Sixteen Souls (Souls-Dilogie, Band 1) (eBook)
416 Seiten
Loewe Verlag
978-3-7320-2286-1 (ISBN)
Rosie (sie/ihr) ist in der grünen Wildnis von Sussex, England, zu Hause, wo sie als Buchhändlerin arbeitet. Als Liebhaberin des Schaurigen und Makabren schreibt Rosie Geschichten, die wie ihre Haare sind: dunkel, verworren und auf keinen Fall glatt. Wenn sie gerade nicht mit Schreiben beschäftigt ist, schwärmt sie auf BookTok von Büchern oder arbeitet sich an einem gemütlichen Plätzchen mit einem Tee und ihren Katzen durch ihre endlose Leseliste. Weitere Informationen zur Autorin auf TikTok, Instagram und Twitter unter @merrowchild
Rosie (sie/ihr) ist in der grünen Wildnis von Sussex, England, zu Hause, wo sie als Buchhändlerin arbeitet. Als Liebhaberin des Schaurigen und Makabren schreibt Rosie Geschichten, die wie ihre Haare sind: dunkel, verworren und auf keinen Fall glatt. Wenn sie gerade nicht mit Schreiben beschäftigt ist, schwärmt sie auf BookTok von Büchern oder arbeitet sich an einem gemütlichen Plätzchen mit einem Tee und ihren Katzen durch ihre endlose Leseliste. Weitere Informationen zur Autorin auf TikTok, Instagram und Twitter unter @merrowchild
1
Die Heimsuchung von Charlie Frith
Den größten Ärger bereiten mir die Toten, die erst kürzlich gestorben sind. Ältere Geister sind gar nicht so schlimm. Denen kann man leicht aus dem Weg gehen, weil sie immer Wams und Kniehosen oder Korsett und weite Röcke tragen – wenn ich mit gesenktem Blick und eingesteckten Ohrhörern an ihnen vorbeigehe, ahnen sie nicht mal, dass ich sie sehen kann. Doch die, die gerade erst verschieden sind, unterscheiden sich nicht von den anderen Leuten um mich herum, und das macht sie so gefährlich.
Durch die Altstadt von York streife ich so wenig wie möglich und nie allein. Heute begleitet mich Heather, während ich aufmerksam die enge Gasse The Shambles entlanggehe – ihr Stethoskop hat sich in dem gelben Trageband verheddert, an dem ihr Krankenhausausweis hängt. In den sechs Jahren seit ihrem Tod hat sie sich kein bisschen verändert: derselbe unordentliche Zopf, dasselbe hübsche runde Gesicht und dieselbe hochtaillierte, weit geschnittene graue Hose und zerknitterte Hemdbluse, deren Ärmel bei jedem Wetter hochgekrempelt sind. Sie redet in einer Tour, aber ich höre gar nicht richtig zu, sondern lasse mich von ihrer sanften Stimme berieseln, während ich mein leichtes Humpeln zu verbergen versuche, das mir seit dem Bus zu schaffen macht.
Meine Prothesen haben angefangen zu reiben. Ich hätte zwei Paar Socken anziehen sollen, doch dann sind die Schäfte immer zu eng und mir tut am Ende des Tages alles weh. Daran kann ich jetzt nichts ändern. In der Öffentlichkeit nehme ich meine Unterschenkelprothesen nie ab, vor allem auch, weil die Zwillinge sie mit Mums Glitzernagellack »verschönert« haben und die Abdeckungen jetzt pink und violett funkeln.
Wir bewegen uns über das Kopfsteinpflaster. Die alten Fachwerkgebäude ragen in die Gasse hinein und wetteifern miteinander um Tageslicht. Man hat fast den Eindruck, als würden sich die Häuserreihen auf beiden Seiten ganz vertraut zueinander neigen, damit das Juweliergeschäft dem Butterkaramellladen gegenüber ein Geheimnis zuflüstern kann. Nichts hier ist gerade, weder die Mauern noch die niedrigen Türpfosten, und die Scheiben der kuriosen viktorianischen Schaufenster ebenso wenig. Über manchen hängen Metallschilder in Form von Pasteten oder Waffenschilden, die mit kunstvollen Metallhalterungen an Mauern aus Backstein, Strohlehm und Holz angebracht sind – Mauern, die schon seit Jahrhunderten nicht mehr sauber waren.
Geschichte liegt in der Luft wie ein Gestank, dem ich nicht entkommen kann. Guy Fawkes wurde hier geboren, Dick Turpin, der berüchtigte Wegelagerer, hier aufgeknüpft und die heilige Margaret Clitherow wurde unter ihrer eigenen Haustür zu Tode gequetscht. Daher ist es keine große Überraschung, dass die Geister fast so zahlreich sind wie die Touristen.
Mir wird oft gesagt, dass ich ein Sechzehnjähriger mit einer alten Seele bin, aber damit liegen sie voll daneben. Ich bin keine Alte Seele. Genau genommen tue ich alles, um ihnen aus dem Weg zu gehen.
Ich weiche schnell einem Geist in einem pelzbesetzten Mantel aus, indem ich ein plötzliches Interesse an einer Schaufensterauslage mit Wimpel-Girlanden und Strampelanzügen vortäusche. Dann drehe ich den Oberkörper, als hätte ich jemanden meinen Namen rufen hören, nur damit mich eine Frau mit Halskrause aus dem 16. Jahrhundert nicht anrempelt. Im Gegensatz zu den anderen Lebenden auf der Straße wäre ich für sie ebenso fest und real wie sie für mich.
Das ist der Preis dafür, die Toten zu sehen. Sie können in Mauern verschwinden und durch gewöhnliche Menschen hindurchgehen, aber ich bestehe für sie aus Fleisch und Knochen. Sie können mich berühren. Sie können mir wehtun. Die Toten können sehr anspruchsvoll sein, um nicht zu sagen gefährlich, wenn sie zu aufdringlich werden und ich mich nicht rechtzeitig aus dem Staub machen kann, bevor Blut fließt.
Absolut ätzend!
Ich wäre lieber mit dem Bus hinaus zum Monks-Cross-Einkaufszentrum gefahren, wo die Böden ebener sind und weniger Geister herumspuken, aber Heather will unbedingt in einen bestimmten Laden hier in den Shambles.
»Was hältst du von dekorativen Buchstützen?« Sie bleibt einen halben Schritt hinter mir und tut so, als wäre sie ein verwirrter Geist, der versucht, mit den Lebenden zu kommunizieren. Die Toten suchen Menschen ebenso oft heim wie Orte. Außer herumzuhängen und sich zu beklagen – auch wenn ich der Einzige bin, der sie hören kann –, gibt es für sie ja ohnehin nicht viel zu tun.
Ich beantworte Heathers Frage nicht, weil es ziemlich bescheuert wäre, auf einer Straße voller Geister mit einem zu sprechen. Sie redet noch ein wenig weiter und spult eine lange Liste von Geschenkideen herunter, während ich so tue, als hätte ich keine Ahnung, dass sie da ist – bis sie mitten im Satz abbricht.
Unwillkürlich folge ich ihrem Blick zu einem Jungen, der sich an den Türrahmen eines nahe gelegenen Ladens stützt. Er ist ein Kind der Slums, barfuß, mit erfrorenen Fingern; sein flackernder, skelettartiger Körper ist in stinkende Lumpen gewickelt.
Ich habe keinen sechsten Sinn, da ist kein sanftes Klopfen im Innern meines Schädels oder irgendein schauriges Gefühl, dass etwas Jenseitiges in der Nähe lauert. Solche Empfindungen gibt es nur in Büchern und Filmen. Für mich sieht der Junge so real wie jeder lebende Mensch aus, aber dann marschieren Stiefel und Turnschuhe durch ihn hindurch und ich kann ihn kaum noch sehen.
Eiskalte Angst bricht wie eine Welle über mich herein. Heather versperrt meine Sicht auf das Kind und redet beruhigend auf mich ein, bis mir mein Herzschlag nicht mehr in den Ohren dröhnt.
Es gibt drei Kategorien von Geistern: freie, gebundene und in einer Todesschleife gefangene, wobei letztere am gefährlichsten sind. In der Erinnerung ihres Todes gefangen, wissen sie gar nicht, dass sie längst gestorben sind, und existieren außerhalb von Zeit und Raum in ihrer eigenen Blase. Aber manchmal sickert ihre Wirklichkeit in unsere Welt, und das verheißt nichts Gutes für mich.
Ich wende mich ab. Gewissensbisse schnüren mir die Brust zu.
Aber ich darf mein Gespür für das, was real ist, nicht verlieren.
Prompt bleibe ich mit dem Fuß an der Bürgersteigkante hängen und stolpere. Heather springt nach vorne, packt mich am Arm und verhindert meinen eigentlich unvermeidlichen Sturz in den gepflasterten Rinnstein. Rasch sehe ich mich in der engen Gasse um und hoffe, dass niemand beobachtet hat, wie ich die Schwerkraft überlistet habe. Als sich keine Heerschar von versessenen Toten auf mich stürzt, atme ich erleichtert auf.
»Alles in Ordnung?«, fragt Heather. Ich nicke so unmerklich wie möglich. Sie lässt mich los, presst aber vor Sorge die Lippen fest aufeinander.
Wir müssen vorsichtiger sein.
Als ich mein Gewicht verlagere, erhasche ich einen Blick auf mein Spiegelbild in dem verdunkelten Fenster eines Geschenkeladens, der wegen Renovierungsarbeiten geschlossen ist. Obwohl Heather an meiner Seite ist, stehe ich allein da. Die Toten haben kein Spiegelbild. Also schaut nur ein junger Kerl zurück, der aussieht, als könnte er Ärger machen – kantiges Gesicht, breite Nase, stämmiger Körperbau mit Muskeln um schwere Knochen –, wie mein Dad.
Wir machen uns langsam wieder auf den Weg. Ich erkenne den Laden sofort, als ich das Schild mit dem Buch und dem Federkiel über der Tür ausmache. Obwohl mir unbehaglich zumute ist, muss ich grinsen.
Im Geschäft sind die grünen Wände und Vitrinen randvoll mit allem Möglichen – von Tabletop-Spielen über ausgefallene Schreibwaren bis hin zu Sammlernachbildungen des Einen Rings und des Baseballschlägers von Harley Quinn. Obwohl in dem Laden die Hölle los ist, weiß Heather sich in einer Menge zu bewegen, ohne dass die Leute durch sie hindurchtrampeln. Wir schauen uns in aller Ruhe um, während ich gleichzeitig darauf konzentriert bin, mich nicht zu verraten. Es ist sehr einfach zu vergessen, dass außer mir niemand meine Geisterfreundin sehen oder hören kann.
»Charlie, dreh dich nicht um.« Die Stimme ist weiblich, aber sie gehört nicht Heather. Ihr Akzent ist so glasklar, dass er gewollt vornehm, ja fast künstlich klingt. »Jemand hat sich an deine Fersen geheftet.«
Stolz auf meine Selbstbeherrschung wende ich mich ganz langsam zu der blonden Frau Mitte dreißig um, die zwischen den angezogenen Schaufensterpuppen mitten im Laden steht. Von der Perlenkette um ihren Hals bis hin zum Schnitt ihres Damenkostüms und ihrer perfekten Frisur sieht Audrey Nightingale aus, als wäre sie soeben aus einer Fotografie aus den 40er-Jahren getreten. Bildhübsch.
Sie spannt die Lippen an. »Ich sagte, dreh dich nicht um.«
»Was machst du hier, Nightingale?«, fragt Heather und verschränkt die Arme.
»Auf unseren Jungen aufpassen natürlich.« Audrey geht um ein junges Paar herum, das Selfies macht, richtet dann ihren Adlerblick wieder ganz auf mich und greift nach dem dreiköpfigen Spielzeughund in meiner Hand. Ich sehe schnell weg. Wie bei allen Geistern fährt ihre Hand direkt durch feste Gegenstände. Wenn ich das beobachte, läuft es mir jedes Mal eiskalt den Rücken hinunter.
Obwohl Audrey meine Regeln nicht ausstehen kann, hält sie sich für gewöhnlich daran. Daher muss sie heute wohl echt schlecht drauf sein. »Soll ich wieder gehen oder willst du wissen, wer dich verfolgt?« Mein Gesichtsausdruck reicht ihr offenbar als Antwort, denn sie fährt fort: »Draußen, mit dem dunklen Haar und der grünen Jacke.«
Heather tut so, als würde sie eine Auslage von Dekoschwertern betrachten, um einen Blick auf unseren Verfolger zu werfen. »Bist du...
Erscheint lt. Verlag | 9.10.2024 |
---|---|
Reihe/Serie | Souls-Dilogie |
Übersetzer | Ann Lecker |
Verlagsort | Bindlach |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Kinder- / Jugendbuch ► Jugendbücher ab 12 Jahre |
Schlagworte | booktok bücher deutsch • Bücher wie Cemetery Boys • Bücher wie Heartstopper • Coming out Liebesroman • Fantasygeschichten ab 14 Jahren • Fantasy Romance • Jugendbücher ab 14 Jahren • Kulturpass 2024 • Kulturpass Bücher • LGBTQIA+ Romane • Mystery Romance • Queere Liebesgeschichten • Rosie Talbot Bücher • tiktok made me buy it |
ISBN-10 | 3-7320-2286-2 / 3732022862 |
ISBN-13 | 978-3-7320-2286-1 / 9783732022861 |
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