte sich wieder nach vorn. Mit wenigen Schritten erreichte sie den Rumpf der spanischen Galeone und lief daran entlang, bis sie unter einer der hinteren Geschützpforten stehen blieb. Das untere Kanonendeck befand sich drei Meter über der Wasseroberfläche. Jolly war nicht einmal fünf Fuß groß, aber es würde ihr keine Mühe bereiten, eines der Wurfgeschosse aus ihrer Umhängetasche durch die Öffnung zu befördern.

Sie schlug die Klappe ihrer Ledertasche zurück und zog eine der Flaschen heraus, die bei jedem Schritt gefährlich gegeneinander klirrten. Sie waren mit einer bronzefarbenen Flüssigkeit gefüllt, die Hälse mit Wachs versiegelt.

Jolly holte aus, atmete tief durch – und schleuderte die Flasche durch die erste Geschützluke, knapp vorbei an der Mündung des Kanonenrohrs. Jemand stieß einen Alarmruf aus, laut genug, dass sie ihn hier draußen hören konnte. Dann schoss eine grüne Rauchwolke aus der Luke, so dicht und stinkend, dass Jolly rasch zur nächsten Öffnung lief. Dort zog sie eine zweite Flasche hervor und warf. So arbeitete sie sich von Öffnung zu Öffnung, bis aus den meisten Luken grüner Dunst wölkte. Keine der unteren Kanonen feuerte mehr. Die Kanoniere hinter den Geschützen mussten blind sein vor Rauch, und aus Erfahrung wusste Jolly, dass der Gestank selbst dem abgebrühtesten Seemann auf den Magen schlug.

Zur Abwechslung versuchte sie, die nächste Flasche auf das höher gelegene zweite Kanonendeck zu werfen. Auch hier traf sie zielsicher in eine der Luken. Wenn es so weiterging, würde ihre Mission zu einem vollen Erfolg werden. Mit etwas Glück würde sie die Mannschaft der Galeone im Alleingang außer Gefecht setzen. Bannon und seine Piraten mussten das Schiff nur noch entern und ihre hustenden und halb blinden Gegner an Deck in Empfang nehmen. Ernsthaften Widerstand hatten sie nicht mehr zu erwarten.

Doch Jollys nächstem Wurf zum oberen Kanonendeck war weniger Erfolg beschieden. Die Flasche flog gerade in jenem Moment durch die Luke, als die Männer im Inneren die Kanone nach außen schoben, um die nächste Kugel abzufeuern. Das Glas zerschellte am Stahl des Kanonenrohrs, die Flüssigkeit spritzte gegen den Schiffsrumpf und verdampfte augenblicklich zu ätzendem Dampf. Jolly hechtete vorwärts und warf sich flach auf die Wasseroberfläche, um dem Dunst zu entgehen. Zugleich wurde über ihr die Kanone gezündet. Einen Herzschlag später ertönte aus der Richtung des Piratenschiffs ein weiterer Einschlag. Holz zerbarst, gefolgt von einer Explosion – die Kugel war durch den Rumpf der Mageren Maddy gedrungen und hatte das Munitionslager getroffen.

Jolly schossen Tränen in die Augen, als sie sah, wie Flammen aus der klaffenden Öffnung loderten. Sie wusste, was ein solcher Treffer bedeutete – sie hatte es oft genug miterlebt. Sonst waren es immer die gegnerischen Schiffe gewesen, die ein solches Schicksal ereilt hatte. Aber jetzt bestand kein Zweifel mehr. Die Maddy würde untergehen. Verdammt, wie hatte Bannon solch einen Fehler machen können! In ihrer Zeit als Zögling des Captains hatte Jolly auf drei Schiffen gelebt, doch die Maddy war ihr von allen am vertrautesten geworden. Sie...

Erscheint lt. Verlag 31.10.2024
Reihe/Serie Wellenläufer
Mitarbeit Cover Design: Christin Thomas
Verlagsort Hürth
Sprache deutsch
Themenwelt Kinder- / Jugendbuch Jugendbücher ab 12 Jahre
Schlagworte Erdbeben • Magie • Meer • Muscheln • Ozean
ISBN-10 3-95991-677-9 / 3959916779
ISBN-13 978-3-95991-677-6 / 9783959916776
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