Sohn des Meeres (eBook)
368 Seiten
Thienemann Verlag GmbH
978-3-522-62210-3 (ISBN)
Davide Morosinotto wurde 1980 in Norditalien geboren und hat bereits über 30 Kinder- und Jugendbücher veröffentlicht. Sein Kinderbuch 'Die Mississippi-Bande' wurde für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert. Für sein Jugendbuch 'Shi Yu' wurde er mit dem 'Premio Strega', dem wichtigsten Literaturpreis Italiens ausgezeichnet. Davide Morosinotto lebt als Autor, Journalist und Übersetzer in Bologna.
Viele Jahre lang verlief das Leben im Haus vollkommen ereignislos.
Dann kamen die Barbaren.
Ausgerechnet Pietro erfuhr es als Erster, was eigentlich seltsam war, weil er zwar für das Haus arbeitete, jedoch nicht dort wohnte. Denn das Haus stand in der Stadt und gehörte dem Senator, der es mit seiner Familie und seinen engsten Vertrauten bewohnte. Pietro dagegen war nur der Schweinehirte.
Für den Abend war ein Festessen geplant, deshalb kam früh im Morgengrauen ein Diener zum Schweinepferch und verlangte ein Spanferkel, das am Rost gebraten werden sollte.
Da der Mann es sehr eilig hatte, schlug Valdo vor, dass sie ihm das Spanferkel vorbeibringen könnten. Zu Pietro sagte er: »Kümmere du dich darum.«
Valdo war der Vater von Pietro, doch sie sahen einander überhaupt nicht ähnlich. Valdo war ein klein gewachsener Mann mit dunkler Haut, während Pietro mit seinen vierzehn Jahren beinahe ein Riese war, ein junger Mann mit breiten Schultern und einer hellen Haut, die in der Sonne ständig verbrannte. Deshalb rieb ihm seine Mutter jeden Abend mit einer Salbe aus Fett und Kräutern den Rücken ein.
Valdo war der Besitzer des Schweinepferchs und führte sich auf, als wäre er auch der Besitzer von Pietros Mutter. Ständig erteilte er ihr Befehle und schlug sie, wenn sie nicht schnell genug gehorchte.
Nie hatte Pietro genug Mut oder Kraft gehabt, etwas dagegen zu unternehmen, bis er eines Tages nach Hause kam und sah, wie Valdo über der am Boden liegenden Mutter einen Stock schwang. »Nein!«, sagte er in dem Moment.
Er sprach nie viel, denn er hatte gemerkt: Wenn man wenig sagt, hat das, was man sagt, umso mehr Gewicht. Und tatsächlich hatte an dem Tag ein einziges Wort genügt, um Valdo aufzuhalten. Ein seltsamer Funke war in seinen Augen aufgeblitzt und zum ersten Mal war Pietro bewusst geworden, dass sein Vater den Kopf in den Nacken legen musste, um zu ihm aufzuschauen. So klein war er – und Pietro dagegen so groß. Mit einem Faustschlag gegen die Schläfe hätte er ihn töten können.
Valdo musste etwas Ähnliches gedacht haben, denn er hatte die gemeinsame Hütte verlassen und war erst zurückgekommen, als es Schlafenszeit wurde. Am folgenden Morgen hatte er getan, als ob nichts wäre. Die Mutter aber hatte er nie wieder geschlagen.
Pietro ging seinem Vater seitdem möglichst aus dem Weg. Eigentlich wäre es ihm viel lieber gewesen, wenn er ihn gemocht hätte, doch es gelang ihm nicht und das machte ihn traurig.
Auf jeden Fall aber war und blieb Valdo sein Vater und deshalb musste er ihm gehorchen.
»Nimm ein Spanferkel und bring es in die Stadt«, lautete sein Befehl.
Der Schweinepferch befand sich mitten im Wald, damit man die Tiere hinauslassen konnte, wo sie Pilze, Eicheln, Früchte und all das andere fanden, das sie gerne fraßen. Der Wald lag am Fuß der Hügel, die mit ihren runden Kuppen einen langen Abschnitt des Horizonts verdeckten. Diese Kuppen sahen ein bisschen wie Mädchenbrüste aus, und seit einiger Zeit dachte Pietro etwas zu oft über diese Ähnlichkeit nach und über die Brüste von Galla, die so alt wie er war und auf den Feldern hinter dem Wald arbeitete.
Pietro kannte nicht viele andere Mädchen und hatte daher kaum Vergleichsmöglichkeiten, doch für ihn war Galla wunderschön. So ähnlich ging es ihm auch mit dem Wald und den Hügeln, die er wunderschön fand, weil er kaum andere kannte. Er dachte oft, dass er Glück gehabt hatte, an einem Ort geboren zu sein, an dem es ihm gefiel, denn wahrscheinlich würde er sein ganzes Leben hier verbringen, bis zu seinem letzten Atemzug.
Pietro schlüpfte unter das Dach, unter dem die Säue mit ihren Spanferkeln lagen, jene jungen Schweine, die im Frühjahr geboren und jetzt drei Monate alt waren. Eines purzelte ihm fröhlich grunzend entgegen. Es war ziemlich groß, musste ungefähr dreißig Kilo wiegen und war von einem schönen Rosa mit kleinen schwarzen Tupfen.
»Bietest du dich als Freiwilliger an?«, fragte Pietro. »Das ehrt dich, denn dadurch rettest du deinen Geschwistern das Leben.«
Er hob das Ferkel auf und legte es sich über die Schultern. Das Tier wand sich hin und her.
»Bleib ruhig«, sagte Pietro. »Sonst muss ich dich fesseln. Willst du nicht lieber den Spaziergang genießen?«
Mit seiner Last auf dem Rücken verließ Pietro den Pferch und schlug den Pfad ein, der durch den Wald führte. Die Stadt Ateste war ein paar Meilen entfernt, eine beachtliche Strecke, wenn man eine schwere Last zu tragen hatte, doch Pietro war kräftig, deshalb machte es ihm nicht viel aus.
Er ließ den Wald hinter sich und ging auf der Römischen Straße weiter, die entlang des Flusses Athesis verlief. Pietro mochte den Fluss, weil er immer in Bewegung war. Oft kam es ihm vor, als flüstere er ihm Geschichte von fernen Orten zu. Der alte Ranilo, der Fährmann, hatte ihm einmal erzählt, dass der Fluss im Osten in einen riesigen See mündete, den man »Meer« nannte, und dass in diesem Meer unglaublich viel Wasser war. Man konnte es nicht trinken, denn es war salzig.
Pietro fragte sich, ob das stimmte. Der alte Ranilo war schließlich bekannt dafür, dass er verrückte Geschichten erzählte, vor allem dann, wenn er einen Becher Wein zu viel getrunken hatte.
Und jetzt, hinter der Kurve, tauchte plötzlich Ranilo höchstpersönlich vor ihm auf. Er stand am Flussufer und schrie einen Reiter am anderen Ufer an. Dieser Reiter war eindeutig nicht von hier: Er trug eine kurze Tunika, die ihm nur halb über die Oberschenkel reichte, einen ledernen Brustpanzer und genagelte Sandalen, wie Soldaten sie hatten.
In der über den Fluss geschrienen Diskussion ging es darum, dass der Reiter übergesetzt werden wollte, Ranilo sich jedoch weigerte, weil das Pferd zu schwer für sein Floß war.
»Du musst drei oder vier Meilen zurückreiten, da findest du eine Brücke«, rief Ranilo.
»Ich habe keine Zeit«, rief der andere zurück. »Sie haben gesagt, mit der Fähre geht es schneller.«
»Zu Fuß ja. Mit dem Pferd nicht.«
»Aber es ist wichtig. Ich habe Nachrichten für die Kurialen.«
Die Kurialen waren die Herren des Stadtrats. Die mächtigen Herren. Männer wie der Clarissimus, der Senator.
»Was für Nachrichten sollen das sein?«, wollte Ranilo wissen.
»Die Barbaren kommen!«
Der alte Fährmann und Pietro wechselten einen Blick.
»Das ist keine große Neuigkeit«, rief Ranilo hinüber.
Tatsächlich zogen durch diese Gegend häufig Barbaren. Meistens waren es Goten, Sarmaten oder Alanen. Sie alle waren Krieger mit langen, hellen Haaren. Manche kämpften für das römische Heer, manche auf eigene Rechnung, doch den Leuten hier hatten sie nie etwas getan.
»Dieses Mal ist es anders!«, rief der Reiter. »Die Hunnen kommen! Sie sind wie Raubtiere und sie werden von Attila dem Eroberer befehligt. Ich muss so schnell wie möglich zum Senator.«
Ranilo kratzte sich am Kinn. »Und was machen wir jetzt?«
Pietro wusste, dass der Senator sehr böse werden würde, wenn er erfuhr, dass ein wichtiger Bote aufgehalten worden war.
»Vielleicht kannst du den Mann mit deinem Floß übersetzen«, sagte er zu dem Fährmann, »und ich führe das Pferd dort drüben durch die Furt.« Er zeigte auf eine Flussbiegung, in der die Strömung nur sehr schwach war.
Ranilo grinste. »Manchmal vergesse ich, dass du nicht nur ziemlich viele Muskeln, sondern auch ein bisschen Hirn hast«, meinte er. »Wir machen es genau so, wie du gesagt hast.«
Schreiend teilte er dem Boten den neuen Plan mit und stieg auf sein Floß. Pietro band dem Ferkel die Beine zusammen und legte es ins hohe Gras, bevor er zu Ranilo auf das Floß sprang.
Ranilo setzte über und der Bote kam an Bord, während Pietro zu dem Pferd ging. Es schnaubte und Pietro strich ihm mit der Hand über die Nase. Behutsam führte er es zur Flussbiegung und das Ufer hinunter.
Als das Pferd das Wasser an seinen Beinen spürte, schrak es zurück, doch Pietro beruhigte es. Er zog seine Tunika aus und band sie sich um den Kopf, damit sie nicht nass wurde. Anschließend stieg er in das trübe, kühle Wasser und zog das Pferd am Zügel hinter sich her.
Seite an Seite schwammen sie ans andere Ufer. Dann trieb Pietro das Tier die Böschung hinauf und zog sich wieder an.
Der Bote wartete schon auf sie.
»Gut gemacht, Junge!«, lobte er ihn und warf ihm eine Münze zu, die dieser in der Luft auffing.
Eine richtige Münze, nur für ihn? Heute schien sein Glückstag zu sein.
»Ich muss zum Haus von Massimus Onoratus«, erklärte der Bote. »Kennst du ihn?«
Das war der Name des Senators von Ateste.
»Ich muss auch dorthin«, erklärte Pietro.
»Steig hinter mir auf und zeig mir den Weg.«
Pietro überlegte. »Darf ich mein Ferkel mitnehmen?«
»Wir haben jetzt keine Zeit für Ferkel! Die Barbaren sind im Anmarsch. Begreifst...
Erscheint lt. Verlag | 29.8.2024 |
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Sprache | deutsch |
Original-Titel | Il figlio del Mare |
Themenwelt | Kinder- / Jugendbuch ► Jugendbücher ab 12 Jahre |
Schlagworte | Abenteuer • Attila • Bestseller Autor • Crossdressing • Freunde • Freundschaft • Geschenk • Glücksbringer • Historischer Roman • Hunnen • Jugendbuch ab 12 • Kampf • Krieg • Liebe • Römer • Schwert • Soldat • spannend • Talisman • Vater • Venedig • Verkleiden |
ISBN-10 | 3-522-62210-3 / 3522622103 |
ISBN-13 | 978-3-522-62210-3 / 9783522622103 |
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