Stella Menzel und der goldene Faden (eBook)

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2024 | 1. Auflage
160 Seiten
Fischer Sauerländer Verlag
978-3-7336-0853-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Stella Menzel und der goldene Faden -  Holly-Jane Rahlens
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Stella liebt ihre Decke aus blauem Seidensatin, die sie von ihrer Ururgroßmutter geerbt hat - eine Decke, übersät mit Sternen und Schneeflocken aus Silberbrokat und mit einem goldenen Faden eingefasst. Auf jeden, der ihn besitzt, übt dieser Stoff eine magische Wirkung aus - denn seine Falten bergen die Kraft, die Geschichten seiner Besitzerinnen einzufangen: wundersame Geschichten vom alten Russland, vom Berlin der 20er Jahre, von der Flucht der jüdischen Familie nach New York und einem Neuanfang in Berlin. Dieses Erbstück begleitet Stella von der Wiege bis zum ersten Kuss. Und während der Stoff sich im Laufe der Zeit verwandelt und immer kleiner wird, wird auch Stella schließlich ein Teil seiner Geschichte. Das neue Buch der Jugendliteraturpreisträgerin über Mütter und Töchter, über unsere Wurzeln - und über den goldenen Faden, der alles miteinander verbindet. Zum Lesen und Vorlesen für Kinder ab 9 Jahre und die ganze Familie!

Holly-Jane Rahlens kam Anfang der 70er-Jahre aus ihrer Heimatstadt New York nach Berlin. Mit Funkerzählungen, Hörspielen und Solo-Bühnenshows machte sie sich dort in den 80ern und 90ern einen Namen. Außerdem arbeitete sie als Journalistin, Radiomoderatorin und Fernsehautorin, bis sie sich ganz dem Schreiben widmete.

Holly-Jane Rahlens kam Anfang der 70er-Jahre aus ihrer Heimatstadt New York nach Berlin. Mit Funkerzählungen, Hörspielen und Solo-Bühnenshows machte sie sich dort in den 80ern und 90ern einen Namen. Außerdem arbeitete sie als Journalistin, Radiomoderatorin und Fernsehautorin, bis sie sich ganz dem Schreiben widmete. Brigitte Jakobeit, Jahrgang 1955, lebt in Hamburg und übersetzt seit 1990 englischsprachige Literatur, darunter die Autobiographien von Miles Davis und Milos Forman sowie Bücher von John Boyne, Paula Fox, Alistair MacLeod, Audrey Niffenegger, J. R. Moehringer und Jonathan Safran Foer. Reinhard Michl, geboren 1948 in Niederbayern, machte zunächst eine Lehre als Schriftsetzer und studierte dann an der Fachhochschule für Grafik-Design und später an der Akademie der Bildenden Künste in München. Seine Liebe gilt der Kinderbuchillustration, und für seine Arbeiten wurde er bereits mehrfach ausgezeichnet, unter anderem im Rahmen des Deutschen Jugendliteraturpreises.

Zweites Kapitel Der Gartenzwerg


Eines Nachmittags, als Stella noch ein kleines Mädchen war, tobten sie und ihr Freund Mats mit einer Decke über ihren Köpfen im Schrebergarten ihrer Tagesmutter herum. Die heiße Junisonne schickte ihre Strahlen unerbittlich durch einen wolkenlos blauen Himmel, aber unter Stellas seidener Decke – ein Geschenk ihrer Großmutter Josephine zu Stellas Geburt – war es dunkel und kühl. Die blaue Decke war mit silbernen Sternen und Schneeflocken übersät. Der Name, den Stella ihr gab, sobald sie sprechen konnte, passte gut: Schneestern.

Stella und Mats waren einander so verbunden wie Hänsel und Gretel. Mats konnte sich nicht sattsehen an Stellas wippenden orangeroten Locken: wilde, wuschelige Kringel, die strahlenförmig von ihrem Kopf abstanden wie Feuerwerkskörper. Sie wiederum war beeindruckt von seiner Brille mit dem kupferfarbenen Drahtgestell, die seine Augäpfel groß wie Walnüsse aussehen ließ. «Kleiner Professor», nannte ihn Netti, die Tagesmutter. Und das war er auch! Schon in diesem Alter konnte Mats den genauen Zeitpunkt bestimmen, wann ihr Wolkenkratzer aus Duplosteinen einstürzen würde. Und wenn er es tat, lachten Stella und Mats, als wäre der Einsturz das beste jemals erfundene Spiel, während die anderen Kinder von den verstreuten Resten ihrer Mühen so schockiert waren, dass sie zu weinen anfingen. Wenn das passierte, sagte Stella meistens etwas scheinbar Banales – etwas wie: «Kleiner Professor ist schlechter Bauer» –, und die anderen hörten augenblicklich auf zu weinen und brachen in Gelächter aus. «Bauer?», lachten sie. «Du meinst Bauarbeiter!» Mats drückte Stella dann immer ganz fest. «Mein Rottopf», sagte er stolz. «Mein Rottopf.»

«Topf?», lachten die Kinder. «Du meinst Kopf!»

Jetzt aber tobten Stella und Mats mit der Decke über ihren Köpfen zwischen den Gartenzwergen herum. Sie rochen das Gras, frisch und erdig. Unter ihren nackten Füßen schien der Boden nachzugeben wie eine besonders saftige, riesige Schokoladencremetorte. Die Erwachsenen plauderten am Tisch unter dem Aprikosenbaum hinter dem Geräteschuppen, und die Eiswürfel klirrten in ihren Gläsern.

Stella und Mats, die vom Herumtollen schon ganz dusselig waren, genossen das schwindelige Gefühl in vollen Zügen. Aber da wurden sie plötzlich durch Gebell aus ihrem übermütigen Spiel gerissen. Knurren. Schweres Keuchen. Die Decke wurde weggezerrt. Wutsch! Und Stella und Mats sahen sich zwei grimmigen Drachen gegenüber … na gut, es waren zwei Schäferhunde – aber immerhin. Die Tiere fletschten ihre spitzen, furchteinflößenden Zähne und schnappten nach ihnen. Stella spürte den heißen, feurigen Atem auf ihrem Gesicht, roch den fauligen Monstergestank. Sie schrie. Ihr Vater, Mikhail, erschien neben den Kindern und hob sie eilends hoch. Die Hunde folgten ihm und knurrten.

«Weg mit euch!», rief Netti, die Tagesmutter, die herbeigerannt war.

Aber die Hunde liefen nicht davon. Stattdessen spielten sie Tauziehen mit der Decke. Sie rannten mit ihr davon und sprangen mit ihren dreckigen Pfoten auf ihr herum. Sie sabberten darauf und schlenkerten sie hin und her wie den Hals eines Vogels. Die Decke zerriss – zzsscchhtt. Noch einmal und noch einmal. Zzsscchhtt. Zzsscchhtt.

«Pfui! Böse Hunde!», schimpfte Netti und verscheuchte sie.

Stellas Vater riss der Geduldsfaden. «Пοшли вон!», sagte er knapp auf Russisch, was so viel bedeutet wie: «Haut ab, ihr dummen, verrückten, wilden, deckefressenden, bösen Hunde, die ihr euch für Drachen haltet, und wenn nicht, werdet ihr schon sehen, was euch blüht. Das ist mein Ernst!»

Die Hunde klemmten den Schwanz ein und rannten winselnd dorthin zurück, von wo sie gekommen waren: in den Garten des Nachbarn.

Stellas Decke – ihr Schneestern – konnte kaum noch als Decke bezeichnet werden. Stella hatte das Gefühl, als hätte man sie selbst in Stücke gerissen. Mats, dem beim Bücken das blonde Haar über die Walnussaugen fiel, half ihr und ihrem Vater, die Reste aufzuklauben. Er verstand Stellas Verzweiflung. «Mein Rottopf», sagte er und drückte sie fest. «Mein Rottopf.»

 

Stella wollte Schneestern sofort und heil zurückhaben. Sie sagte sich, wenn Emma, die auch bei Netti in der Gruppe war, ihr Nilpferd über Nacht zurückbekommen hatte, dann müsste es bei ihr und Schneestern doch genauso gut gehen.

Emma nahm ihr Nilpferd jeden Tag mit zu Netti. Das Plüschtier muffelte leicht nach Spucke, sein beigefarbenes Fell war schmutzig und abgegriffen, und sein rotgelb gestreiftes Kleid war zerrissen und löste sich am Saum auf. Sein rechtes Ohr fehlte, als hätte es jemand mit der Schere abgeschnippelt. Aus Gründen, die Stella nicht nachvollziehen konnte, nannte Emma ihr Nilpferd «Grunz Grunz».

Eines Tages, als Netti mit den Kindern einen Spielplatz besuchte, ging Grunz Grunz verloren. Netti suchte überall nach ihm, fragte sämtliche Mütter, Kindermädchen, Tagesmütter und Babysitter, die auf dem Spielplatz herumsaßen, ob sie es versehentlich mitgenommen hätten, doch es blieb verschwunden.

Emma weinte den ganzen Tag.

Wunderbarerweise jedoch erschien Emma am nächsten Morgen wieder mit Grunz Grunz im Arm. Bei näherem Hinsehen allerdings entdeckten die Kinder, dass es nicht dasselbe Grunz Grunz war, das sie seit zwei Jahren kannten. Es war zu sauber. Und es hatte nicht mehr den schwitzigen, kotzigen Geruch, den es sonst immer hinter sich herzog. Außerdem sah das gestreifte Kleid zu neu aus, und der Saum war in Ordnung. Sogar das fehlende Ohr war wieder vorhanden.

«Das Ohr ist da», stellte Stella fest.

«Grunz Grunz war im Krankenhaus», erklärte Emma den anderen mit großem Ernst. «Sie haben das Ohr op-riert.»

«Welches Krankenhaus?», fragte Stella, die viele kaputte Spielsachen hatte, die operiert werden mussten.

«Spielemax», sagte Netti.

 

«Oh-ooh», sagte Stellas Mutter, Isabel Zwickel-Menzel, als ihr Mann und ihre Tochter mit der dreckigen und zerfetzten Decke von Nettis Schrebergarten zurückkamen. «Ich glaube, jetzt müssen wir sie wegwerfen. Sie ist alt und verfleckt und zerrissen.»

«Nein!», schrie Stella. «Spielemax.»

«So was gibt es da nicht», sagte Isabel. «Aber wir besorgen dir irgendwo eine neue, meine Schnecke.»

Und sosehr Stella auch jammerte, Isabel verkündete mit ihrer typischen «Mama-Stimme» – einer Stimme, so stetig und stur wie der Herbstregen –, dass man Schneestern leider nicht retten könne, selbst Dr. Spielemax könne da nicht helfen. Isabel beschönigte Tatsachen nämlich grundsätzlich nicht mit Unwahrheiten. Sie war Apothekerin, und Apothekerinnen sind nun mal so. Das ist bitter – wie manche ihrer Pillen.

 

«Oh, dear!», sagte Stellas Großmutter Josephine, als sie am Abend zum Essen kam und die Überreste der blauen Satindecke sah. «Oh, dear. Das Erbstück meiner Großmutter.»

«Mama», sagte Isabel, «das Ganze tut mir wirklich sehr leid, aber so was passiert eben, wenn man einem Kind ein Erbstück aus Seidensatin schenkt. Was, um Himmels willen, hast du dir nur dabei gedacht?»

Josephine warf ihrer Tochter einen vernichtenden Blick zu. «Das, meine Liebe, wirst du wohl selbst herausfinden müssen.»

Isabel seufzte. «Die Decke war schon alt und verfleckt, als du sie Stella geschenkt hast. Und jetzt ist sie alt und verfleckt und schmutzig und zerrissen dazu. Wirf sie weg!»

«Nein!», protestierte Stella. «Ich will meine Decke wieder!»

«Gib sie mir, bitte», sagte Josephine ruhig. «Lass mal sehen.»

«Mama!», sagte Isabel. «Aus nichts kann man nichts machen!»

«Pst», sagte Josephine, untersuchte die Decke und drehte sie immer wieder hin und her. «Wenn ihr mich fragt», meinte sie schließlich, «ist noch genügend Stoff übrig, um etwas Neues daraus zu machen.»

«Siehst du!», sagte Stella triumphierend zu ihrer Mutter. «Siehst du!»

Isabel zuckte nur mit den Schultern und ging wieder in die Küche, um ihrem Mann Mikhail bei der Zubereitung seiner berühmten Erdbeerplinsen zu helfen.

 

Es vergingen Tage, eine Woche, zwei. Und dann kam Oma Josephine mit einem Päckchen vorbei. Darin war ein Kleid aus blauem Seidensatin, zusammengenäht mit goldenem Faden und bestickt mit Sternen und Schneeflocken aus Silberbrokat.

Stella war entsetzt. «Das ist Schneestern?», sagte sie, den Tränen nahe. «Was ist Schneestern passiert?»

«Hmpf», sagte Isabel. Sie schnappte sich das Kleid und untersuchte es Zentimeter für Zentimeter, Stich für Stich, als entzifferte sie Buchstabe für Buchstabe ein Arztrezept. «Da sind immer noch Flecken!», sagte sie schließlich und zeigte auf ein paar Stellen.

«Cranberrysauce. Thanksgiving. 1959», sagte Josephine. «Damals war es eine Tischdecke. In New York.»

«Und die weißen Flecken?», wollte Isabel wissen.

«Schuhcreme. 1949.»

«Hmpf», sagte Isabel wieder und ging aus dem Zimmer, um sich für ihren Tangokurs herzurichten.

«Schuhcreme?», fragte Stella. «New York?»

Josephine hob Stella hoch und setzte sich mit ihr auf das Sofa. «Stella», sagte sie, «soll ich dir eine Geschichte über einen verzauberten Stoff erzählen?»

«Ein Zaubertuch?», fragte Stella.

«Nein, nicht wirklich, kein Abrakadabra, aber trotzdem etwas ganz Besonderes.»

Stella klatschte in die Hände. Nach dem langweiligen, regnerischen Nachmittag war sie froh um die Ablenkung....

Erscheint lt. Verlag 1.6.2024
Illustrationen Reinhard Michl
Übersetzer Brigitte Jakobeit
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Kinder- / Jugendbuch Kinderbücher bis 11 Jahre
Schlagworte blaue Seide • Brigitte Jakobeit • Decke • Erbstück • Familiengeschichte • goldener Faden • jüdische Familie • Reinhard Michl • Russland • Stella • Vorlesebuch • Zauberstoff
ISBN-10 3-7336-0853-4 / 3733608534
ISBN-13 978-3-7336-0853-8 / 9783733608538
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