Wo die Nacht verweilt (eBook)
432 Seiten
Arctis Verlag
978-3-03880-185-6 (ISBN)
Ania Poranek wuchs in Ontario, Kanada auf und verbrachte ihre Sommer auf dem Land in Polen, wo sie die Bibliothek ihres Großvaters plünderte und sich um seine Hühner kümmerte. Ihre Liebe zu Tieren brachte sie dazu, Tiermedizin zu studieren, doch nebenbei hörte sie nie auf zu Schreiben. Ihre Freizeit verbringt sie mit Zeichnen und ihrem kampfeslustigen Hausdämon (Kater) Neptun.
Ania Poranek wuchs in Ontario, Kanada auf und verbrachte ihre Sommer auf dem Land in Polen, wo sie die Bibliothek ihres Großvaters plünderte und sich um seine Hühner kümmerte. Ihre Liebe zu Tieren brachte sie dazu, Tiermedizin zu studieren, doch nebenbei hörte sie nie auf zu Schreiben. Ihre Freizeit verbringt sie mit Zeichnen und ihrem kampfeslustigen Hausdämon (Kater) Neptun.
1 Das Mädchen, das den Wald betrat
Die Feiern zu Kupała, der Mittsommernacht, haben gerade erst begonnen, als Liska Radost das Dorf hinter sich lässt.
Tränen treten ihr in die Augen, als sie ein letztes Mal zurückblickt. Ein Windstoß zerrt an ihrem Schultertuch und droht die Flamme in ihrer Laterne auszulöschen. Eigentlich wird die Sonnwendnacht unter dem Sommervollmond ausgelassen gefeiert. Unverheiratete Mädchen binden Kränze aus Wildblumen und lassen sie den Fluss hinuntertreiben, damit die einheimischen Jungen sie herausfischen. Am fröhlich prasselnden Sonnwendfeuer singt man Volkslieder und die Dorfbewohner beten zu Gott um Fruchtbarkeit auf den Feldern, in den Ställen und ehelichen Schlafkammern. Das Wichtigste ist allerdings, dass in dieser Nacht der Legende nach die Farnblume blüht.
Und wenn die Legenden wahr sind, dann wird es die Nacht sein, in der Liska sie findet. Sie wird sie pflücken, ihren Wunsch aussprechen und für ihre Sünden Buße tun.
Nun schreitet sie tiefer in die Dunkelheit, durch eines der zahlreichen Weizenfelder, die sich über die sanften Hügel erstrecken und das Dorf auf allen Seiten umschließen. Zu Mittag wird die Sonne die Halme in Gold verwandeln, doch jetzt rascheln sie nur ahnungsvoll gegen Liskas geblümte Röcke und beugen sich wie reumütige Sünder. Sie hebt die Laterne höher, aber das Licht ist nur ein flackernder Funke – ein Hohn im Vergleich zum lodernden Kupała-Feuer in der Ferne, das die strohgedeckten Dächer von Stodoła auf die Leinwand des Himmels malt.
Stodoła. Heimat. Sie wird ihr Zuhause niemals wiedersehen, wenn ihr Vorhaben heute Nacht nicht gelingt. Die Gerüchte, die die Dorfbewohner flüsternd verbreiten, kennt sie gut: dass sie eine Hexe sei und so böse wie die dunkle Magie, die sich im Geisterwald verbirgt. Beinah muss sie darüber lächeln, dass die Farnblume ausgerechnet an diesem verfluchten Ort, der sogenannten Driada, blühen soll.
Es ist ihre eine einzige Chance auf Erlösung.
Der Mond geht auf wie ein großes silbernes Auge, weit geöffnet und wachsam. Er treibt Liska voran, schürt wie eine Flamme den Drang in ihrer Brust. In allen Märchen blüht die Farnblume nur bis Sonnenaufgang – deshalb darf sie keinen Augenblick vergeuden.
Ihr Weg führt sie an den Äckern vorbei auf Anhöhen mit phantomweißen Birken und hartem Gras, wo sich offenbar ein Grillen-Orchester eingefunden hat. Um sich Mut zu machen, beginnt Liska, ein Volkslied zu summen. Das handelt von einem Mädchen mit zwei Verehrern und einem Vogelbeerbaum. Die Grillen geben den Rhythmus vor, die Brise flüstert wohltönend mit und mit der Zeit kann sie sich einreden, dass sie keine Angst hat.
Bis der Driadawald vor ihr auftaucht.
Sie hat ihn schon früher gesehen – so wie alle aus Stodoła, von der schelmischen Neugier eines jeden Kindes hierhergetrieben. Wie oft stand sie mit Marysieńka an dieser Stelle? Die beiden forderten sich gegenseitig heraus, noch näher an den Wald heranzuschleichen. Näher und näher und näher, bis ein Knurren oder Rascheln sie kreischend verjagte und sie ohne Stehenbleiben bis nach Hause zurückrannten. Kinder tun närrische Dinge, bis sie alt genug sind, die Narretei zu begreifen – bis ihr Vater sie lehrt, die Strohornamente zu binden, die man in jedem Haus in Stodoła findet. Oder bis die Mutter erklärt, warum sie ihnen rote Bänder ins Haar flechtet. Das ist ein Schutz, wird sie mit sanftem Ernst sagen, vor Geistern und Dämonen und den bösen Mächten des Geisterwalds.
Als sie so nah vor ihm steht, muss Liska dem Wald eine morbide Schönheit zugestehen: wie die Anmut von Blumen auf Gräbern oder die eines Habichts, der auf seine Beute herabfährt. Die Bäume sind riesig, mächtig wie Türme und ausladend, das Astwerk wie die gespreizten Finger einer alten Frau in wattigem Nebel. Da bemerkt Liska den Geruch, der an ein frisch geschaufeltes Grab erinnert – nach Lehm und Moder und faulem Fleisch – und keinen reinen Atemzug erlaubt.
Irgendwo dort drinnen befindet sich die Farnblüte. Wenn sie die findet, muss sie ihren Wunsch sorgsam bedenken, denn die Blüte gewährt nur einen einzigen. In den Legenden sprechen Männer oft schlecht in Worte gefasste Wünsche aus und finden ein schreckliches Ende, sofern sie es überhaupt schaffen, an den teuflischen Geistern des Waldes vorbeizukommen. Hier bietet Liskas Fluch ihr zumindest einen Vorteil – schon immer war sie imstande, Geister zu spüren, zu hören und sogar zu sehen: den koboldhaften Skrzat neben dem Ofen, der sich über den schmutzigen Fußboden beklagt, oder die Kikimora im Nachbarhaus, die vor Freude über Garn jauchzt, das sie verheddern kann. Doch das sind wohlwollende Hausgeister, die sich an Gaben von Brot und Salz satt futtern und den Menschen, die ihnen Unterschlupf gewähren, freundlich gesonnen sind. Sie bezweifelt, dass die Dämonen der Driada dieselbe Sprache sprechen.
Wird sie es tatsächlich tun? Noch ist es nicht zu spät umzukehren.
Sie gehört nicht hierher.
Eine Erinnerung: Pater Paweł sitzt in der Küche des beengten Radosthofs. Er ist ein junger Priester, seine ausgefranste Soutane so löchrig wie sein Bart, seine Miene zu misstrauisch, um noch als mitleidig durchzugehen. Er und Mama sind die einzigen Menschen in Stodoła, die Liskas Geheimnis kennen. Oder zumindest waren sie das bis vor zwei Tagen.
»Die Leute beginnen sich zu wundern, Dobrawa«, sagt Paweł. »Es gibt keine Beweise, aber anders kann es sich niemand erklären. Du tust das Beste, wenn du sie fortschickst, bevor sie wieder die Kontrolle verliert oder die Prawotas genügend Leute um sich geschart haben.«
Eigentlich soll Liska diese Worte nicht hören, doch sie lauscht von draußen, durch einen Riss im Fensterladen. Sie beißt sich so fest auf die Lippe, dass es in ihrem Mund bald nach Eisen schmeckt. Die Luft ist feucht, der Himmel ein wolkenreiches Blau und zu ihren Füßen scharren ein paar Hühner unbekümmert in der Erde.
»Ich weiß, Pater, ich weiß. Aber wo soll sie hin?«
Dobrawa Radost – Mama – sitzt Pater Paweł gegenüber und zupft Minzblätter zum Trocknen von ihren Stängeln. Mit ihrer strengen Art und Augen so kalt wie Raureif hat sie Liska schon immer an Szklana Góra erinnert, den Glasberg aus den Märchen, den kein Ritter bezwingen konnte. Und wie dieser Berg ist sie weder freundlich noch grausam. Sie ist schlicht unerschütterlich, was sie als die Heilerin von Stodoła auch sein muss.
»Sie ist alt genug«, erwidert Pater Paweł. »Und ein wohlerzogenes, anständiges Mädchen. Du könntest sie verheiraten, in eine Lehre geben … oder besser noch: in ein Kloster schicken. Gott weist niemanden ab und seine Gegenwart wird sie vor der Versuchung dieser unheiligen Mächte bewahren.«
Dobrawa seufzt. »Ich habe all das bedacht, Pater, aber ist es wirklich eine gute Idee, sie allein fortzuschicken? Ich fürchte, was ohne Unterweisung aus ihr werden könnte.« Sie wirft einen kahlen Minzstängel auf den Boden. »Ach, Bogdan hätte gewusst, was mit ihr anzufangen ist. Er war der Einzige, der sie wirklich kannte.«
»Du tust das Richtige«, versichert ihr Pater Paweł. »Es ist ja keine Verdammung, nur eine Vorsichtsmaßnahme. Zu ihrer eigenen Sicherheit und …«
Und zu unserer. Diese letzten Worte bleiben unausgesprochen, doch Liska weiß, was der Priester sagen wollte: dass Liska eine Gefahr darstellt, weil sie von Magie befallen ist wie ein Obstgarten von Mehltau.
»Ich werde das ändern«, verspricht sie den Sternen über sich. »Ich werde es in Ordnung bringen.«
Sie will alles tun, um zu beweisen, dass sie nicht gefährlich ist, dass sie dazugehört – zum Dorf und zu ihren Leuten. Selbst wenn es bedeutet, dass sie auf die Märchen ihrer Kindheit vertrauen muss.
Sie geht weiter, näher, bis die Bäume des Driadawalds direkt vor ihr aufragen. Furcht packt sie an der Kehle und lässt sich kaum abschütteln.
»Gott schütze mich«, flüstert sie.
Aus dem Wald dringt daraufhin ein Kreischen. Der Wind? Nein, dafür klingt es zu ungleichmäßig.
Wie Geheul.
Oder vielleicht höhnisches Gelächter.
Liska hebt die Laterne in die Höhe und starrt auf den Weg, den sie gewählt hat. Der ist nicht mehr als niedergetretenes Unterholz zwischen raschelnden Brennnesseln und grausamem Dornengestrüpp, das an ein aufgerissenes Maul erinnert. Im flackernden Feuerschein wirkt alles wie ein Trugbild, wie die Schwelle zu einem Palast der Dunkelheit. Lauernd. Wachend.
Das Gelächter ertönt wieder und diesmal zwingt sie sich zurückzulächeln.
Dann tritt sie zwischen die Bäume.
Im nächtlichen Wald gibt es keinerlei Gewissheit.
Ein Baum ist in der windstill abgeschotteten Dunkelheit kein Baum, sondern ein entstellter Leib mit krummen Gliedern; seine Borke ist nicht Borke, sondern eine groteske Fratze mit runzliger Haut. Das Brombeergesträuch darunter wird zu etwas ganz anderem – böse Klauen, die schnappen und an den Kleidern reißen. Nesseln verbrennen Liskas nackte Knöchel, doch der Schmerz ist nichts gegen das scharfe, bohrende Gefühl in ihrem Nacken, beobachtet zu werden.
Liska stellt fest, dass sie sich bei Weitem nicht so fürchtet, wie es angemessen wäre. Vielleicht liegt das daran, dass dieser Wald genau wie sie widernatürlich, anders ist. Allein ihrer Erscheinung wegen passt sie schon immer besser in die wilde Natur als ins Dorf: mit Haaren in der Farbe frisch umgeackerter Erde, olivfarbener Haut und Wangen voller Sommersprossen. Für die Sonnwendnacht hat sie die...
Erscheint lt. Verlag | 9.10.2024 |
---|---|
Übersetzer | Henriette Zeltner-Shane |
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Kinder- / Jugendbuch ► Jugendbücher ab 12 Jahre |
Schlagworte | Dämonen • Fantasy • Folklore • Hexen • Märchen • Mythologie • Romance • Romantasy • Wald • Zauberei • Zauberwald |
ISBN-10 | 3-03880-185-2 / 3038801852 |
ISBN-13 | 978-3-03880-185-6 / 9783038801856 |
Haben Sie eine Frage zum Produkt? |
Größe: 976 KB
DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasserzeichen und ist damit für Sie personalisiert. Bei einer missbräuchlichen Weitergabe des eBooks an Dritte ist eine Rückverfolgung an die Quelle möglich.
Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belletristik und Sachbüchern. Der Fließtext wird dynamisch an die Display- und Schriftgröße angepasst. Auch für mobile Lesegeräte ist EPUB daher gut geeignet.
Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise
Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.
aus dem Bereich