Wie der seltsamste Traum -  Lisa Krusche

Wie der seltsamste Traum (eBook)

Roman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
300 Seiten
Beltz (Verlag)
978-3-407-75949-8 (ISBN)
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Auf einmal ist Pauli weg. In den Hut gefallen, behauptet Eliott. Was weiß der Spinner schon, denkt sich Pola. Doch Pauli fällt und zerreißt den Himmel einer unbekannten Welt, in der alle Wesen in Harmonie miteinander leben, ohne ausgrenzende Zuschreibungen. Unglücklicherweise stört Pauli den Frieden massiv. In ihrer alten Welt tun sich Eliot und Pola gezwungenermaßen zusammen, irgendjemand muss Pauli ja schließlich zurückholen. Und die Erwachsenen sind es nicht. Also: Wie zur Hölle holt man jemanden aus einem Hut? Eine mutige literarische Expedition einer ausgezeichneten Autorin - für alle, die Sprache und ausgefallene Geschichten lieben.

Eliott glühte. Der Kopf, der Körper, alles. Es war ein sowieso schon warmer Tag, und das Rollerfahren machte alles noch wärmer. Da half auch der Fahrtwind nichts. Kitzelte Eliott bloß in der Nase und ließ die Augen tränen. Pauli rollerte entspannt neben Eliott her. Keine roten Flecken im Gesicht, kein Schweißtropfen. Sie kamen vom Tanztraining aus dem Jugendzentrum und waren auf dem Weg zu Arturos Eiswagen. Tanzen und dann Eis, so machten sie es immer. Zumindest immer, seit sie sich kannten. Pauli erzählte. Elio, außer Puste, hörte zu. So gut, wie es ging, wenn einem die Ohren pfiffen und man davon träumte, in einer Wanne voller Eis zu liegen.

»Die wollen den ganzen Teil mit den Obstbäumen plattmachen. Die Wildblumen und alles. Kahlschlag«, sagte Pauli. Es ging um das Grundstück von Hulle, so viel hatte Eliott schon noch mitbekommen. Zu Hulles Gärtnerei gehörte ein Stück Land. Voller Obstbäume und Sträucher und Kräuter und Blumen.

»Da leben Insekten und Igel und Fische im Teich«, sagte Pauli, »und das soll alles weg.«

Die Sache war nämlich leider die: Das Land gehörte nicht Hulle. Er hatte es nur gepachtet. Und jetzt sollte ein Teil des Landes verkauft und eine Autowaschanlage gebaut werden.

»Schaumwerk«, sagte Pauli und bekam jetzt einen fast so roten Kopf wie Eliott. Bloß vor Wut und nicht vor Anstrengung.

»Kann Hulle das Land nicht kaufen?«, fragte Eliott.

»Der ist viel zu arm dafür«, sagte Pauli, »der hat gar nichts auf der hohen Kante. Alles, was der verdient, gibt er für Blumen und Bienen und Bäume aus. Schon nach den Sommerferien soll es losgehen.«

»Porca miseria«, japste Eliott, ein Fluch, den Papa Luca oft verwendete.

»Kompletto miseria«, sagte Pauli. »Ich wünschte, wir hätten mehr Geld oder so viel Kraft, dass wir die einfach plattmachen könnten, so wie die alles plattmachen.« Pauli gähnte. »Aber ich hab im Gegenteil gar keine Kraft. Ich hab schon wieder so schlecht geschlafen, ich bin ganz wackelpuddinghaft davon.«

Eliott sagte nichts dazu, Eliott dachte an Wackelpudding. Sie rollerten weiter und kamen am Hügel an, auf dem oben der Eiswagen stand. Am höchsten Punkt, neben dem einzigen Baum, mit bester Sicht auf die Sternendoldengasse. Der Eiswagen war mal ein alter Transporter gewesen. Jetzt war er pastellrosa lackiert, an der Seite war ein Verkaufstresen eingebaut, und eine schwarz-weiße Markise schirmte die Sonne ab. Außen am Auto warb eine überlebensgroße Waffel mit brauner, gelber und pinker Kugel darin für den kalten Genuss. Schoko, Vanille, Erdbeere. Wer sich diese Kombination bestellte, das war Eliotts feste Überzeugung, fand wahrscheinlich, alles müsste sein, wie es immer gewesen war, und hatte Angst, sich zu fragen, was er wirklich mochte. In Eliotts Körper kehrte die Kraft zurück. Die Aussicht, gleich beim Eis zu sein, ließ selbst die Steigung wie einen Klacks erscheinen. Einen Zahn zugelegt, Torpedomodus, und schon konnte Eliott den Roller fallen lassen und das Eis bestaunen. Eliotts Lieblingseis war Himmelblau. Gusto grande, himmlisch, herrlich. Was passte besser zum ersten Tag der Sommerferien als ein intensiv blauer Urlaub für den Gaumen. Bei Arturo hieß Himmelblau Delfin. Und Arturo machte das beste Delfin der ganzen Stadt. Er trug wie jeden Tag, ob Sommer, ob Winter, eine knallrote Strickmütze und war wie jeden Tag bester Laune. Er summte das Lied mit, das aus der kleinen Bluetooth-Box schepperte. Arturo liebte die Opera. Er fand, so viel Klischee dürfe man sich als Eisverkäufer ruhig erlauben. Und es war nun einmal so: Wenn Alfredo im dritten Akt von La Traviata Violetta anflehte, noch auf Erden zu bleiben, und sie dann doch verstarb, das berührte etwas tief in Arturos Herzen. Dieses Gefühl, er war sich sicher, half ihm, besseres Eis zu machen.

»Na, Eliott«, sagte Arturo, »wunderbares T-Shirt hast du an.«

Eliott trug wie immer ein geringeltes T-Shirt, auf dieses hier waren zwei Clownfische gedruckt und eine Latzhose. Latzhosen waren eine gute Sache, denn sie boten viel Patz für alles Wichtige. Eliott drückte sich die Nasenspitze am Glas der Kühltheke platt, der Atem beschlug die Scheibe. Eliott blinzelte, weil die Eissorten nicht mehr richtig zu erkennen waren, und löste die Nase wieder.

»Was darf’s denn heute sein?«, fragte Arturo.

»Wie immer«, sagte Eliott.

»Delfin mit Sahne und Streuseln?«

»Delfin mit Sahne und Streuseln!«

»Alles klar«, rief Arturo.

»Was nimmst du, Pauli?«, fragte Eliott und drehte sich zu Pauli um. Nur: Da war Pauli nicht. Da war nichts. Eliott schaute irritiert dieses Nichts an.

»Pauli?«, fragte Eliott.

Wenig überraschend: keine Antwort.

Eliott bückte sich und schaute unter den Eiswagen. Auch dort war Pauli nicht. Eliott kratzte sich am Kopf.

»Eben war Pauli doch noch hier«, sagte Eliott zu Arturo.

»Nein«, sagte Arturo.

»Nein?«, fragte Eliott.

»Nein«, sagte Arturo, »du bist allein gekommen.«

Eine Hitze stieg in Eliott auf. Das konnte nicht sein. Eben war Pauli doch noch da gewesen. Wutschnaubend über die Ungerechtigkeit von Waschanlagen.

»Bist du sicher«, fragte Eliott Arturo, »dass du uns nicht zusammen gesehen hast, als wir den Hügel hochgefahren sind?«

»Da habe ich Waffeln ausgepackt und stand mit dem Rücken zur Aussicht«, sagte Arturo. Er hatte immer noch den Eislöffel mit der Kugel in der Hand.

»Ich nehme das Eis trotzdem«, sagte Eliott. Etwas im Magen konnte jetzt nicht schaden. Es schadete eigentlich nie.

»Vielleicht musste Pauli ganz schnell nach Hause?«, sagte Arturo.

»Da kann man doch trotzdem noch Tschüss sagen«, sagte Eliott.

»Das stimmt«, sagte Arturo.

»Und was soll so wichtig gewesen sein?«

»Vielleicht ein Notfall in der Familie. Oder Paulis Vater hat doch seinen Segen für die Liebe gegeben?«, sagte Arturo, der wieder an La Traviata denken musste.

Eliott schaute auf das Eis in Arturos Hand. Ein Magenknurren war zu hören.

»Ich glaube, Pauli war in überhaupt niemanden verknallt. Außerdem ist Paulis Papa niemand, der so was verbietet.«

»Hm«, sagte Arturo, »vielleicht wurde Pauli gekidnappt.«

Eliott schaute Arturo erschrocken an und wurde blass wie ein Zitroneneis.

»Aber dann schreit man, und das hättest du mitbekommen«, sagte Arturo schnell.

Eliott grübelte. Konnte man sich so sehr auf ein Eis freuen, dass man eine Entführung nicht bemerkte? Warum sollte Pauli gekidnappt worden sein? Ein geheimes Leben, von dem Eliott nichts wusste? Oder hatte Paulis Papa, der Philosoph war, einen wichtigen Gedanken gehabt, der nicht bekannt werden durfte, und Pauli wurde als Geisel gefangen gehalten? Eliott bekam ein seltsames Gefühl. Etwas Merkwürdiges war im Gange. Die Sache war die: Vielleicht war Eliott nicht oberschlau, aber Elios Bauchgefühl, dem war zu vertrauen. Es bemerkte Sachen, die Eliotts Kopf nicht wahrnahm oder nicht bedachte. Kleinigkeiten, Feinheiten, fast unsichtbare Spuren. Eliott vertraute dem Bauchgefühl. Etwas gerät aus den Fugen, Elio, dachte Eliott, das kannst du spüren. Eliott ließ sich auf den Boden fallen, neben den Cityroller. Arturo beeilte sich jetzt. Er drückte eine zweite Kugel Delfin in die Eiswaffel, setzte eine Menge Sahne aus dem Sahneautomaten auf die beiden Kugeln und streute bunte Streusel obendrauf. Dann verließ er ausnahmsweise seinen Eiswagen und drückte Eliott das Eis in die Hand.

»Danke«, sagte Eliott und begann, gedankenverloren an dem Eis zu lecken.

Wirklich lecker, dachte Eliott kurz, und ermahnte sich dann, wieder an Pauli zu denken.

Arturo stand einfach da in seiner weißen Schürze, die Hände in die Hüften gestützt, und schaute Eliott an.

»Sehr seltsam«, sagte Arturo.

»Wirklich«, sagte Eliott.

»Was wirst du jetzt machen?«, fragte Arturo.

»Ich weiß es nicht«, sagte Eliott.

»Ich muss einfach suchen«, sagte Eliott. Besser etwas zu tun, als sich noch länger den Kopf zu zerbrechen.

»Das ist eine gute Idee«, sagte Arturo, der selbst keine bessere hatte. »Wenn du etwas brauchst, sag mir Bescheid.«

»Ja«, sagte Eliott, »kann ich noch eine Kugel Eis haben? Ich glaube, es ist wichtig, diese Sache gestärkt anzugehen.«

...

Erscheint lt. Verlag 4.9.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Kinder- / Jugendbuch
ISBN-10 3-407-75949-5 / 3407759495
ISBN-13 978-3-407-75949-8 / 9783407759498
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