Die Schule des abgrundtief Bösen (eBook)
176 Seiten
Tulipan (Verlag)
978-3-641-32933-4 (ISBN)
Maike Harel schreibt Bilder- und Kinderbücher für alle Altersstufen. Außerdem ist sie als Übersetzerin aus dem Englischen und Hebräischen tätig. Nach vielen Jahren als Weltenbummlerin lebt sie zurzeit mit ihrer Familie in Berlin.
1 Von passenden und unpassenden Kindern
Als Evaline an diesem Morgen ihre Vorhänge öffnete, stürmte Tante Holunda gerade durch den Vorgarten. Und zwar in so einem Tempo, dass Frau Meisel im Nachbargarten sich vor Schreck hinter ihre Hecke duckte.
Normalerweise winkte Frau Meisel Evaline freundlich zu, wenn sie das Mädchen am Fenster entdeckte. Nicht so wie die anderen Nachbarn, die meist einen weiten Bogen um das Haus der Düsterbachs machten und ängstlich ihre Handtaschen umklammerten, wenn sie einem der Bewohner auf der Straße begegneten. Doch diesmal bemerkte Frau Meisel Evaline gar nicht, sondern sah verdattert der groß gewachsenen Dame hinterher, die im Sturmschritt auf das kleine Haus zumarschierte.
»Ich habe eine Lösung!«, donnerte Tante Holunda, sobald sie die Tür aufgerissen hatte.
Evaline äugte über das Treppengeländer nach unten. Bert und Jella Düsterbach, Evalines Eltern, erschienen im Flur.
»Du hast gar nicht gesagt, dass du vorbeikommst«, brummte Bert und nahm seiner Schwester den Mantel ab.
»Weil das Zeitverschwendung wäre«, bellte Tante Holunda. »Ich habe eine Lösung, und zwar eine, die ich euch nicht am Telefon mitteilen wollte!«
Evaline tapste mit nackten Füßen die kalte Treppe hinunter. Wer eine Lösung hat, der braucht auch ein Problem. Und als Evaline Tante Holundas Augen sah, die stechend und wild entschlossen dreinblickten, wusste sie gleich, was – oder besser gesagt WER – dieses Problem war. Nämlich sie selbst, Linchen Düsterbach, elf Jahre alt und von Geburt an gänzlich unpassend.
Es ist so: Gewöhnlicherweise wird ein Kind in eine Familie geboren, in die es genau hineinpasst. Wie ein Puzzlestück. Familie Schreihals bekommt einen Säugling, der kreissägenmäßig kreischen kann – damit man ihn trotz all des Lärms im Haus überhaupt hört. Und Familie Dreckspatz freut sich über ein Töchterchen, das nichts lieber tut, als in Schlammpfützen zu planschen. Der Sohn von Familie Kichermann wiederum giggelt und lacht, sobald er das Licht der Welt erblickt.
Doch manchmal – manchmal geschieht es, dass ein völlig falsches Kind abgeliefert wird, eines, das ganz und gar nicht passt. Und genau das war Familie Düsterbach passiert.
»Wie blass und dünn du schon wieder aussiehst!«, rief Tante Holunda nun, als sie Evaline die Treppe hinabkommen sah. »Wer soll glauben, dass du auch nur einer Fliege etwas zuleide tun kannst?«
Evaline WOLLTE keiner Fliege etwas zuleide tun.
»Sie ist eben zart und klein«, kam Jella Düsterbach ihrer Tochter zu Hilfe. Was sie im Übrigen genauso gesagt hatte, als Tante Holunda das Baby zum ersten Mal zu Gesicht bekommen hatte: »Unser Linchen ist zart und klein.«
»Linchen?«, hatte Tante Holunda da geschnaubt. Und: »Seit wann sind Düsterbachs zart und klein? Sie soll doch keine Balletttänzerin werden!«
Oh nein, für die kleine Evaline, gerade erst geboren, hatte es von Anfang an andere Pläne gegeben.
»Sie wird sicher noch groß und stark«, hatte Bert Düsterbach damals gesagt. »Da! Sie guckt doch schon ganz böse.« Aber insgeheim hatte auch er gefunden, dass sein Mädchen kein bisschen böse guckte. Sondern ausgesprochen lieb.
Genau wie heute.
»Hallo«, begrüßte Evaline Tante Holunda und ihre Cousins Kenny und Lenny, die genau in diesem Moment gelangweilt ins Haus eintraten. »Soll ich euch einen Tee kochen?«
»Du solltest deine Zeit nicht mit Teekochen verplempern«, wies Tante Holunda Evaline zurecht. »Bert, wann bringst du ihr endlich bei, wie man Autos aufbricht und Karosserien umlackiert?«
»Lieber nicht!«, grölte Lenny. »Wahrscheinlich würde sie höflich um Erlaubnis fragen, bevor sie ein Schloss knackt.«
»Sie ist doch noch so klein …«, murmelte Bert.
»Papperlapapp«, erwiderte Tante Holunda bissig. »Und wenn du nicht selbst dafür sorgst, dass sie etwas lernt, muss sie eben endlich auf eine ordentliche Schule.« In Tante Holundas Augen gab es nur eine EINZIGE ordentliche Schule. »Schaut euch nur meine Jungs an«, rief sie, während Kenny sich am Bauch kratzte und Lenny feixend die Blätter einer Topfpflanze ausrupfte. »Sie blühen an der S.A.B. geradezu auf.«
Bert Düsterbach seufzte tief. Er hatte lange gehofft, dass sein Linchen sich etwas von ihren boshaften Cousins abgucken würde. Vergeblich. »Holunda, du weißt doch, dass das Aufnahmegespräch ein Problem für Evaline wäre. Sie kann nicht so gut lügen.«
Ehrlich gesagt konnte Linchen GAR NICHT lügen. Sie hatte es oft genug versucht. Zum Beispiel als die Lehrerin wollte, dass alle Kinder von den Berufen ihrer Eltern erzählten. Da war sie knallrot angelaufen und hatte sich stammelnd bemüht etwas herauszubringen. Aber als dann doch nur Dinge wie »Autodi…« und »Gano…« über ihre Lippen gekommen waren, war sie aufgesprungen und aus dem Klassenzimmer gerannt.
»Sie wird doch eine Gefahr für uns alle, wenn sie nicht endlich lernt, sich wie eine wahre Düsterbach zu verhalten«, schimpfte Tante Holunda. »Und deswegen gehen wir heute zur V.V.V. Es gibt da jemanden, der mir einen Gefallen schuldet!«
»Zur V.V.V.?«, rief Bert entsetzt.
Evaline schluckte und angelte einen Keks aus der Dose auf der kleinen Anrichte. Sicher hatte Tante Holunda nur das Beste für sie im Sinn.
»Die Leute tuscheln schon«, sagte Tante Holunda. »Es wird Zeit, dass Evaline sich in der Öffentlichkeit zeigt.«
Jella kniff besorgt die Lippen zusammen. Wahrscheinlich stellte sie sich vor, wie ihre Tochter den Versammelten auf der V.V.V. die Türen aufhalten würde, statt sich wie die anderen Kinder vorzudrängeln. Dann tuschelten die Leute erst recht!
Aber Evaline nickte. »Ich werde mich bemühen!«
In diesem Moment schnappte ihr Lenny den Keks aus der Hand und stopfte ihn sich in den Mund. Da wurde Evalines Blick dunkel und ihre Stirn kräuselte sich.
»Ja!«, flüsterte Bert Düsterbach. Jetzt würde sein Linchen dem frechen Lenny endlich ihre Faust auf die Nase hauen!
Aber Evalines Züge glätteten sich schon wieder. Sie zuckte mit den Schultern. »Es gibt genug Kekse für alle. Lenny hat sicher riesigen Hunger.« Und sie hüpfte hinaus in den Garten.
Zwischen dem Apfelbaum und der Hibiskushecke hörte Evaline auf zu hüpfen und blieb stehen. Ihr Herz pochte heftig.
Ja, Tante Holunda wollte sicher das Beste. Evaline in eine etwas passendere Düsterbach-Form klopfen, zum Beispiel. Dafür sorgen, dass sie spitzere Ellenbogen bekam und schlagkräftigere Fäuste. Schließlich gab es große Pläne. Pläne, für die man gewitzt sein musste und angstfrei und gerissen sowieso.
Evaline kontrollierte seufzend, ob genug Körner im Vogelhäuschen lagen und alle Blumen ausreichend gegossen waren. Leider fürchtete sie sich öfter, als es Tante Holundas Ansicht nach für ein Düsterbach-Kind normal war. Etwa bei der Vorstellung, auf der V.V.V. lauter fremden Menschen zu begegnen. Die würden lauthals mit ihren neuesten Erfolgen prahlen, frisch geklaute Juwelenarmbänder spazieren tragen und Bert Düsterbach fragen, wie es mit den Autos lief.
Evaline sammelte ein paar vertrocknete Blätter auf.
Und dann erst die Schule! Den Aufnahmetest konnte sie vielleicht meistern. Wie viel Zeit bleibt einem geübten Dieb für die Flucht, wenn er die Sirene der Polizei hört? (Circa drei Minuten.) Welche Verkleidungstaktiken funktionieren am besten, um alte Damen zu verwirren? (Freundliche Tierärztin auf der Suche nach einem entlaufenen Biber.) Aber es gab auch ein Aufnahmegespräch. Was, wenn Evaline gefragt würde, was sie schon angestellt hatte? Wie sie ihren Eltern bei ihren Aufträgen behilflich gewesen war?
Unvorstellbar. Nach so einem Gespräch würde man ihr nur wieder sagen, dass sie viel zu freundlich sei und ihre leise Stimme und überhaupt …
Hinter der Hecke raschelte es.
»Huhu«, rief Frau Meisel von nebenan. »Bist du das, Linchen?«
Evaline reckte den Hals, um über die Büsche sehen zu können, und winkte Frau Meisel zu. Im Gegensatz zu Tante Holunda freute Frau Meisel sich, wenn sie höflich und hilfsbereit war. »Sie haben die netteste Tochter der Welt«, sagte sie gerne zu Bert Düsterbach. Dass der dann nur grummelte und das Gesicht verzog, merkte sie gar nicht.
»Ihr habt heute wohl Besuch?«, fragte Frau Meisel jetzt, denn sie war nicht nur freundlich und gutherzig, sondern auch schrecklich neugierig.
Evaline nickte. Erklären musste sie nichts, denn der Besuch kam schon hinaus in den Garten marschiert.
»Na los, Evaline«, kommandierte Tante Holunda, während Lenny und Kenny quer durch ein Blumenbeet trampelten. »Wir fahren gleich zur V.V.V. Es wird Zeit, dass du unter deinesgleichen kommst!«
»Ohhhhh«, machte Frau Meisel. »Was ist denn die V.V.V.?«
Und Evaline begann zu stottern: »Die V.V.V., also, das ist … da treffen sich … das ist die Verbrech…«
Da schob Tante Holunda sie zur Seite. »Der V.V.V. ist der Verein für Veilchenverehrer!«, rief sie Frau Meisel über die Hecke hinweg zu.
»Ohhhhh«, machte Frau Meisel noch einmal. »Wie wunderbar! Ich liebe Veilchen! Vielleicht könnte ich auch …«
Während Tante Holunda Evaline zur Straße scheuchte, fuchtelte Kenny mit einer Hand durch die Luft und rief Frau Meisel zu: »Das können Sie mit Sicherheit nicht! Ihr Garten ist viel zu hässlich!«
Und Evaline dachte: ›Die arme Frau Meisel, ich muss sie unbedingt trösten, sie liebt Blumen doch über alles!‹
Aber da hatte Tante Holunda sie schon durch das Gartentor geschoben und die Tür zugeknallt.
...Erscheint lt. Verlag | 1.8.2024 |
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Illustrationen | Tine Schulz |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Kinder- / Jugendbuch ► Kinderbücher bis 11 Jahre |
Schlagworte | 2024 • ab 8 • eBooks • Einbruch • Familie • Neuerscheinung • Verbrecher |
ISBN-10 | 3-641-32933-7 / 3641329337 |
ISBN-13 | 978-3-641-32933-4 / 9783641329334 |
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