Die Wasserweber (eBook)
330 Seiten
Drachenmond Verlag
978-3-95991-679-0 (ISBN)
Kai Meyer hat rund siebzig Romane veröffentlicht, Übersetzungen erscheinen in dreißig Sprachen. Seine Geschichten wurden als Film, Hörspiel und Graphic Novel adaptiert und mit Preisen im In- und Ausland ausgezeichnet.
Kai Meyer hat rund siebzig Romane veröffentlicht, Übersetzungen erscheinen in dreißig Sprachen. Seine Geschichten wurden als Film, Hörspiel und Graphic Novel adaptiert und mit Preisen im In- und Ausland ausgezeichnet.
Der träumende Wurm
Am Morgen ihres letzten Tages in Aelenium besuchte Jolly den Hexhermetischen Holzwurm.
Sein Haus im Dichterviertel der Seesternstadt war schmal, gerade breit genug, um einer niedrigen Tür und einem Fenster nebeneinander Platz zu bieten. Wie überall in Aelenium gab es auch hier keine rechten Winkel und kaum eine gerade Wand. Die Gebäude der Stadt waren aus dem elfenbeinähnlichen Material der Koralle gearbeitet, manche auf natürliche Weise gewachsen, anderen von Steinmetzen und Künstlern geschaffen.
»Ich bin’s!«, rief sie, als sie an dem Wächter vorbeitrat und die Tür öffnete. »Jolly.«
Sie hatte nicht mit einer Antwort gerechnet und bekam keine. Sie wusste, wie es um den Wurm stand. Hätte sich sein Zustand verändert, hätte man sie darüber in Kenntnis gesetzt.
Jolly schloss die Tür hinter sich. Das, was sie dem Hexhermetischen Holzwurm zu sagen hatte, ging den Posten nichts an. Zudem fürchtete sie, Munk könnte ihr gefolgt sein und sich unbemerkt hinter ihr ins Haus stehlen. Dass er ihr Gespräch mit dem Holzwurm mit anhörte, war das Letzte, was sie wollte.
Dies hier war ihr Abschied. Ihrer ganz allein.
Sie stieg die unregelmäßigen Treppenstufen hinauf ins obere Stockwerk. Dort, im größten Raum des Hauses, hing der Wurm in seinem Kokon und träumte.
Das Zimmer unter dem Kuppeldach war zu einem guten Teil mit dem feinen Gespinst ausgefüllt, das der reglose Körper des Wurms absonderte – das einzige Zeichen, dass noch Leben in ihm war.
Vor einigen Tagen, als die ersten Anzeichen seiner Verpuppung sichtbar wurden, hatte Jolly gebeten, dass man ihn im Palast unterbringen möge, sogar in ihrem eigenen Zimmer. Doch Urvater und der Geisterhändler hatten das abgelehnt. Sie hatten ihre Entscheidung nicht begründet.
Jolly war nicht wirklich überrascht gewesen. Sie und Munk waren die beiden wichtigsten Menschen Aeleniums, das wurde ihnen immer wieder eingeredet. Keinem Unbefugten war es erlaubt, ihnen zu nahe zu kommen. Schon gar nicht etwas, das womöglich aus dem Kokon schlüpfen würde, wenn der Wurm seine Verpuppung abgeschlossen hatte. Falls etwas schlüpfen würde.
»Hallo, Wurm.«
Jolly blieb vor dem Wall aus Seidenfäden stehen. Die Fenster der Dachkammer waren mit lichtdurchlässigen Stoffen bespannt worden, zum Schutz vor Blicken aus den gegenüberliegenden Häusern, aber auch, weil man fürchtete, hungrige Möwen könnten den wehrlosen Kokon entdecken. Verglaste Fenster gab es nur in den Herrschaftspalästen Aeleniums, nicht aber in den Unterkünften des einfachen Volkes; hier schützte man sich vor Wind und Wetter mithilfe hölzerner Läden, die zugleich auch das Licht aussperrten. Das Gewebe, das man stattdessen vor die Fenster des Speichers gespannt hatte, machte die einfallende Helligkeit milchig und verwischte die Ränder der Schatten. Im ganzen Raum gab es nirgends mehr einen scharfen Übergang zwischen Licht und Dunkel, alles ging ineinander über, vermengte sich.
»Hallo«, sagte Jolly noch einmal, weil der Anblick des unheimlichen Seidendickichts ihr mehr zusetzte, als sie erwartet hatte. Buenaventure, der Pitbullmann, kam zweimal am Tag hierher, um nach dem Rechten zu sehen. Er hatte ihr von seinen Besuchen erzählt, aber dies war das erste Mal, dass sie das Ausmaß der Verpuppung mit eigenen Augen sah.
Die Seidenfäden waren zu einem gewaltigen Netz verwoben, das sich vom Boden bis zu den Dachschrägen erstreckte – einem Spinnennetz nicht unähnlich, nur viel feinmaschiger und ohne ein offensichtliches Muster. Das geisterhafte Fadendickicht reichte mehrere Schritt in die Tiefe. In seinem Zentrum hing eine ovale Verdickung – der Kokon des Wurms. Er schien zu schweben. Die Fäden, die ihn auf Schulterhöhe über dem Boden hielten, waren fast unsichtbar.
Der Hexhermetische Holzwurm war inmitten des Kokons nicht mehr zu erkennen, seine Form verbarg sich unter einer handbreiten Schicht aus Seide. Nur ein schwaches Pulsieren verriet, dass er lebte.
»Das ist ziemlich… beeindruckend«, sagte Jolly unsicher. Der Anblick schien ihren Mund zu verkleben, so als füllte auch er sich mit dem Gespinst. »Ich hoffe, es geht dir gut da drinnen.«
Der Wurm antwortete nicht. Buenaventure hatte sie gewarnt: Gespräche mit ihm waren derzeit eine einseitige Angelegenheit. Trotzdem war der Pitbullmann überzeugt, dass der Wurm sie hören konnte. Jolly war sich dessen nicht ganz so sicher.
»Du hast uns allen einen ziemlichen Schrecken eingejagt«, sagte sie. »Du hättest uns wenigstens warnen können, dass so was passieren würde. Ich meine, keiner von uns weiß besonders viel über Hexhermetische Holzwürmer.« Sie seufzte und streckte vorsichtig eine Hand aus, um die vorderen Fäden des Gespinsts zu berühren. Die Oberfläche wellte sich wie ein Vorhang. Es war, als hätte ein Lufthauch ihre Fingerkuppe gestreift.
»Ich bin hergekommen, um Lebewohl zu sagen.«
Sie zog die Hand zurück und hakte den Daumen linkisch hinter ihren Gürtel. »Munk und ich, wir werden aufbrechen. Zum Schorfenschrund. Alle hier in Aelenium hoffen, dass wir es schaffen, die Quelle des Mahlstroms zu versiegeln: die Edelleute, Hauptmann D’Artois, der Geisterhändler, Urvater. Wir selbst natürlich auch. Und, ich weiß nicht … Munk ist wirklich gut mit der Muschelmagie. Vielleicht bekommt er es tatsächlich hin.« Sie machte eine kurze Pause, dann fuhr sie fort. »Ich selbst bin noch nicht so weit, auch wenn keiner das wahrhaben will. Jedenfalls sagt es mir niemand ins Gesicht. Ich bin nicht mal halb so geschickt mit den Muscheln wie Munk. Er … na, du kennst ihn ja. Er ist so ehrgeizig. Wie besessen. Und immer noch ist er wütend auf mich – weil ich auf der Carfax die Muschelmagie gegen ihn gerichtet habe. Aber hat er mir denn eine Wahl gelassen?«
Sie begann, vor dem Gespinst auf und ab zu gehen. Sie hätte dieses Gespräch lieber mit jemandem geführt, der ihr einen Rat geben konnte. Aber auch wenn die Gefährten hier in Aelenium an ihrer Seite waren – die Piratenprinzessin Soledad, Kapitän Walker und sein bester Freund Buenaventure, der Hüne mit dem Hundegesicht –, keiner von ihnen konnte sich wirklich in ihre Lage versetzen.
Außer vielleicht Griffin. Aber Griffin war verschwunden. Sein Seepferd war allein nach Aelenium zurückgekehrt. Bei dem Gedanken an ihn spürte Jolly, dass ihre Knie weich wurden. Ehe sie nachgeben konnten, ließ sie sich ein wenig unbeholfen im Schneidersitz auf dem Boden nieder. Es war zu spät, um die Tränen zurückzuhalten, die über ihre Wangen liefen.
»Keiner kann mir sagen, was aus Griffin geworden ist. Alle behaupten, er ist tot. Aber das kann nicht sein. Griffin darf nicht tot sein. Das sagt man so, oder? Ich meine, darf … Ziemlicher Unsinn, was? Als gäbe es für so was irgendwelche Regeln und Gesetze.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich glaube ganz fest daran, dass er noch lebt.«
Der Kokon im Herzen des Gewebes pulsierte ungerührt weiter. Bei jeder schwachen Ausdehnung, jedem Zusammenziehen lief eine Welle wie ein tiefer Atemzug durch die Seide.
»Was wird aus dir, wenn du aus diesem Zeug rauskommst?«, fragte sie. »Weißt du selbst das überhaupt? Wie steht es jetzt um die Weisheit der Würmer?«
Sie bemerkte, dass sie beim Sprechen die Finger um ihre Knie gekrallt hatte, so fest, dass es wehtat. Erschrocken ließ sie los.
»Urvater und der Geisterhändler tuscheln von morgens bis abends miteinander. Sie sagen, der Angriff auf Aelenium steht bevor. Und heute Morgen haben sie sich entschieden.«
Sie strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht.
»Wir brechen auf«, sagte sie erschöpft. »Die Übungen sind abgeschlossen. Ich glaube, Munk und ich können nicht mal die Hälfte von dem, was wir können sollten. Aber es ist keine Zeit mehr. Spätestens in zwei oder drei Tagen ist Tyrones Flotte hier, und die Tiefen Stämme werden wohl gleichzeitig angreifen oder sogar noch früher. Keiner weiß, wie lange die Soldaten Aelenium halten können. Vielleicht ein paar Tage. Vielleicht nur ein paar Stunden.«
Wieder verging eine ganze Weile, in der sie kein Wort sagte und nachdenklich vor sich auf den Dielenboden starrte. Sie malte sich aus, was passieren würde, wenn die Diener des Mahlstroms die Stadt erreichten. Der riesige Strudel, der am Horizont auf offener See tobte, hatte die Klabauter unter seine Herrschaft gebracht. Tausende von ihnen zogen in Heerschwärmen auf Aelenium zu. Und auch der gefürchtete Kannibalenkönig Tyrone mit seiner Flotte würde auf der Seite des Mahlstroms kämpfen.
Früher oder später würde Aelenium sich geschlagen geben müssen. Erst recht, falls es Munk und ihr nicht gelang, den Mahlstrom zu besiegen. Doch genau dazu sollte ihnen der Kampf um die Seesternstadt die nötige Zeit verschaffen. Dutzende, vielleicht hunderte würden ihr Leben lassen, um kostbare Stunden und Minuten für die beiden Quappen herauszuschinden, die tief am Meeresgrund versuchten, den Mahlstrom in seine Muschel einzusperren.
Und neben allem anderen – Griffins Verschwinden, Munks Ehrgeiz und der Furcht vor dem ungeheuerlichen Strudel, der all das Böse nach Aelenium und über die Karibik brachte – war es gerade das, was Jolly am meisten beschäftigte: die Tatsache, dass Menschen sterben würden, um sie und Munk zu...
Erscheint lt. Verlag | 31.10.2024 |
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Reihe/Serie | Wellenläufer |
Mitarbeit |
Cover Design: Christin Thomas |
Verlagsort | Hürth |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Kinder- / Jugendbuch ► Jugendbücher ab 12 Jahre |
Schlagworte | Klabauter • Magie • Mahlstrom • Meer • Ozean |
ISBN-10 | 3-95991-679-5 / 3959916795 |
ISBN-13 | 978-3-95991-679-0 / 9783959916790 |
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