Flug der goldenen Kraniche -  Maja Herrmann

Flug der goldenen Kraniche (eBook)

Märchen aus alter und neuer Zeit
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
288 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7597-7356-2 (ISBN)
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Den Träumen verwandt, dringen Märchen tief in unser Unterbewusstsein ein. Sie setzen Gefühle frei, die oft im Alltag verschüttet bleiben. Dabei berühren sie Kinder und Erwachsene gleichermaßen. Diese Märchen, mit ausdrucksvollen Bildern der Künstlerin Sarah Samares, öffnen den Lesenden die Tür zu einer geheimnisvollen, fantastischen Welt. Nichts ist unmöglich und Wünsche werden wahr. Ganz nebenbei erzählen die Märchen, dass derjenige mit Erfolg belohnt wird, der unbeirrbar seinen Weg geht, sowie Herausforderungen und Hilfe annimmt. Die Seele atmet auf, während sie mit den goldenen Kranichen Alltag und Sorgen davonfliegt. Ob lustig, spannend oder tief bewegend - am Ende wird alles gut. Diese Märchen machen Mut.

Maja Herrmann wurde 1953 in der Nähe von Halle in Nordrhein - Westfalen geboren. Als Leseratte verschlang sie Bücher, vor allem Märchen. Mit 10 Jahren begann sie selbst Märchen, Geschichten und Gedichte zu schreiben. Während ihrer langjährigen Tätigkeit als Leiterin von Kindertagesstätten erlebte sie die positive Wirkung von Geschichten und Märchen auf Kinder. Ihr ist es deshalb wichtig, dass ihre Bücher berühren und Mut machen.

Flug der goldenen Kraniche


Es war einmal ein Mädchen, Lydia, das mit seinem Vater und der Großmutter in einem Haus am Dorfrand lebte. Die Mutter starb an einer unheilbaren Krankheit, als Lydia noch ein Baby war und weil der Vater bislang keine Frau kennengelernt hatte, die ihm gefiel, versorgte er mit der Großmutter das Kind. Lydia wuchs heran, besuchte die Schule und die Großmutter sah mit Freude, dass Lydia immer selbständiger und tüchtiger wurde. Sie liebte die Großmutter und war sehr traurig, als sie bemerkte, wie unsicher und schwach sie geworden war. Oft fiel ihr etwas aus der Hand und es dauerte viel länger als früher, bis sie das Essen zubereitet oder die Wäsche aufgehängt hatte.

„Lydia“, sagte die Großmutter einmal nach dem Mittagessen, „sicher hast du gemerkt, dass ich oft etwas umstoße und in allem viel langsamer geworden bin. Ich leide an einer Augenkrankheit und werde irgendwann blind sein. Es ist gut, dass Du so tüchtig bist und mir hilfst. So lernst du kochen und alles, was du brauchst, um im Leben zurecht zu kommen. Vielleicht findet dein Vater bald eine Frau, die uns unterstützt, vielleicht müssen wir aber auch den Alltag allein bewältigen. Werde ich eine zu große Last für euch, gehe ich in ein Heim.“ „Nein!“, schrie Lydia, „das lasse ich nie zu! Du gehörst zu uns!“

Ein Lächeln huschte über das faltige Gesicht der alten Frau und sie strich Lydia liebevoll über das dunkle, lockige Haar. „Hast du nach dem Winter schon die Kraniche gesehen?“, wechselte sie das Thema. „Nein, Oma, stimmt es wirklich, dass deine Mutter einmal goldene Kraniche gesehen hat?“ „Oh ja! Sie lassen sich aber nur sehr selten blicken, weil sie Angst vor Menschen haben und wissen, wie wertvoll ihre goldenen Federn sind. Fasst ein Mensch sie an, lösen sie sich in Nebel auf und werden sie getötet, geschieht das gleiche. Das wissen oder glauben die Menschen nicht und weil sie habgierig sind, versuchen sie es immer wieder. So kommt es, dass nur noch wenige Exemplare auf der Erde leben. Die weiblichen Kraniche legen nur einmal pro Jahr ein Ei. Da Füchse, Wölfe, andere Fressfeinde und sogar Menschen ihnen nachstellen und versuchen, die Eier zu erbeuten, gibt es wenig Nachwuchs.“ „Wie schade! Ich möchte sie so gerne einmal sehen“, erwiderte das Mädchen. Allmählich dämmerte es. Lydia bereitete das Abendessen zu, trat aber immer wieder ans Fenster in der Hoffnung, im Mondenschein einen goldenen Kranich zu entdecken. Als der Tisch gedeckt war, das Brot im Korb auf dem Tisch stand und der Duft von frisch gebratenem Rührei durch die Wohnung zog, rief sie

Großmutter und Vater zum Essen.

Dem Vater entging nicht, dass Lydia immer wieder zum Fenster hinaussah, obwohl die Dunkelheit schon hereingebrochen war: „Wartest du auf jemanden, Kind?“ „Nein…, Vater, hast du irgendwann einmal die goldenen Kraniche gesehen?“ „Die goldenen Kraniche? Das ist ein Kindermärchen! Die Oma hat mir als Kind auch davon erzählt, aber die gibt es nicht wirklich.“

Lydia schaute fragend und enttäuscht zur Großmutter hinüber, aber die legte den Finger auf den Mund und zwinkerte ihr beruhigend zu.

Draußen zog ein starker Wind auf und trieb die Wolken vor sich her. Der helle Mond hatte nur selten Gelegenheit, sein silbernes Licht auf die Erde zu werfen.

Unter den Wolken, fast von ihnen verhüllt, zogen sieben große Vögel ihre Bahn. Sie hatten schmale, hübsche Köpfe mit Federn, die oben ein goldenes Krönchen bildeten, große schwarze Augen, einen langen Hals, verbunden mit einem ovalen, kräftigen Körper und lange, schlanke Beine. Körper und Beine waren grau, aber Kopf, Hals, Flügel und die langen, herabhängenden Schwanzfedern glänzten golden, wenn der Schein des Mondes sie berührte. Als sie den Wald und angrenzenden Weiher erreichten, glitten sie mit dem Wind hinab und landeten auf einer Lichtung.

„Warum bleiben wir heute Nacht hier?“, fragte der junge Kranich, der im letzten Jahr aus dem Ei geschlüpft war, die Anführerin. „Weil wir eine Aufgabe zu erfüllen haben“, antwortete sie. „Wie du weißt, verließ dein Urgroßvater unsere Heimat Afrika, weil die Menschen dort so arm sind, dass sie ständig Jagd auf uns machten. Er flog mit seiner Familie nach Europa in der Hoffnung, hier in Ruhe leben zu können. Als mein Urgroßvater einsehen musste, dass wir Kronenkraniche auch hier irgendwann aussterben werden, weil die Menschen um jeden Preis unsere goldenen Federn besitzen wollen, gab er uns folgendes Vermächtnis mit auf den Weg: Wir sollen Menschen im Traum erscheinen, die einsam oder traurig sind, sie auf unserem Flug mitnehmen und ihnen die Schätze dieser Welt zeigen. Wachen sie auf, erinnern sie sich an uns und alles, was sie erlebt haben. Sie fühlen sich glücklich und wir leben in dem Schatz, den wir in ihre Seelen und Herzen gesenkt haben, weiter.“

„Wie soll das gehen?“, fragte der junge Kranich. „Wir kommen den Menschen so nahe, dass wir sie mit dem Flügel berühren können. Ungefährlich für uns ist es nur, wenn sie schlafen und deshalb müssen wir sie des nachts ins Freie locken und dafür sorgen, dass sie erst aufwachen, wenn wir unser Ziel erreicht haben.“

Dem jungen Kranich wurde es mulmig zumute, aber er erwiderte nichts. „Sucht im seichten Wasser des Weihers einen Schlafplatz, damit ihr Wölfe und Steinadler rechtzeitig erkennen könnt. Ich kehre bald zurück.“ Mit diesen Worten flog die Anführerin davon.

Lydia hatte sich ins Bett gelegt, aber an Schlaf war nicht zu denken. Wenn die Großmutter erblinden würde, konnte sie weder ihre Familie jemals wiedersehen noch die blühenden Obstbäume im Garten oder die wunderschönen Rosen und Vergissmeinnicht im Blumenbeet, die sie so liebte. Lydia weinte; erblinden musste schrecklich sein.

Plötzlich kamen ihr, sie wusste selbst nicht warum, die goldenen Kraniche in den Sinn. Im Zimmer war es stockdunkel und nur die Nacht und die silberne Mondsichel schauten zum Fenster hinein. Auf einmal glaubte Lydia einen goldenen Schein wahrzunehmen, der vorbeihuschte. Sie sprang aus dem Bett und stürzte zum Fenster. Schnell riss sie es auf und konnte gerade noch die goldenen Umrisse eines großen Vogels erkennen, der Richtung Wald davonflog. „Der goldene Kranich!“ flüsterte sie aufgeregt. Blitzschnell zog Lydia sich an und als sie sah, dass die Lichter im Haus gelöscht wurden und kein Laut mehr zu hören war, schlich sie leise die Treppe hinunter, öffnete behutsam die Haustüre und huschte hinaus. Zum Glück beleuchtete der Mond den Weg, der zum Wald führte und bald erkannte sie den Weiher.

Das Mondlicht ließ sein Wasser geheimnisvoll glitzern. Als Lydia näherkam, bewegte sich etwas am Ufer und bald zeichneten sich im silbrigen Schein des Mondes die Umrisse großer Vögel ab. Das Mädchen versteckte sich hinter den Baumstämmen und schlich vorsichtig so nah an die Tiere heran, dass sie diese zwar beobachten, aber selbst nicht gesehen werden konnte. Nun begannen die Vögel zu tanzen. Zuerst bogen sie die Köpfe zurück, sodass die Schnäbel gen Nachthimmel zeigten, dann drehten sie sich um ihre eigene Achse oder sprangen mit ausgebreiteten Flügeln in die Luft. Trotz ihrer Größe bewegten sie sich elegant und anmutig. Hätte noch ein Orchester klassische Musik gespielt, wäre das Ballett perfekt gewesen!

Lydia konnte sich nicht satt sehen und hoffte nur, nicht entdeckt zu werden.

Plötzlich beendeten die Vögel ihren Tanz und ein Kranich blickte in ihre Richtung. Sie hatte das Gefühl, dass er sie direkt ansah. Trotzdem floh er nicht. Sie zuckte zusammen und zog den Kopf hinter den Stamm zurück. Als sie wieder vorsichtig vorbeischaute, standen die Tiere da wie zuvor.

Auf einmal spürte Lydia, wie ihr Körper schwer wurde und Müdigkeit sie überfiel.

Langsam legte sie sich auf den Waldboden unter dem Baum und schlief ein.

Kurz darauf erhoben sich die Kraniche und landeten lautlos neben dem Mädchen. Der Luftzug, den ihre Schwingen verursachten, bewegte sein langes Haar, aber es rührte sich nicht.

„Schön ist dieses Kind“, sagte die Anführerin, „aber es ist traurig, weil seine Großmutter bald erblinden wird. Nun schenken wir ihm den größten Schatz, den wir besitzen, nämlich unsere Erlebnisse und Geschichten, die wir seit Generationen in uns tragen. Kehrt Lydia nach Hause zurück, kann sie der Großmutter alles erzählen und damit zaubern die Worte Bilder und Gefühle in Kopf und Herz der alten Frau. Rückt nun näher und dicht zusammen, damit wir unseren Schatz übergeben können.“

Andächtig berührten die Vögel das Mädchen, indem sie mit den Flügeln sanft über seinen Körper strichen. Als sie sich wieder zurückzogen, lächelte es im Traum.

Bei Sonnenaufgang weckte Lydia munteres Vogelgezwitscher. Ein feuerroter Ball schob sich langsam hinter den...

Erscheint lt. Verlag 7.8.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Kinder- / Jugendbuch
ISBN-10 3-7597-7356-7 / 3759773567
ISBN-13 978-3-7597-7356-2 / 9783759773562
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