Mehr Schwarz als Lila (eBook)

(Autor)

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2024 | 1. Auflage
256 Seiten
Fischer Sauerländer Verlag
978-3-7336-0783-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Mehr Schwarz als Lila -  Lena Gorelik
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Ein falscher Kuss und das Leben mit 17: Lena Goreliks packender Roman über Freundschaft, Liebe und die Bilder, die wir uns machen Mit siebzehn ist das Leben kompliziert. Alex trägt lieber Schwarz als Lila, ihr Vater schweigt die meiste Zeit, und ein Papagei soll ihr die Mutter ersetzen. Die besondere Freundschaft mit Paul und Ratte ist das, was Alex an ihrem Leben liebt. Die gefühlte Eintönigkeit lassen die drei in Mutspielen hinter sich, bei denen es keine Grenzen gibt. Und dann taucht Johnny Spitzing auf, der junge Referendar, den sogar Alex gut findet. Auf der Klassenfahrt nach Polen jedoch macht Johnny ihr klar, dass sie nur seine Schülerin ist; Ratte, die sich verliebt hat, entfernt sich; und ihr bleibt nur noch Paul, den Alex, von tausend Gefühlen überrannt, küsst - am unpassendsten Ort der Welt, in Auschwitz. Jemand fotografiert, das Bild geistert durchs Netz, und plötzlich reden alle über Alex und die Jugend von heute, der Papagei entfliegt, Paul verschwindet, und Alex erkennt: «Das ist jetzt mein Film, und das Leben muss ich ganz alleine steuern.» Lena Gorelik erzählt von einer überforderten Siebzehnjährigen, die der Welt mit Witz und einer Spur notwendigem Stolz gegenübertritt. Wie nebenher wirft sie Fragen auf - wie kann man Erinnerung vermitteln, wie frei kann man sein? Vor allem aber geht es ums Erwachsenwerden und um die Bilder, die wir von uns selbst und anderen haben. Ein packender, jugendlich glühender Roman für jüngere wie für erwachsene Leser.

Lena Gorelik, 1981 in St. Petersburg geboren, kam 1992 mit ihren Eltern nach Deutschland. Ihr Roman «Hochzeit in Jerusalem» (2007) war für den Deutschen Buchpreis nominiert, der viel­gelobte Roman «Mehr Schwarz als Lila» (2017) für den Deutschen Jugendbuchpreis. Regel­mäßig schreibt Lena Gorelik Beiträge zu gesellschaftlichen Themen, u.a. für die «Süddeutsche Zeitung» oder «Die Zeit». Sie lebt in München.

Lena Gorelik, 1981 in St. Petersburg geboren, kam 1992 mit ihren Eltern nach Deutschland. Ihr Roman «Hochzeit in Jerusalem» (2007) war für den Deutschen Buchpreis nominiert, der viel­gelobte Roman «Mehr Schwarz als Lila» (2017) für den Deutschen Jugendbuchpreis. Regel­mäßig schreibt Lena Gorelik Beiträge zu gesellschaftlichen Themen, u.a. für die «Süddeutsche Zeitung» oder «Die Zeit». Sie lebt in München.

Eins


Paul ist mein allerbester Freund.

Paul ist verschwunden, es sind jetzt sechs Tage. Alle machen sich Sorgen. Ich mache mir keine, weil ich weiß, es geht ihm gut. Ich liege meistens auf meinem Bett. Außer ich sitze am Computer. Also die meiste Zeit. Ich weiß nicht, warum ich das so genau weiß. Dass es Paul gut geht.

 

Sechs Tage sind es jetzt, und ich merke, ich beginne, dich dafür zu hassen. Das hilft, damit ich mich selbst nicht hassen muss. In diesen sechs Tagen habe ich mit niemandem geredet. Ich habe das Haus nicht verlassen. Ich liege auf meinem Bett. Ich sehe fern, aber wenig. Ich treibe mich im Internet herum. Ich lese, über mich und über Paul. Über dich lese ich nichts. Ich füttere meinen Vogel. Ich habe mit niemandem geredet. Nicht mit Ratte, nicht mit dir. Ich mache Abendessen, aber mein Papa kauft ein. Ich gehe nicht vor die Tür.

«Kannst du heute nicht einkaufen, wenn du eh nicht zur Schule gehst?», fragt Papa. Er fragt mich, damit ich rauskomme, ich weiß. Ich schüttle den Kopf. Dann fragt er wieder nichts.

 

Ich habe mit niemandem geredet. Ich habe nicht mit dir geredet. Ich habe nicht mit Ratte geredet. Ratte spricht nicht mehr mit mir. Das hat mit Pauls Verschwinden zu tun, und Pauls Verschwinden hat mit mir zu tun.

Schwarze Milch.

Gerade Kurve.

Offenes Geheimnis.

Friedenspanzer.

Wahlpflicht.

Alter Knabe, geliebter Feind, Mietkauf.

Das steht in meinem blauen Notizbuch, und darunter notiere ich:

Unsere Liebe.

Mein Notizbuch ist blau, in Leinen gebunden, und auf dem Deckel steht: Shit that matters. Das Notizbuch hat mir Paul geschenkt. Der Tag, an dem er es mir geschenkt hat, war lange bevor alles anders wurde oder ich meine Freunde verspielte oder wir alles verspielten. Die Dinge waren in Ordnung.

Das Notizbuch hat mir Paul geschenkt. Das Schenken ging so:

Mein Telefon klingelte.

«Guck mal aus dem Fenster», sagte Paul. «Aus dem Küchenfenster.»

«Warum denn?», fragte ich.

«Kannst du einfach mal machen, was man dir sagt?»

«Sehr ungern. Das hasse ich doch. Dass man mir sagt, was ich zu tun habe.»

Ich lief in die Küche und öffnete das Fenster. Draußen saß Paul auf seinem Fahrrad und hielt sich mit der Hand am Zaun fest. Grinste. So ein zufriedenes Grinsen. Ich legte das Telefon weg.

«Was machst du da? Komm doch rein», sagte ich.

Paul steckte sein Handy in seine Umhängetasche, ohne vom Rad abzusteigen, und zog etwas anderes daraus hervor.

«Ich wollte mal sehen, wie gut du fangen kannst.»

«Wie gut ich fangen kann?»

«Wie gut du fangen kannst. Ready?»

Er warf. Was waren es, drei Meter Flugbahn? Das Etwas flog haarscharf an mir vorbei und landete auf dem Boden.

«Dachte, das könnte dir gefallen», sagte Paul und ließ den Zaun wieder los.

Ich hob es auf. In eine Papiertüte war dieses in blaues Leinen gebundene Notizbuch eingewickelt. Shit that matters. Ich guckte zum Fenster hinaus, aber Paul war schon weg.

Ich zog mir einen Kapuzenpulli über und holte mein Rad. Von mir zu Paul sind es ziemlich genau neun Minuten. Zurück braucht man elf, da geht es den Berg hinauf. Er wohnt in einem Mehrfamilienhaus, also kann ich da nicht galant am Zaun vor dem Fenster balancieren, aber ich rief ihn trotzdem an.

«Komm mal runter.»

«Warum?»

«Kannst du einfach mal machen, was man dir sagt?»

«Such dir deine eigenen Sätze!»

Ich umarmte Paul. Ich weiß nicht, wie lang die Umarmung dauerte. Er roch nach Aftershave, aber das glaube ich nur. Die Umarmung hatte keine Bedeutung. Nichts hatte eine Bedeutung, noch.

In dem blauen Notizbuch sammle ich Oxymora, das heißt, ich sammle Widersprüche, und ich glaube, später will ich selbst ein Widerspruch sein. Jemand, der in keine Schublade passt. Bislang bin ich an dem Vorhaben gescheitert.

 

«Und, gehst du irgendwann mal wieder zur Schule?», fragt Papa am vierten Tag.

«Ist Paul wieder da?», frage ich zurück.

«Nein. Aber deine Ratte ist da. Und du kannst auch in der Schule auf Paul warten.»

«Ratte spricht nicht mit mir.»

«Kann ich irgendwie verstehen», sagt mein Papa.

«Möchtest du noch einen Kaffee? Ich mach mir noch einen», sage ich.

Je mehr, desto stärker ist eine Ellipse. Das heißt, man lässt etwas weg. Manchmal lässt man das Wichtige weg, um es zu betonen. Paul ist meine Ellipse.

 

Einmal führten Ratte und ich einen Dialog in Ellipsen. Das heißt, wir sprachen in Leerstellen, oder wir sprachen in die Leerstellen hinein. Das ist schon eine Weile her, und eigentlich war es da bereits zu spät.

«Sag bitte nicht, dass –»

«Ich sag doch gar nicht, dass –»

«Du darfst nicht, nicht in den. In den darfst du dich –»

«Ist ja nicht so, dass ich es vorgehabt hätte oder so was.»

«Du darfst einfach nicht. Du. Darfst. Nicht. Und das muss ich so sagen. Mit Punkten hinter jedem Wort.»

«Weiß ich. Ich weiß doch.»

«Du darfst nicht. Das kann doch nur böse enden. Wie stellst du dir das vor? Dass ihr? Oder dass er?»

«Ich weiß. Ich weiß. Und ich stelle mir vor, dass –»

«Ja?»

Pause.

Stille.

Stille ist schlimm.

«Ist eh zu spät, oder?»

«Ja.»

«Scheiße.»

«Ich weiß.»

 

Ratte ist mein anderer allerbester Freund. Ratte heißt eigentlich Nina. Ratte hasst ihren Namen. Ratte findet es unfair, dass sich die Menschen ihre Namen nicht selbst aussuchen können. Sie hat so ein Konzept entwickelt, dass man seinen Namen immer wieder ändern darf. Das erste Mal, wenn man anfängt zu sprechen, also mit drei oder so. Dann, wenn man in die Pubertät kommt, und dann noch einmal, wenn man mit der Schule fertig ist. Ratte hat sich Ratte nicht selbst ausgedacht, ihr kleiner Bruder hat sie so genannt. Als Ratte letztes Jahr neu zu uns in die Klasse kam, sagte sie, als sie sich vorstellen sollte, genau so:

«Nennt mich einfach Ratte.»

Wir blickten auf. Sie aber schaute zur Lehrerin, Frau Daimler.

«Sie auch», sagte sie zu ihr.

«Wie bitte?», fragte Frau Daimler.

«Ratte. Ich werde am liebsten Ratte genannt», sagte Ratte.

Frau Daimler hat nie Ratte zu ihr gesagt. Sie sagt Nina. Ratte hasst alle, die Nina zu ihr sagen, also hasst sie Frau Daimler und die anderen Lehrer, ihre Eltern und jeden, der sie nicht näher kennt.

Sie hasst sie, dabei ist Ratte wahrscheinlich der liebevollste Mensch, den ich kenne.

 

Ratte geht so: Wenn Ratte Mofa fährt, wehen ihre Rastas im Wind. Nie trägt Ratte einen Helm, und sie sieht schön aus, ohne. Ihre Rastas sind braun. Die verfilzten Haare sind eine Haltung, aber das darf man ihr nicht sagen. Sie tut so, als ob das nicht der Fall wäre, als sei die Frisur ein Zufall, und wie alles andere tut sie auch das mit Überzeugung. Nie trägt Ratte etwas anders als Chucks an ihren Füßen. Sie besitzt Chucks in allen möglichen Farben und Mustern, die niedrigen und die hohen. Sie hat bestimmt an die zwanzig Paar. Wenn sie sich neue Chucks kauft, fährt sie einmal mit ihrem Mofa über die weiße Gummikappe vorne, damit sie abgetragen aussehen. Nie hört Ratte auf, Paul und mich zu lieben. Auch wenn sie uns manchmal hasst.

Gerade hasst Ratte mich.

Wenn Ratte uns liebt, mich und Paul, denn einzeln liebt sie uns selten, dann wissen wir um die Liebe. Sie backt für uns. Muffins für mich und Brot für ihn: Paul isst nichts Süßes. Mit Sonnenblumenkernen schreibt sie Worte auf sein Brot:

Seneca

Lust

Spiel

Komm schon

Freiheit

Freunde

Wir

«Ich müsste mal so ein Riesenbrot backen, dass man da einen ganzen Satz draufschreiben könnte», sagt Ratte zu mir.

«Was würdest du denn draufschreiben?», frage ich.

«Na zum Beispiel: Du bist ein Verlierer», sagt Ratte.

Ratte legt Blumen vor meine Tür, wilde, so vom Feld, ich weiß nicht, wie die heißen, aber sie sind schön. Ratte sucht Walderdbeeren im Wald, für Paul. An die erinnert er sich, sein Großvater hat sie früher für ihn gepflückt. Außer seinem Großvater mag Paul niemanden in seiner Familie, und sein Großvater ist seit zwei Jahren dement. Sie wirft Steinchen an mein Fenster, nachts, um mir ein Sternbild zu zeigen, und das mit den Steinchen macht sie nur, weil sie weiß, dass ich diese Art von Romantik mag. Sie schreibt Briefe an Paul, manche davon in Gedichtform, und die Briefe schickt sie ihm per Post, obwohl sie ihn jeden Tag sieht. An den meisten Tagen weiß ich nicht, warum Ratte mit uns befreundet ist. Ich weiß auch nicht, ob es ein Uns ohne sie gäbe.

 

Freiheit, Freunde, wir. Das war der Name, den Paul unserer WhatsApp-Gruppe gab.

«Pathetisch», hatte Ratte geantwortet.

«Kitsch», hab ich hinterhergeschickt.

Paul hat nicht reagiert. Paul ist so, wenn man ihm zu nahe kommt: Er schweigt. Er ist still. Er sagt von sich dann, er ist sprachlos. Ich weiß nicht: Ist Sprachlosigkeit im Vergleich zur Stille ganz klein, und ist es, wenn Paul nichts sagt, wirklich immer eine Entscheidung?

Ich würde, das sagt man doch so, die Welt geben, für Paul: schreiend....

Erscheint lt. Verlag 1.6.2024
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Kinder- / Jugendbuch Jugendbücher ab 12 Jahre
Schlagworte Alex • Auschwitz • Erinnerung • Erste Liebe • Freundschaft • Gedenkworte • Internet • JOHNNY • Klassenfahrt • Papagei • Paul • Polen • Ratte • Schule • Schwarz • Soziale Medien
ISBN-10 3-7336-0783-X / 373360783X
ISBN-13 978-3-7336-0783-8 / 9783733607838
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