Federflüstern (eBook)

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2024 | 1. Auflage
352 Seiten
Fischer Sauerländer Verlag
978-3-7336-0848-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Federflüstern -  Holly-Jane Rahlens
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Nach ihrem aufregenden Besuch in der fernen Zukunft sind Oliver, Iris und Rosa wieder sicher in unserer Zeit angekommen - oder vielleicht doch nicht? Noch ehe die Kinder herausfinden können, was nicht stimmt, erwartet sie schon ein neues Abenteuer: Aus Versehen geraten sie 125 Jahre zurück in die Vergangenheit, ins winterkalte Berlin des Jahres 1891! Genau in das Jahr, in dem der geniale Schriftsteller Mark Twain in Berlin wohnt. Vielleicht kann er den Kindern helfen, zurück ins Heute zu gelangen. Oder müssen sie für immer im 19. Jahrhundert bleiben?

Holly-Jane Rahlens kam Anfang der 70er-Jahre aus ihrer Heimatstadt New York nach Berlin. Mit Funkerzählungen, Hörspielen und Solo-Bühnenshows machte sie sich dort in den 80ern und 90ern einen Namen. Außerdem arbeitete sie als Journalistin, Radiomoderatorin und Fernsehautorin, bis sie sich ganz dem Schreiben widmete.

Holly-Jane Rahlens kam Anfang der 70er-Jahre aus ihrer Heimatstadt New York nach Berlin. Mit Funkerzählungen, Hörspielen und Solo-Bühnenshows machte sie sich dort in den 80ern und 90ern einen Namen. Außerdem arbeitete sie als Journalistin, Radiomoderatorin und Fernsehautorin, bis sie sich ganz dem Schreiben widmete.  Alexandra Ernst , geboren 1965, studierte Literaturwissenschaft und war als Presse- und Werbeleiterin in einem Verlag tätig. Seit 2000 arbeitet sie als Journalistin, Literaturkritikerin und Übersetzerin von historischen Romanen, Fantasy und Jugendliteratur. Für ihre Arbeiten wurde sie mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis. Alexandra Ernst lebt mit ihrem Mann und ihrer Tochter in der Nähe von Mainz. 

1. Kapitel Ein Rätsel


Mit einem schweren Müllsack und ein paar leeren Flaschen ging Oliver vorsichtig die Treppe hinunter. Unten angekommen schob er sich durch den offenen Türspalt hinaus in den Hinterhof. Er atmete tief ein. Die Luft an diesem Oktobernachmittag war ungewöhnlich mild. Überhaupt, die ganze Woche war irgendwie merkwürdig gewesen: erst das warme Wetter. Dann tauchte sein Bruder Thilo, der über ein Jahr lang verschwunden gewesen war, völlig überraschend wieder auf. Und jetzt war Olivers Heuschnupfen wie durch Zauberhand plötzlich verschwunden!

Normalerweise hatten ihm und seiner Nase noch die letzten Blütenpollen des Jahres das Leben zur Qual gemacht, ganz zu schweigen von den Federn, den rohen Kartoffeln, den Nüssen, dem Staub, den Hundehaaren und all den anderen Dingen, gegen die er allergisch war, und zwar das ganze Jahr hindurch. Nichts hatte geholfen. Aber als Oliver vor ein paar Tagen mit seiner Mutter Kartoffeln für das Abendessen geschält hatte, musste er nicht ein einziges Mal niesen. Und als er am Montag zur monatlichen Kontrolluntersuchung bei seinem Allergologen gewesen war, hatte der Arzt verblüfft die Testergebnisse studiert. «Tja», hatte er ziemlich ratlos gesagt, «der Befund ist negativ. Aber warten wir mal ab, wie die Sache im Frühling und im Sommer aussieht, wenn der Pollenflug am stärksten ist.»

Trotz des schweren Müllsacks ging Oliver jetzt beinahe leichtfüßig über den mit Kopfsteinen gepflasterten Weg zu den Mülltonnen. Sie standen ganz hinten auf dem Grundstück, bei den Bäumen. Er ging an dem Geräteschuppen vorbei, etwa zehn Meter links von ihm, und dann – oh! Ein farbiges Flirren an der Hinterseite des Geräteschuppens schreckte ihn auf. Oliver blieb stehen und musterte den Schuppen ganz genau, suchte nach irgendetwas, was nicht hierher gehörte. Aber er sah rein gar nichts, nur die späten Sonnenblumen, die sich in der leichten Brise wiegten.

Seit dem Gewittersturm am letzten Donnerstag ging ihm der Geräteschuppen nicht mehr aus dem Kopf. Er, Rosa und Iris waren in der Buchhandlung BLÄTTERRAUSCHEN im Vorderhaus gewesen, wo ihr Leseclub stattfand, als plötzlich ein heftiges Gewitter niedergegangen war. Seitdem war ihm der Geräteschuppen irgendwie unheimlich, als ob es dort spuken würde, obwohl er gefühlsmäßig wusste, dass «spuken» nicht das richtige Wort war. Jedes Mal, wenn er daran vorbeiging oder etwas herausholte – einen Schlauch, einen Rechen, den Laubsauger –, überkam ihn ein ganz merkwürdiges Gefühl, als ob im nächsten Moment etwas Aufregendes und gleichzeitig Fürchterliches passieren würde. Es war, als würden zwei Neonschilder über dem Gerätschuppen aufblinken: Auf dem einen stand «Betreten verboten!» und auf dem anderen «Willkommen!». Aber er hatte keine Ahnung, was genau der Geräteschuppen ihm damit sagen wollte.

Noch merkwürdiger war allerdings, dass Oliver nicht der Einzige war, der es so empfand. Als er gestern einen Eimer aus dem Geräteschuppen holen wollte, traf er Rosa, die vor dem Schuppen stand und mit den Fingern ihrer intakten Hand über die Tür strich, als wäre dort eine Geheimbotschaft in Blindenstift eingestanzt. Er war stehen geblieben und hatte sie stumm betrachtet. Er betrachtete sie gern: ihr goldenes Haar, ihre haselnussbraunen Augen, ihre grazile Art. Als sie ihn bemerkte, war sie rot geworden, und dann hatte sie ihm gestanden, dass sie das Gefühl hatte, der Geräteschuppen wolle ihr etwas sagen und sie müsse herausfinden, was es war. «Weißt du noch, letzten Donnerstag?», hatte sie zu ihm gesagt. «Beim Leseclub? Nach dem Sturm? Als ich merkte, dass jemand mit blauem Kuli etwas auf meine Prothese geschrieben hatte?»

Während sie das sagte, war sein Blick zu Rosas linkem Arm geglitten. Er endete in einem Stumpf, seit sie ihre Hand im vorletzten Jahr bei einem Verkehrsunfall verloren hatte.

Rosa hatte bemerkt, dass Oliver ihren Armstumpf betrachtete. Meistens wurde sie dann rot und schob den Stumpf in ihre Jackentasche oder bedeckte ihn mit ihrer rechten Hand. Im Grunde genommen redete sie normalerweise überhaupt nicht einmal mit ihm! Aber irgendetwas hatte sich verändert. Sie schienen jetzt besser miteinander auszukommen. Gestern hatte Rosa lediglich ihren Armstumpf betrachtet und gesagt: «Meine Mutter war total sauer, als sie die Schrift auf der Prothese gesehen hat. Es gibt eine Firma, die sich auf das Reinigen von Prothesen spezialisiert hat, und da hat sie die Prothese hingeschickt. Ich kriege sie erst morgen wieder.» Dann hatte sie sich von dem Geräteschuppen weggedreht. «Also, erinnerst du dich an letzten Donnerstag?»

«Hallo?», hatte Oliver erwidert.

Er konnte es kaum fassen, dass Rosa sich tatsächlich auf ein Gespräch mit ihm einließ. Gut, nach dem Sturm am letzten Donnerstag hatte sie ihn und Iris überraschend auf eine heiße Schokolade zu sich eingeladen. Das war sehr nett gewesen, aber Oliver hatte geglaubt, es würde sich um eine einmalige Sache handeln. Anscheinend hatte er sich geirrt: Hier standen sie nun vor dem Geräteschuppen und unterhielten sich, als seien sie gute Freunde.

«Natürlich erinnere ich mich an letzten Donnerstag», fuhr Oliver fort. «Jemand hat auf deine Prothese geschrieben: ‹Colin Julio war hier, 5. Juni 2273.›» Oliver kannte die Inschrift auswendig und hatte in den vergangenen Tagen oft darüber nachgedacht. «Ich glaube, da wollte dich jemand veräppeln, Rosa. Vielleicht deine Schwester oder eine von ihren Freundinnen?»

«Wieso sagst du das? Wir alle hatten doch das Gefühl, dass wir diesen Colin kennen. Wir wussten nur nicht, wieso. Willst du etwa behaupten, dass du das vergessen hast?»

Er hatte es nicht vergessen, aber in den letzten Tagen war so viel passiert, dass es ihm schwerfiel, sich auf eine Sache zu konzentrieren. Die ganze Woche lang war ihm, als hätte er Watte im Kopf. Glücklicherweise hatten sie noch Ferien und er musste sich nicht auf die Schule konzentrieren. Außerdem wusste er beim besten Willen nicht, wie er diese Erinnerung erklären sollte. Denn alle drei erinnerten sich an einen großen Jungen mit türkisfarbenen Augen, der Englisch sprach. Aber woher kannten sie ihn? Vielleicht aus einem Film, den sie im Fernsehen gesehen hatten?

«Ich muss ständig daran denken», hatte Rosa zugegeben, «und ich glaube, der Geräteschuppen hat irgendetwas damit zu tun. Dieser Junge – dieser Colin –, der Geräteschuppen und das Gewitter, das gehört irgendwie alles zusammen. Und auch deine Zeichnungen.»

Das war wirklich das Allermerkwürdigste: seine Zeichnungen. Nach dem Sturm hatte Oliver auf seinem Zeichenblock die verblassten Linien von Skizzen entdeckt, an die er sich beim besten Willen nicht mehr erinnern konnte. Sie stammten zweifellos von ihm, es war genau sein Stil. Aber wann hatte er sie angefertigt? Und dann wieder ausradiert? Einige der Zeichnungen zeigten fliegende Autos. In allen Einzelheiten! Anders als die meisten Jungen, die er kannte, hatte er sich noch nie im Leben für Autos interessiert, und schon gar nicht für fliegende. Es war ihm ein Rätsel. Ein Rätsel, das er hoffte eines Tages lösen zu können – vielleicht sogar gemeinsam mit Rosa und Iris. Rosa und er waren übereingekommen, mit Iris darüber zu reden. Sie wollten sich heute Nachmittag bei Rosa treffen.

 

Oliver warf den Müllsack in die Tonne und ging dann wieder zum Haus, vorbei an den Hecken, die jetzt links von ihm waren, an Schaukel und Wippe rechts von ihm – und vorbei an dem geheimnisvollen und rätselhaften Geräteschuppen.

Rätselhaft war auch das Auftauchen seines Bruders Thilo, der ganz überraschend letztes Wochenende heimgekehrt war. Das wilde Schluchzen seiner Mutter, als sie die Tür öffnete und ihren verloren geglaubten Sohn vor sich sah, hatte Oliver erschreckt. Er wusste, dass es Tränen der Freude waren – er hatte genau das Gleiche empfunden wie sie –, aber er hatte Angst gehabt, dass sie an ihrem Weinen und Schluchzen ersticken würde, so wie sie nach Luft geschnappt hatte. Sie hatte geglaubt, er wäre tot! Alle hatten sie das geglaubt. Aber da stand Thilo in der Tür. Einfach so. Nach einem Jahr.

Olivers Mutter schluchzte noch etwa eine Stunde lang. Und nachdem sie sich ausgeweint hatte und die Tränen versiegt waren, als sie Thilo nicht länger in die Wange kniff, um zu sehen, ob sie nicht träumte, war ihr Gesicht hart geworden. Sie hatte Thilo geradewegs in die Augen gesehen, und dann – klatsch! – hatte sie ihm eine schallende Ohrfeige verpasst. Die Wucht hatte ihn fast umgehauen, und er wäre beinahe hingefallen. «Mach das nie wieder!», hatte sie ihn angeschrien. «Hörst du? Nie, nie wieder!» Dann hatte sie ihn so fest gepackt, dass ihm die Luft wegblieb, und ihn erst wieder losgelassen, nachdem er versprochen hatte, nicht mehr wegzulaufen. «Okay, Mama», hatte er gesagt. «Okay. Ich verspreche es. Ich verspreche es dir.» Woraufhin sie wieder anfing zu schluchzen und ihn fest umarmte.

Als Olivers Vater nach Hause kam, warf er nur einen einzigen Blick auf Thilo und brach ebenfalls in Tränen aus. Seitdem war er nicht mehr in der Eckkneipe gewesen. Am Montag hatte er in seiner alten Firma angerufen – er war gelernter Möbelschreiner – und nach Arbeit gefragt. Sein Chef war einverstanden, ihm einen befristeten Job als Küchenmonteur zu geben. Vielleicht würde er sich jetzt auch wieder um seine Hausmeisterpflichten kümmern. Dann hätte Oliver, der seit über einem Jahr viele der Aufgaben im Haus übernommen hatte, um seiner Mutter zu helfen, wieder mehr Zeit für sich.

Aber wer konnte...

Erscheint lt. Verlag 1.6.2024
Reihe/Serie Blätterrauschen
Übersetzer Alexandra Ernst
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Kinder- / Jugendbuch Kinderbücher bis 11 Jahre
Schlagworte Berlin • Blätterrauschen • Buchhandlung • colin • Iris • Lucia • Mark Twain • Oliver • Rosa • Schuppen • Zeitreise • Zukunft
ISBN-10 3-7336-0848-8 / 3733608488
ISBN-13 978-3-7336-0848-4 / 9783733608484
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