Nach vorn, nach Süden (eBook)

(Autor)

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2024 | 1. Auflage
224 Seiten
Fischer Sauerländer Verlag
978-3-7336-0705-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Nach vorn, nach Süden -  Sarah Jäger
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Der Hinterhof des Pennymarktes ist mehr als ein Hinterhof für Lena, auch genannt «Entenarsch». Denn hier bekommt man seinen Namen, ob man will oder nicht. Entenarsch hat ihren von Jo, der vor einigen Wochen einfach verschwunden ist. Jo, der mit Marie zusammen war. Und an deren Trennung Entenarsch nicht ganz unschuldig ist. Entenarsch, Marie und Can beschließen, Jo zu suchen - aus den unterschiedlichsten Motiven. Ihre Fahrt durch brüllend heiße Sommertage führt sie immer weiter in den Süden, bis zu einem riesigen Musikfestival. Und während Jo wie vom Erdboden verschluckt scheint, versammeln sich um die drei Suchenden immer mehr gute Bekannte vom Hinterhof. Am Ende wird Entenarsch am Meer auf Jo treffen. Und wird nie wieder Entenarsch genannt werden.

Sarah Jäger lebt im Ruhrgebiet. Sie ist IHK-zertifizierte Call-Center-Agentin, ausgebildete Theaterpädagogin und umgeschulte Buchhändlerin. Ihr Jugendbuch «Die Nacht so groß wie wir» war für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert und wurde mit dem Hans-im-Glück-Preis ausgezeichnet.

Sarah Jäger lebt im Ruhrgebiet. Sie ist IHK-zertifizierte Call-Center-Agentin, ausgebildete Theaterpädagogin und umgeschulte Buchhändlerin. Ihr Jugendbuch «Die Nacht so groß wie wir» war für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert und wurde mit dem Hans-im-Glück-Preis ausgezeichnet.

DER HINTERHOF vom Penny-Markt ist mehr als ein Hinterhof.

Mehr als ein grau betoniertes Quadrat und zwei Meter hohe Backsteinmauern. Mehr als Holzpaletten, die an der Mauer aufgestapelt sind, als Müllcontainer und Container für abgelaufene Lebensmittel. Mehr als Metallstühle, die Otto mitgebracht hat, damit nicht alle auf den Holzpaletten sitzen müssen. Mehr als der Grill, den Marvin aus einem der Schrebergärten geklaut hat.

So viel mehr als all das.

Manchmal denke ich, dass einige von uns nur beim Penny arbeiten, damit sie eine Ausrede haben, um auf dem Hinterhof abzuhängen. Wir Aushilfen verstecken uns acht oder zwölf Stunden in der Woche irgendwo zwischen Süßigkeitenregal und Pfandflaschenautomat, aber die meisten von uns hängen Vollzeit im Hinterhof ab. Dem Filialleiter Wendthoff, dem hat das nicht gefallen. Mit rotem Kopf stand er immer in der Tür zum Lager und bekam Antworten, die er verdiente:

«Meine Schicht fängt doch in einer halben Stunde an … Was, ich stehe heute gar nicht auf dem Plan?»

«Ich warte nur auf Marie, die ist in zehn Minuten fertig … Was, erst in zwei Stunden, da hat sie mir aber Mist erzählt.»

«Ich? Ich arbeite doch hier. Sie kennen mich nicht? Also der Can hat gesagt, ich könnte … Der hat hier nichts zu sagen? Erzählen Sie doch nichts …»

Irgendwann hat der Wendthoff wohl keine Lust mehr gehabt, bis zur Rente mit rotem Kopf in der Tür zum Lager zu stehen, und hat sich in eine Filiale im Süden versetzen lassen.

«Passt auf, der schleimt sich noch bis zu Rewe hoch», hat Can da nur gesagt. Der neue Wendthoff ist die Sache schlauer angegangen. Der neue Wendthoff heißt eigentlich Müller, aber das interessiert hier niemanden. Seinen Namen sucht man sich nicht aus, der wird einem gegeben, erst bei der Geburt und dann hier auf dem Hinterhof. Für den neuen Wendthoff ist das grau betonierte Quadrat nicht mehr als ein grau betoniertes Quadrat, und er hat es uns kampflos überlassen, «aber wehe, ja, wehe euch, es gibt Ärger, keine Prügeleien, kein Delirium, kein Dealertum und keine Kippen im Container». Dafür hat er den Vollzeitern einen Fernseher in den Pausenraum gestellt, damit sie gar nicht auf den Gedanken kommen, dass es da noch etwas geben könnte, einen besseren Ort, jenseits des Pausenraums. Sie bekommen ihren täglichen Trash, und wir können zwischen den Müllcontainern ein Stückchen vom Himmel sehen. Die Vollzeiter haben das Sagen zwischen Süßigkeitenregal und Pfandflaschenautomat, und wir rütteln nicht an ihrem Thron, denn wir wollen mehr. Wir wollen mehr, als sie haben.

Es gibt keine komplizierten Aufnahmerituale. Will ein Mensch dazugehören, dann muss er im Hinterhof abhängen. Das ist die erste Regel, und danach kommt nicht mehr viel.

Pavel hat im letzten Herbst aus den Plastikhüllen, in die die Paletten eingeschweißt sind, ein Dach gebaut. Mit Plan, Geschick und Tacker. Jetzt kann uns nicht einmal mehr der Regen in unsere Schranken weisen.

Wir hocken nicht die ganze Zeit vollzählig aufeinander und umeinander. Das sind nur die besonderen Momente, die Feiertage und Feierabende. Alle sind da, wenn einer von uns was zu feiern hat. Alle sind da, aus Sympathie, Freundschaft oder weil es was umsonst gibt.

So wie am heutigen Abend, an dem Marie ihren Realschulabschluss feiert. Alle werden da sein, weil alle Marie mögen. Alle werden da sein. Alle heißt – alle bis auf Jo.

 

Ich bin spät dran, habe noch einen Abstecher zur Uni machen müssen. Völlig außer Atem komme ich im Hinterhof an. Niemand hebt den Kopf, nicht jeder wird im Hinterhof vermisst. Can steht am Grill. Er ist so alt wie ich. Und dann ist da noch der Hinterhof, und dann hören die Gemeinsamkeiten auch schon auf. Can ist immer der Erste, den man sieht. Es gibt ja so Menschen. Die kommen in den Raum, und alles wirft Funken. Mit großer Geste wendet er Würstchen und Gemüse. Die Würstchen hat Marie im Penny gekauft, das Gemüse haben wir gestern aus den Containern gefischt. Hinter Can auf den Holzpaletten sitzt Marie. Sie trägt ein weißes T-Shirt und eine blaue Jogginghose. Niemand kann eine Jogginghose mit Eleganz tragen. Niemand, außer Marie. Sie unterhält sich mit Vika, die rechts neben ihr sitzt. Auch Vika trägt eine Jogginghose, ohne Eleganz, dafür mit weißen Streifen. Auf ihrem Shirt steht in goldenen Lettern ‹Born to win›. Zwischen Vika und Marie wartet eine halbvolle Flasche Weißwein. Der Platz links neben Marie ist frei. Da hat Jo immer gesessen, und deshalb setzt sich da niemand hin. Dabei ist Jo nicht tot. Nur weg. Auf den beiden Metallstühlen sitzen Otto und Pavel, mir bleibt Boden oder Stehplatz. Kurz zögere ich noch, dann setze ich mich links neben Marie auf die Holzpaletten. Vielleicht zuckt sie leicht zusammen, aber mehr passiert auch nicht.

Vika schaut zu mir rüber und hebt leicht die Augenbrauen. «Jawollo, Entenarsch», sagt sie. Im Hinterhof sucht man sich seinen Namen nicht aus. Entenarsch. So nennen sie mich.

Marie lächelt mich nur kurz an und hört dann wieder Vika zu. Wenn Menschlichkeit ein Gesicht hat, dann soll sie bitte so aussehen wie Marie. Ein Gesicht, das keine Schminke braucht, weil es nichts zu verbergen hat. Dabei ist Marie keine Heilige. Auch sie nennt mich Entenarsch, von Zeit zu Zeit. Das hätte Jesus nicht gemacht, Jesus hat sich von Judas küssen lassen, aber der Mensch will schließlich nicht am Kreuz enden. Der Mensch muss kein Heiliger sein, er muss nur so sein wie Marie. Dann wäre die Welt vielleicht noch zu retten.

«Wieso muss man denn immer was machen, nur weil alle was machen?» Vika verzieht ihren rot geschminkten Mund zu einem Flunsch.

«Weil nichts machen auch keine Lösung ist», sage ich, weil mir ihr Gejammer schon nach einem Satz auf die Nerven geht. «Jetzt mal ehrlich …»

«Du machst doch ganz viel», werde ich von Marie unterbrochen, «du hast Fine, das muss man erst mal hinbekommen, das bekommen andere nicht hin, die zehn Jahre älter sind als du. Oder sogar zwanzig. Diese alten Mütter, die sind doppelt so alt wie du und bekommen das trotzdem nicht hin.»

Vika bekommt das mit Fine auch nicht so richtig hin. Fine ist die meiste Zeit bei Vikas Mutter, eigentlich immer. Insgesamt geht bei Vika nicht viel. Praktikum nach Praktikum. Friseurin, Einzelhandelskauffrau, Systemgastronomin, Erzieherin, sie hat einiges durch. Auch sonst.

Vika weiß nicht, was sie will. Nur Otto, den wollte sie, aber Otto wollte irgendwann nicht mehr.

Trotz Fine.

«Und den Speck hier, den bekomme ich auch nicht weg», jammert Vika weiter und greift sich in die Seite. Dann beugt sie sich näher zu Marie und flüstert: «Deswegen steht Otto nicht mehr auf mich. Ich bin ihm zu fett.»

«Das glaube ich nicht», flüstert nun Marie, «so ist der Otto doch nicht.» Beide schauen zu Otto, der mit seinem besten Kumpel Pavel unter dem Plastikdach sitzt. Es regnet nicht, aber das ist unserem Pavel vollkommen schnuppe. Das Plastikdach ist Pavels ganzer Stolz. Immer wieder wandert sein Blick hoch zu den Plastikplanen, während Otto auf ihn einredet.

«Und da hat er gesagt, dass es dazu nichts mehr zu sagen gibt», beendet er gerade seinen Monolog.

«Das hat er gesagt?»

«Ja, da sagste doch nichts mehr, oder?»

«Nee … da sagste nichts mehr.»

«Vielleicht schmeiße ich einfach hin.»

«Der Name … der ist ja auch kacke.»

«Echt? Der Name ist noch das Beste an uns.»

Otto ist Bassist in einer Band, die ‹Blümchenschlüpper› heißt. Er arbeitet beim Penny, aber nie am Wochenende. Dann reisen sie durchs Land, Otto und seine Band.

Seit Jahrzehnten ist die Band in der Punkszene unterwegs, und alle anderen Bandmitglieder sind mindestens doppelt so alt wie Otto, irgendwo jenseits der vierzig. Wenn jemand sagt, dass Punk doch gar nicht so sein Ding sei, dann schließt Otto nur kurz die Augen und sagt, dass er Musik machen will. «Was erwartet ihr, dass ich einen auf afrikanische Folklore mache und in der Fußgängerzone trommele?» Zu Otto gehören seine roten Chucks, Hosen mit Nadelstreifen und weiße Hemden. Wenn er auf der Bühne zwischen den Punkgreisen mit ihren zerrissenen Jeans und T-Shirts steht, dann ist er wie ein Kreis in einer Reihe von Quadraten, und doch ist er es, der das Bild komplett macht.

Als ob er gespürt hätte, dass wir sie anstarren, löst unser Pavel seinen Blick vom geliebten Plastikdach und schaut zu uns herüber. Er lächelt. Natürlich lächelt er. Manchmal könnte ich ihm ins Gesicht schlagen. Mitten ins Gesicht, weil er seinen Namen behalten durfte. Trotz Brille, fettiger Haare und unreiner Haut. Pavel ist achtzehn Jahre alt, aber seine Haut denkt immer noch, er sei mitten in der Pubertät. Wäre unser Pavel ein Mädchen, dann hätte er es verdammt schwer. Aber bei Jungs zählen plötzlich die inneren Werte, und in dieser Hinsicht ist Pavel rasend schön.

«Jetzt muss unser Pavel nur noch fliegen lernen, dann ist er ein Superheld», hat Can gesagt, nachdem Pavel das Dach fertiggestellt hatte, und hat ihm dabei auf seine schmalen Schultern geklopft. Pavel ist...

Erscheint lt. Verlag 1.6.2024
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Kinder- / Jugendbuch Jugendbücher ab 12 Jahre
Schlagworte Asphalt Tribe • Bücher für Jugendliche • Entenarsch • Führerschein • Jugendbücher • Jugendbücher ab 14 • Jugendbuchpreis • Jugendliteratur • Jugendliteraturpreis • Junge Erwachsene Romane • Katholischer Jugendbuchpreis 2021 • Luchs-Preis • Mädchenmeute • Penny Markt • Road Trip • tschick • Unter Palmen aus Stahl
ISBN-10 3-7336-0705-8 / 3733607058
ISBN-13 978-3-7336-0705-0 / 9783733607050
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