Gilded - Die Versuchung des Goldes (Gilded 1) (eBook)
512 Seiten
arsEdition GmbH (Verlag)
978-3-8458-6083-1 (ISBN)
Marissa Meyer liebt Fantasy, Grimms Märchen und Jane Austen. Sie hat Kreatives Schreiben mit dem Schwerpunkt Kinderliteratur studiert und lebt mit ihrem Mann und ihren zwei Katzen in Tacoma, Washington.
Kapitel 2
Serilda schlang den Umhang fest um ihren Körper, als sie die Schule verließ. Es würde noch eine Stunde hell bleiben – das reichte, um zur Mühle zurückzukehren –, aber der Winter war kälter als alle, an die sie sich erinnern konnte. Der Schnee lag kniehoch und die Straßen waren stellenweise gefährlich glatt, wo die Wagenräder sulzige Furchen gegraben hatten. Lange bevor sie zu Hause ankäme, würde die Nässe ihre Stiefel durchweichen und in ihre Strümpfe dringen, und vor diesem Ungemach graute ihr so sehr, wie sie sich auf das Kaminfeuer freute, das ihr Vater entfacht haben würde, sowie auf die dampfende Brühe, die sie zu trinken bekäme, während sie ihre Zehen aufwärmte.
Nur wenn sie sich wie jetzt im tiefsten Winter auf den Heimweg machen musste, bedauerte Serilda, dass sie so weit draußen wohnten.
Nun wappnete sie sich gegen die Kälte, zog die Kapuze über und marschierte mit gesenktem Kopf und verschränkten Armen möglichst schnell voran, während sie gleichzeitig darauf achtete, bloß nicht auf dem tückischen Glatteis auszurutschen, das unter der frischen, federweichen Schneedecke lauerte. Die kalte Luft roch nach dem Rauch der Holzfeuer, der aus den nahe gelegenen Schornsteinen entwich.
Immerhin sollte es in der Nacht nicht noch einmal schneien. Am klaren Himmel waren keine bedrohlich grauen Wolken zu sehen. Der Schneemond würde makellos leuchten, und selbst wenn es nicht derart bemerkenswert war, wie das Zusammenfallen eines Vollmonds und der Wintersonnenwende, spürte Serilda, dass auch der Vollmond in der ersten Nacht des neuen Jahres mit einem Zauber verbunden war.
Die Welt war voller kleiner Verzauberungen, wenn man bereit war hinzuschauen. Und Serilda hielt stets die Augen auf.
»Die Wilde Jagd wird den Jahreswechsel ebenso feiern wie wir alle«, flüsterte sie, um sich abzulenken, weil ihre Zähne klapperten. »Nach dem Dämonenritt gibt es ein Festmahl aus den Tieren, die sie erbeutet haben, und dazu trinken sie warmen Gewürzmet mit dem Blut …«
Mit einem Mal wurde sie zwischen den Schulterblättern von einem harten Gegenstand getroffen. Sie schrie auf, drehte sich um und rutschte aus. Taumelnd fiel sie rückwärts und landete weich auf einem Kissen aus Schnee.
»Hab sie!«, hörte sie kurz darauf Anna entzückt rufen. Darauf folgte fröhliches Gelächter und Gejohle, während die Kinder aus ihren Verstecken hervorkamen: fünf kleine Gestalten, die mit verschiedenen Woll- und Fellschichten bekleidet waren. Sie tauchten hinter Baumstämmen, Wagenrädern und einem Busch auf, der von Eiszapfen niedergedrückt wurde.
»Wo warst du denn so lange?«, fragte Fricz mit einem wurfbereiten Schneeball in seiner behandschuhten Hand, während Anna rasch einen neuen zusammenkratzte. »Wir liegen seit fast einer Stunde auf der Lauer. Nickel hat schon über Frostbeulen geklagt!«
»Es ist gnadenlos kalt hier«, sagte Nickel, Fricz’ Zwillingsbruder, und hüpfte von einem Bein aufs andere.
»Ach, halt den Schnabel! Nicht mal das Baby jammert, du Mimose.«
Gerdrut, mit fünf Jahren die Jüngste, drehte sich mit einem genervten Gesichtsausdruck zu ihm um. »Ich bin kein Baby!«, schrie sie und warf einen Schneeball nach ihm. Obwohl sie gut gezielt hatte, landete er mit einem traurigen Platschen vor seinen Füßen.
»Ups, ich wollte dir nur eins überbraten«, sagte Fricz. Näher würde er einer Entschuldigung nie kommen. »Ich weiß, dass du bald eine große Schwester wirst.«
Damit war Gerdruts Wut rasch besänftigt und sie reckte mit einem stolzen Schnauben das Kinn. Sie wurde nicht nur als das Baby der Gruppe angesehen, weil sie die Jüngste war, sondern auch, weil sie sehr klein für ihr Alter war. Außerdem war sie mit den Sommersprossen auf ihren runden Wangen und den rotblonden Löckchen, die sich nie zu verheddern schienen, obwohl sie Annas Akrobatik nacheiferte, sehr zart.
»Tatsache ist und bleibt«, zischte Hans, »dass wir alle bibbern. Kein Grund, den sterbenden Schwan zu spielen.« Mit seinen elf Jahren war Hans der Älteste der Gruppe und neigte in der Nähe der Schule dazu, es in seiner Rolle als Anführer und Beschützer zu übertreiben. Dabei waren die anderen gar nicht unbedingt mit seiner Rolle einverstanden.
»Das sagst du«, sagte Anna und streckte den Arm, um einen neuen Schneeball auf das verlassene Wagenrad am Straßenrand zu werfen. Sie traf genau in die Mitte. »Mir ist nicht kalt.«
»Klar, weil du in der letzten Stunde ein Rad nach dem anderen geschlagen hast«, murrte Nickel.
Als Anna grinste, zeigte sie ihre Zahnlücken und machte einen Purzelbaum. Gerdrut quietschte entzückt – Purzelbäume waren ihr bisher als Einziges gelungen – und spielte mit. Sie hinterließen Spuren im Schnee.
»Und wieso habt ihr euch meinetwegen auf die Lauer gelegt?«, fragte Serilda. »Wartet denn zu Hause kein schönes warmes Kaminfeuer auf euch?«
Gerdrut hielt inne. Sie hatte die Beine vor sich ausgestreckt und in ihrem Haar glitzerte der Schnee. »Wir wollen hören, wie die Geschichte ausgeht.« Ihr gefielen die gruseligen Erzählungen noch mehr als den anderen, obwohl sie beim Zuhören stets das Gesicht an Hans’ Schulter vergrub. »Über die Wilde Jagd und die Gottheit der Lügen und …«
»Nein.« Serilda schüttelte den Kopf. »Nein, nein und abermals nein. Fräulein Sauer hat mit mir geschimpft und mich verwarnt. Ich höre auf mit dem Geschichtenerzählen. Von heute an bekommt ihr nur noch langweilige Neuigkeiten und absolut belanglose Tatsachen von mir zu hören. Wusstet ihr zum Beispiel, dass man einen Dämon heraufbeschwören kann, indem man drei bestimmte Töne auf dem Hackbrett spielt?«
»Das hast du erfunden, das merkt doch jeder«, sagte Nickel.
»Falsch, es stimmt, da kannst du fragen, wen du willst. Oh, und einen Nachzehrer kann man nur töten, indem man ihm einen Stein ins Maul stopft. Dann kann er nicht mehr sein eigenes Fleisch kauen, wenn du ihm den Kopf abschlägst.«
»Solche Sachen zu lernen kann irgendwann wirklich nützlich sein«, sagte Fricz mit einem verschmitzten Lächeln. Obwohl er und sein Bruder sich mit ihren blauen Augen, dem Blondschopf und den Grübchen im Kinn glichen wie ein Ei dem anderen, konnte man sie gut auseinanderhalten. Fricz warf sich in jedes Abenteuer und Nickel schämte sich, weil sie verwandt waren.
Serilda nickte weise. »Es zählt zu meinen Aufgaben, euch auf das Erwachsenendasein vorzubereiten.«
»Huch«, sagte Hans. »Machst du einen auf Lehrerin, oder was?«
»Ich bin eure Lehrerin.«
»Nein, das bist du nicht. Du bist nicht einmal wirklich Fräulein Sauers Gehilfin. Sie duldet dich nur in der Schule, weil du die Kleinen beruhigen kannst – im Gegensatz zu ihr.«
»Meinst du etwa uns?«, fragte Nickel und zeigte auf sich und die anderen Kinder. »Wir sollen die Kleinen sein?«
»Wir sind fast so alt wie du!«, betonte Fricz.
»Ihr seid neun«, schnaubte Hans. »Das sind zwei Jahre, eine reine Ewigkeit.«
»Nicht ganz«, sagte Nickel und zählte mit den Fingern ab. »Wir haben im August Geburtstag und du …«
»Ja, ja«, unterbrach ihn Serilda, die diese Diskussion schon häufig miterlebt hatte. »Für mich seid ihr alle klein, und es ist höchste Zeit, dass ich eure Ausbildung ernster nehme, statt eure Köpfe mit Unsinn vollzustopfen. Ich fürchte, die Zeit des Geschichtenerzählens ist vorbei.«
Diese Ankündigung rief einen Chor melodramatischen Stöhnens sowie Geheul und flehentliche Bitten hervor. Nickel ließ sich sogar mit dem Gesicht in den Schnee fallen und strampelte in einem Trotzanfall mit den Beinen – möglicherweise in Nachahmung von Gerdrut an einem ihrer schlechteren Tage.
»Diesmal meine ich es ernst«, sagte Serilda.
»Als ob«, sagte Anna und lachte herzhaft. Sie hatte mit den Purzelbäumen aufgehört und prüfte jetzt die Stärke einer jungen Linde, indem sie sich an einen der tieferen Äste hängte und mit den Beinen schaukelte. »So wie letztes Mal. Und das Mal davor.«
»Aber diesmal knicke ich nicht ein.«
Die Kinder starrten sie nicht überzeugt an.
Serilda konnte es ihnen nicht verübeln. Wie oft hatte sie ihnen bereits gesagt, sie würde keine Geschichten mehr erzählen und eine vorbildliche Lehrerin werden? Eine feine, ehrwürdige Dame, und das ein für alle Mal.
Sie hatte es nie durchgehalten.
Nur noch eine Lüge, wie Fräulein Sauer gesagt hatte.
»Aber Serilda«, sagte Fricz, rutschte auf Knien durch den Schnee auf sie zu und blickte mit seinen großen, bezaubernden Augen zu ihr auf. »Der Winter in Märchenfeld ist so schrecklich langweilig. Worauf sollen wir uns denn freuen, wenn nicht auf deine Geschichten?«
»Auf ein Leben mit Schwerstarbeit«, murmelte...
Erscheint lt. Verlag | 30.9.2024 |
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Übersetzer | Anne Brauner |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Kinder- / Jugendbuch |
ISBN-10 | 3-8458-6083-9 / 3845860839 |
ISBN-13 | 978-3-8458-6083-1 / 9783845860831 |
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