Der Sommer, als ich fliegen lernte (eBook)

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2024
224 Seiten
Tulipan (Verlag)
978-3-641-32927-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der Sommer, als ich fliegen lernte - Jasminka Petrović
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Ein feinsinniger und vielschichtiger Coming-of-Age-Roman - berührend, leicht, spannend! Ab Frühjahr 2023 im Kino. Endlich Sommerferien - eigentlich die schönste Zeit des Jahres für die dreizehnjährige Sofija. Aber in diesem Jahr ist alles anders. Statt mit ihren Freundinnen in Belgrad abzuhängen, muss sie mit ihrer Oma auf die kroatische Insel Hvar zu Omas Schwester Lucija fahren. Für die beiden Frauen ist es das erste glückliche Wiedersehen seit dem Zerfall Jugoslawiens in den 1990er Jahren. Für Sofija hingegen ist es ein absoluter Teenager-Albtraum: Um sie herum nur alte Leute, Mücken ohne Ende, keine Freunde. Wie soll sie es hier bloß zwei Wochen aushalten? Doch alles verändert sich, als Sofija sich zum ersten Mal richtig verliebt, neue Freunde findet und sogar mit einem Familiengeheimnis konfrontiert wird, das auf den Krieg in Jugoslawien zurückgeht ...

Erste Nacht


Oma schnarcht. Ich raste aus. Und die Mücken bringen mich erst recht auf die Palme. Sie attackieren meine Nase und meine Augen. Gleich wird es hell und ich bin immer noch wach. Und Hunger hab ich auch. Ich wälze mich im Bett hin und her. Das Nachthemd hat sich um mich gewickelt wie ein Bonbonpapier ums Bonbon.

Dabei hab ich mich so auf den Sommer und die Ferien gefreut! Ich dachte, Mama und Papa erlauben mir, mit Luka und seiner Clique zu zelten. Die zweite Variante wäre gewesen, mit Saška zu ihrer Cousine nach Kraljevo zu fahren. Falsch gedacht!

An einem Nachmittag hat mich meine Mutter richtig bequatscht: »Wie blass du bist, schau dich nur an! Den ganzen Tag starrst du auf den Computer. Hör mal, du begleitest Oma diesen Sommer nach Hvar. Das wird bestimmt super: Insel, Meer, Sonne, nette Leute, verliebt sein … Ich habe in Stari Grad die schönsten Sommer meines Lebens verbracht, ach, wenn ich nur anfange mich zu erinnern …«

Bla, bla, bla … Und ich biss auch noch an, schnappte nach ihrem Köder wie ein dummer Fisch und willigte ein. Sobald ich im Bus saß, bereute ichs natürlich sofort, doch zu spät: Oma holte ein Kissen aus dem Beutel, allerdings nicht so ein fancy Reisekissen zum Aufblasen, nein, ein richtig großes fürs Bett. Mit dem Riesenkissen verbaute sie den Durchgang und die anderen Reisenden konnten sich kaum noch zu ihren Sitzplätzen durchzwängen. Voll peinlich! Ich presste mein Gesicht ans Fenster und tat so, als ob ich nicht zu ihr gehören würde. Die Situation auf dem Bussteig war jedoch kein bisschen besser. Mama und Papa gaben mir die letzten Anweisungen vor der Reise und schrien, als hätten sie sich im Wald verirrt. Weil ich nicht darauf reagierte, fingen sie an, wie wahnsinnig zu hüpfen und an die Scheibe zu klopfen. Im selben Moment bekam ich auch noch eine Nachricht von Saška:

Schöne Reise dir, hast dus gut! Ivana und ich hängen hier vor der Schule rum. Grüß uns das Meer und sag ihm, dass wirs auch irgendwann noch kennenlernen! Wenn wir mal berühmt und reich sind. Kuss

Ich wollte ihnen schnell zurückschreiben, dass die Dinge ganz anders standen, als sie dachten. Gut haben es die, die auf der Mauer im Schulhof sitzen und chillen, nicht die, die mit Oma in den Sommerurlaub fahren. Ich schickte noch hinterher, dass ich am liebsten aus dem Bus springen, oder besser gesagt, im Erdboden versinken würde … Als ich gerade auf Senden drücken wollte, fuhr der Bus los und Mama und Papa fingen an, neben meinem Fenster herzulaufen. Ich dachte: ›Okay, dann laufen sie halt ein bisschen mit, die werden schon gleich wieder aufhören. Ich fahr ja nicht mit der Grundschule ins Schullandheim.‹ Falsch! Die beiden rannten durch den ganzen Busbahnhof hinter uns her und noch weiter die Straße entlang, während wir an der Am pel standen und dann über die Kreuzung fuhren ... Dieses dumme Familienritual ziehen Mama und Papa jedes Mal durch, wenn Luka und ich irgendwo hinfahren. Wir haben ihnen schon hundertmal gesagt, sie sollen das lassen, aber es bringt nichts. Luka denkt, sie versuchen so, ihre elterlichen Sünden wiedergutzumachen. Ich dachte in dem Moment gar nichts, ich versank nur immer tiefer im Boden, also ich meine, im Sitz.

Ich löschte die Nachricht an Saška wieder, fügte einen ein, schrieb Kuss, Kuss dahinter und drückte auf Senden. Sollten sie doch lieber neidisch sein, als mich für eine Idiotin zu halten. Die Nachricht ging Richtung Schulhof und ich blieb im Bus sitzen und sah weiter Mama und Papa zu, wie sie neben meinem Fenster herrannten und winkten. Sie sahen aus wie schlechte Comedians. Irgendwann machte Papa schlapp. Eine Weile ging er noch mitten auf der Straße, dann blieb er stehen. Halb nackt, mit offenem Hemd, schwitzend und keuchend. Er beugte sich vor und stützte sich auf die Knie. Ich bin fast gestorben vor Angst, dass ihn gleich ein Riesenlaster umfährt. Mama rannte noch bis zur Verkehrsinsel weiter. Sie lehnte sich an die Ampel und winkte, winkte, winkte; so lange, bis eine Straßenbahn kam und sie verdeckte. Dann rief sie mich auf dem Handy an und sagte mir, ich soll mich benehmen, Oma gehorchen und nicht ihren Blutdruck erhöhen, denn die Krankenversicherung gilt im Ausland nicht, was heißt, dass jeder Arztbesuch von Oma extra bezahlt werden muss. Während der Bus auf der Gazela-Brücke über die Save fuhr, erklärte
Mama mir, das würde daran liegen, dass wir die zusätzliche Versicherung nicht bezahlt haben, weil nun mal die finanzielle Situation so ist. Dann sagte sie noch, dass das keine gewöhnliche Reise ist, Oma wird aufgewühlt sein und ich muss ihr eine Stütze sein, sie und Papa würden nachkommen, sobald sie das Projekt abgegeben hätten, ich soll mir keine Sorgen machen, alles wird gut, Stari Grad ist der schönste Ort der Welt, aber ich soll dort nicht bre sagen und auch keine kyrillische Schrift benutzen, die Leute sind dort wundervoll, aber es könnte auch passieren, dass mich jemand schief ansieht, das soll ich aber nicht persönlich nehmen, darüber hätten wir ja schon gesprochen, am besten ist es, wenn ich immer bei Oma bleibe, und dann sagte sie, dass sie jetzt auflegen muss, weil Papa einen Hexenschuss hat und sich nicht mehr aufrichten kann.

Das war also der Anfang meiner Sommerferien. Luka hats gut! Er kommt immer besser weg als ich. Echt immer. Ich kann mir genau vorstellen, was für eine coole Zeit er jetzt am Silbernen See hat, während ich hier Omas Gesäge zuhören muss. Schon die zweite Nacht, in der ich nicht schlafen kann. Im Bus war es schrecklich stickig. Die Klimaanlage funktionierte fast nicht. Ich wollte lesen, aber so ne Kuh hat sich aufgeregt, dass sie das Licht stört, und ich musste die Lampe ausmachen. Die größte Party hatten wir übrigens an der Grenze. Oma konnte ewig den Zettel nicht finden, auf dem meine Eltern mir erlaubten, das Land zu verlassen. Panisch wühlte sie in den Taschen und warf mit Essen, Flaschen, Brille, Taschentüchern, Hausschuhen, Cremes und solchen Sachen um sich. Als sie uns dann schon ordentlich vor dem Grenzbeamten blamiert hatte, fiel ihr wieder ein, dass sie ja das Dokument an einem sicheren Ort verstaut hatte – in der Tüte mit den Medikamenten! Sobald der Bus weiterfuhr, stopfte ich mir die In-Ears in die Ohren und machte Musik an, doch das hielt meine Oma nicht davon ab, mir alle paar Minuten Pfirsiche, Sandwiches oder Dickmilch unter die Nase zu halten. Wer bitte nimmt heute noch Dickmilch mit auf die Reise?!

Um sieben Uhr morgens kamen wir in Split an. Ich wollte mir am Brunnen neben dem Busbahnhof die Zähne putzen, doch da brüllte Oma wie ein bengalischer Tiger los: »Jetzt Zähne putzen! Willst du, dass wir die Fähre verpassen? Willst du das, ja? Nimm ein Kaugummi und fertig! Schaust du denn keine Werbung?«, schrie sie panisch und zog mich am Arm. Wenn sie hysterisch wird, fängt Oma an, unglaublich dummes Zeug zu reden, und zwar megalaut.

Auf die Fähre gingen wir unausgeschlafen, zerknautscht, stinkend und zerstritten. Ich war so nervös, dass ich alles aufaß, was noch vom Futterpaket übrig war. Sogar die Dickmilch. Ich musste den Knopf meiner Jeans öffnen, weil ich nicht mehr atmen konnte. Neben uns saßen sieben oder acht Leute aus Italien. Sie spielten Karten und hatten richtig viel Spaß – im Gegensatz zu mir. Unter ihnen war auch ein Paar, das sich die ganze Zeit küsste und rummachte. Ich fühlte mich so elendig, dass es mir nicht mal peinlich war, als Oma an meine Schulter gelehnt schnarchte. Musik konnte ich auch keine hören, der Handy-Akku war leer.

Meine Oma schnarchte also im Bus, auf der Fähre und jetzt schnarcht sie hier im Zimmer. Ist auch kein Wunder, wenn sie sich so mit Bromazepam vollstopft. Sie hat die doppelte Dosis geschluckt und schläft wie ein Stein. Und was mache ich? Ich könnte an die Decke starren, Schafe zählen, mit dem Kopf gegen die Wand hauen oder was mir sonst noch einfällt. Okay, ich gebe zu, Oma hat es nicht leicht. Sie ist nach 26 Jahren in ihre Geburtsstadt zurückgekommen. Das ist echt ganz schön viel Zeit – zwei Mal mein bisheriges Leben. Wie das alles hier wohl für sie aussieht? Das Meer? Das Haus? Die Leute? Nicht mal einen Monat könnte ich ohne Belgrad aushalten. Ich vermisse es ja jetzt schon! Und mein Zimmer erst und mein Bett!

Die völlige Apokalypse begann, als wir von der Fähre
runtergingen. Die Sonne brannte, aber ich hatte einen Kapuzenpulli, eine lange Hose und eine Jacke an, weil es beim Losfahren in Belgrad kalt und regnerisch gewesen war. Am Hafen in Stari Grad wartete Omas Schwester Lucija, die Luce genannt wird, auf uns. Die beiden fielen sich um den Hals und weinten los. Während sie in Tränen erstickten, stand ich daneben wie die größte Vollidiotin. In der Zwischenzeit verließen alle Reisenden den Hafen, alle Autos, alle Taxis und alle Busse fuhren ab, also mussten wir drei zu Fuß zum Haus gehen, und zwar auf dem Pfad parallel zum
Strand. Während normale Leute dort in Badesachen herumspazierten, musste ich in voller Wintermontur Omas und meinen Riesenkoffer hinter mir herschleifen. Die Hände tun mir jetzt noch weh vom Schleppen. Oma war knallrot wie eine Tomate, ich bekam schon Angst, sie würde gleich einen Schlaganfall kriegen. Ein paar Mal war ich kurz davor, ihr Megakissen ins Meer zu schleudern, hatte aber Schiss, einen Badegast am Kopf zu treffen, und ließ es bleiben.

Oma hat mir gesagt, dass Luce meine Nona ist (so sagen sie in Dalmatien zu Oma) und ich sie nicht siezen muss. Nona Luce lebt allein. In ihrem Haus zerfällt so ziemlich alles, vor allem die Klobrille. Heißt also, ich werde die Ferien in einem schwarzen Loch mit zwei Omas verbringen....

Erscheint lt. Verlag 1.8.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Kinder- / Jugendbuch Kinderbücher bis 11 Jahre
Schlagworte 2024 • ab 10 • ab 11 • Coming-of-age • eBooks • Erste Liebe • Erwachsen werden • Familiengeheimnis • Jugoslawien • Kinofilm • Neuerscheinung
ISBN-10 3-641-32927-2 / 3641329272
ISBN-13 978-3-641-32927-3 / 9783641329273
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