Warum willst du jetzt schon gehen? (eBook)
320 Seiten
Loewe Verlag
978-3-7320-2290-8 (ISBN)
Gabriella Santos de Lima, geboren 1997 in São Paulo, hat genau wie ihre Protagonist*innen auf einem Kulturcampus studiert. Heute arbeitet sie am liebsten mit Aussicht auf pulsierende Innenstädte und laut aufgedrehter Musik. Sie war Flugbegleiterin, bevor sie sich ganz dem Schreiben widmete. Mit ihrer Jetzt-Trilogie stand sie auf der SPIEGEL-Bestsellerliste. Weitere Informationen zur Autorin auf Instagram unter @gabriellasantosdelimaa oder auf TikTok unter @gabriellasantosdelima
Gabriella Santos de Lima, geboren 1997 in São Paulo, hat genau wie ihre Protagonist*innen auf einem Kulturcampus studiert. Heute arbeitet sie am liebsten mit Aussicht auf pulsierende Innenstädte und laut aufgedrehter Musik. Sie war Flugbegleiterin, bevor sie sich ganz dem Schreiben widmete. Mit ihrer Jetzt-Trilogie stand sie auf der SPIEGEL-Bestsellerliste. Weitere Informationen zur Autorin auf Instagram unter @gabriellasantosdelimaa oder auf TikTok unter @gabriellasantosdelima
Der erste Unterrichtstag war nicht mehr der Tag der Namen und Schwerpunkte. Es war der Tag der endlos langen Vorstellungsrunden. Und das war um Längen schlimmer.
Ich hasste die Momente, in denen eine neue Lehrerin verkündete, dass wir mit einer pädagogisch spielerischen Vorstellungsrunde beginnen würden, weil es auf diese Weise unvermeidbar war, dass die Blicke alle irgendwann auf mir landeten. In diesen Momenten stotterte ich meinen Namen, woraufhin mich Herr Gallus, Frau Schneider und Frau Demir dazu aufforderten, bitte lauter zu sprechen, weil sie mich da vorne so schlecht verstanden. Das taten sie bei niemand anderem. Ich war neidisch auf jeden, der so souverän und selbstsicher von sich erzählte, als hätte er kein Problem damit. Oder mit sich selbst.
Für mich war es die Hölle. Insbesondere deshalb, weil meine Hände dann nicht wussten, wohin, und sich deshalb krampfhaft mein Etui griffen – einfach, um irgendetwas festhalten zu können. Meine Hände, die ich immer noch hässlich fand und die somit meine Aufmerksamkeit auf sich lenkten.
Es war wirklich in jeder einzelnen Vorstellungsrunde so. Dem Himmel sei Dank war ich nicht allein damit. Amber tat sich genauso schwer wie ich, laut genug zu reden. Gleich nachdem ich mein Stotter-und-Ähm-Konzert beendet hatte, begann sie mit ihrem, weil wir nebeneinandersaßen. Wenn sie verstummte, lächelten uns die Lehrer eine Sekunde zu lange zu. So als hätten sie fast Mitleid mit uns. Ich hätte darum wetten können, dass sie sich unsere Namen nur gemeinsam merken würden.
Amber und Helena, die zwei schüchternen Mädchen in der zweiten Reihe.
Ausnahmslos jede Vorstellungsrunde lief so ab.
Nur diese nicht.
Knapp fünfzehn Leute und ich befanden uns in einem der Salonlehrzimmer. Marie hatte meiner Gruppe bereits erklärt, dass sie meistens für die Zusatzkurse genutzt wurden. Weil sie schöner und gemütlicher waren, ausgestattet mit bodentiefen Fenstern, durch die man hinter den Baumkronen links fast das Meer erkennen konnte. Laut der Schulleitung angeblich die perfekte Atmosphäre für Inspiration und Kreativität.
Die Schreibwerkstatt war in diesem Jahr der einzige Kurs meines Schwerpunkts, weshalb Amber nicht neben mir saß. Der Raum war voller neuer Gesichter, weil die Kurse stufengemischt waren. Niemand aus meiner Klasse war hier. Stattdessen war der Sitz neben mir nun frei, während der Typ zwei Plätze vor mir sich vorstellte. Er musste seine Finger nicht in ein Etui oder die Laptoptasche krallen. Lässig nannte er seinen Namen, sein Alter und seine Klasse. Seine Stimme zitterte kein bisschen, obwohl alle ihn ansahen.
Wie machte er das?
Wie machte das jeder außer Amber und mir?
»Und dein Lieblingsbuch?«, erinnerte ihn die Leiterin unseres Kurses, Frau Krüger, weil er sich schon in meine Richtung drehte, wie um mir zu signalisieren, dass der unsichtbare Ball nun bei mir läge.
»Ach ja, sorry, vergessen.« Josua kratzte sich am Kopf. »Schätze, Fiesta von Hemingway. Ich mag seine Klarheit, über die er trotzdem so krass viele Emotionen transportiert.«
Kurz wirkte es so, als würde Frau Krüger einen Kommentar dazu abgeben wollen. Doch in letzter Sekunde entschied sie sich dagegen und bedankte sich bloß. Unsere Lehrerin hatte sich als Referendarin für Deutsch und Englisch vorgestellt. Außerdem leitete sie unsere Schreibwerkstatt und einen Buchclub, den sie bereits am Anfang der Stunde erwähnt hatte. Ehrlicherweise sah Frau Krüger kaum älter aus als wir. Sie trug Boots mit dicker Sohle, die Brauen perfekt nachgezogen und ihre langen blonden Haare in Wellen, für die Frauen im Internet mit Lockenwicklern schliefen. Frau Krüger war schön auf eine Weise, die alle schön fanden. Wie die Frauen auf TikTok, die man nicht sofort wegwischte, selbst wenn man sich nicht für das besprochene Thema interessierte.
Als ich an der Reihe war, schien der Kloß in meinem Hals übergroß. Meine Atmung wirkte angestrengt. Ich schaffte es gerade so, meinen Namen und meine Stufe hervorzubringen, da verstummte ich.
Es klopfte. Zweimal laut, einmal etwas leiser. Frau Krüger presste die Lippen aufeinander, noch bevor sie erkannte, wer es war.
»Arthur«, sagte sie. »Ich hoffe, du hast eine gute Erklärung für deine …« Ihr Blick schweifte zur Uhr. »… achtzehnminütige Verspätung.«
Art.
Mein Herz pochte heftig. Was machte er hier? Er war Musiker. Hatte er keinen Schwerpunkt darin? Ambers Worte hallten in mir nach und trotzdem konnte ich nicht anders, als ihn eine Spur zu intensiv zu mustern. Er trug normale Jeans und ein schlichtes Shirt, sah damit aus wie gestern auf der Bühne, nur dass er jetzt in einem Salonzimmer stand.
In meinem Klassenraum.
Es war nicht gut, dass er dieselbe Wirkung als Mensch wie als Künstler hatte. Er war anziehend, elektrisierend, hypnotisierend.
Er war alles, was meine Bücher sagten.
Ein Protagonist in einem Liebesroman.
Nur echt.
»Musste noch was mit Herrn Gallus klären.« Vorsorglich hob Art die Hände. »Sie können ihn gerne fragen.«
»Das werde ich.«
Art lächelte, während Frau Krüger verächtlich den Kopf schüttelte. Anschließend ließ er sich auf einem Platz weiter vorn nieder und ich glaubte Amber jedes Wort. Dass man aufpassen müsse, dass der Schein trüge und er Herzen brach. Ich verstand sowieso nicht, wieso ich derart auf ihn reagierte. Ich kannte ihn nicht. Und dennoch konnte ich ihn nicht ansehen, ohne dass alles in mir glühte.
Ich verstand das wirklich nicht.
Art zog mich sogar so in seinen Bann, dass ich meine Aufmerksamkeit erst wieder Frau Krüger widmete, als sie sich räusperte.
»Ich glaube, du hast uns nicht von deinem Lieblingsbuch erzählt, nicht wahr, Helena?«
»Ich, ähm, ja, genau, richtig.« Ertappt richtete ich mich auf und krallte mir die Nägel absichtlich in die Hose, um sie zu verstecken. »Mein Lieblingsbuch ist Wenn wir bleiben.«
Fragende Gesichter starrten mir entgegen, wobei ich mich innerlich verfluchte. Die anderen hatten Weltklassiker genannt, die jeder kannte. Hemingway, Kafka, Oscar Wilde. Natürlich kannten sie meinen Roman nicht.
»Würdest du uns verraten, wer es geschrieben hat und worum es in dem Buch geht?«, wollte Frau Krüger wissen.
»Es ist von India A. Thomson. Einer amerikanischen Schriftstellerin. In der Geschichte geht um eine Protagonistin, die einen Neuanfang wagt und sich dabei verliebt.«
Ich hatte absichtlich nicht von Liebesroman gesprochen. Trotzdem bemerkte ich, wie die übrigen Kursteilnehmer mich gedanklich verurteilten. Damit kannte ich mich aus. Wenn du ein Mädchen warst, das Liebesromane las, warst du immer ein bisschen minderwertig. Du wurdest belächelt und im schlimmsten Fall darüber belehrt, dass es keine richtige Literatur war. Von Bekannten, fernen Familienmitgliedern und Fremden im Internet. Sie machten alles schlecht. Vom glitzernden Cover bis zum angeblich immer selben kitschigen Ende. Ich wusste nicht, wie ich dagegen ankommen könnte, und selbst wenn, hätte ich mich wahrscheinlich nicht getraut. Weil ich zwar für alles, was ich liebte, brannte, aber das lieber im Stillen tat.
Nervös blinzelte ich mit Blick auf die Tafel. Ich spürte, dass mich immer noch alle anstarrten. Wieso sagte niemand etwas? Warum stellte sich nicht das Mädchen links von mir vor? Musste ich den Inhalt etwa noch weiter ausführen? Als ich in den Augenwinkeln bemerkte, wie mir plötzlich jemand zulächelte, wurde meine Kehle ganz trocken.
Art.
Als wolle er mir helfen, indem er mir das Gefühl irgendeiner vagen Verbundenheit gab. So als wolle er mir sagen: Wenn wir bleiben muss also wirklich gut sein.
Doch das Lächeln verschwand so schnell, wie es gekommen war, weil Frau Krüger sich erneut räusperte. »Klingt interessant«, erklärte sie.
Nachdem die Gruppe sich vollständig vorgestellt und ich herausgefunden hatte, dass Arts Lieblingsbuch Was man von hier aus sehen kann hieß – was Frau Krüger mit einem Seitenblick leise als »wirklich gutes Buch« kommentierte –, händigte unsere Kursleiterin Textblätter aus. Primär sollte es hier um unsere eigenen Texte gehen, allerdings würde das erst in einigen Wochen so sein. Bis dahin würden wir uns mit den verschiedenen Bausteinen eines Textes beschäftigen. Dafür las Josua (Gott sei Dank nicht ich) einen Buchausschnitt vor, den wir dann gemeinsam sezierten.
Ich nahm mir fest vor, Art keinen Blick mehr zuzuwerfen. Doch ich hatte keine Chance. Er zog alle Aufmerksamkeit auf sich mit dem, was er sagte. Er benutzte Wörter wie kohärent und ambivalent. Er war einschüchternd mit seiner Präsenz und seinem Verständnis für Worte.
Ich konnte mir nicht vorstellen, einen meiner Texte vor ihm vorzulesen. Oder vor dem gesamten Kurs. Wahrscheinlich würde ich mich an dem Tag krankmelden. Oder schwänzen. Ich wäre überall, aber garantiert nicht hier.
Nach der Stunde stürmten die anderen nach draußen, während Frau Krüger uns zum wiederholten Male an ihren Buchclub erinnerte. Beim Rausgehen griff ich automatisch nach meinem Handy. Einige Nachrichten hatten mich erreicht. Chiara hatte eine Sprachnachricht in unsere Gruppe geschickt, Mila mir irgendein Bild. Ich wollte es gerade anklicken, da verharrte ich. Jemand ging plötzlich auf meiner Höhe. Ich spürte ihn, bevor ich ihn sah, so war das mit Arthur Keller.
Bei ihm bestand alles nur aus Gefühlen.
»Wenn wir bleiben muss wirklich gut sein, wenn du es selbst im Kurs nennst«, sagte er mit seiner unverschämt tiefen Stimme. »Ich sollte es lesen. Wir...
Erscheint lt. Verlag | 17.7.2024 |
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Verlagsort | Bindlach |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Kinder- / Jugendbuch ► Jugendbücher ab 12 Jahre |
Schlagworte | BookTok Bücher • booktok bücher deutsch • Bücher wie Den Mund voller ungesagter Dinge • Bücher wie Eine wie Alaska • Bücher wie Happy End gibt's nur im Film • Bücher wie Jetzt-Reihe • Gabriella Santos de Lima • Indie Band Sänger • Jugendbücher ab 14 Jahren • Kulturpass 2024 • Kulturpass Bücher • Liebesgeschichten ab 14 Jahren • Liebesromane ab 14 Jahren • Loewe Intense • new adult liebesromane • New adult Romance • Spiegel Bestsellerautorin Gabriella Santos de Lima • strangers to lovers • tiktok made me buy it • toxische Beziehungen • toxisches Verhalten |
ISBN-10 | 3-7320-2290-0 / 3732022900 |
ISBN-13 | 978-3-7320-2290-8 / 9783732022908 |
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