Limettensommer (eBook)
208 Seiten
arsEdition GmbH (Verlag)
978-3-8458-5868-5 (ISBN)
Magdalena Ahrer wurde 2004 in Oberösterreich geboren und schreibt, schon seit sie denken kann, leidenschaftlich gern Geschichten. Mittlerweile lebt sie in Graz und studiert Germanistik. Wenn sie nicht gerade an einem Buchprojekt arbeitet oder ein neues Land bereist, tanzt sie mit Freund:innen in den Sonnenaufgang, klimpert auf ihrer E-Gitarre herum und singt dazu.
Kapitel 1
Während die anderen sich noch umarmen und fröhlich dem Sommer entgegenlachen, springe ich auf mein Rad, das Zeugnis mehr oder weniger sorgfältig in meinem Rucksack verstaut, und rolle den Hügel hinunter.
Den Hügel hinunter und weg von allem. Weg von meinen halbherzigen Freundinnen, die mir ein noch halbherzigeres »Ich melde mich bei dir« hinterhergerufen haben, das sie nie in die Tat umsetzen werden. Aus verschiedenen Gründen. Paula nicht, weil sie den ganzen Sommer über verreist ist. Asien all-inclusive. Anne nicht, weil wir noch nie die Art von Freundschaft hatten, die es einem nahelegt, Sommertelefonate zu führen, und weil es jetzt zu spät ist, um daran etwas zu ändern. Alle anderen sind ohnehin nur Zufallsmenschen, mit denen mich nicht viel verbindet. Nichts, abgesehen von Mathehausaufgaben und Englischvokabeln.
Der Wind verfängt sich in meinen Haaren, die Sonne brennt auf meiner Haut, und ich biege rechts ab, ohne mich noch mal umzudrehen. Ich trete in die Pedale und frage mich, ob das wieder so ein Sommer wird wie jeder, seitdem sich meine Eltern getrennt haben. Langweilig und träge und einsam und sonnencremegetränkt. Oder ob dieser Sommer der Sommer ist, der Sommer meines Lebens. Vermutlich nicht, denn auch wenn ich seit Jahren hoffe und bete und nach Abenteuern Ausschau halte, gefunden habe ich sie noch nie.
Vielleicht liegt es daran, dass die Stadt zu klein ist und die Leute zu gewöhnlich. Vielleicht hat es aber auch mit mir zu tun, mit meiner Art, mich in meinem Zimmer vor der Welt zu verstecken und mich aus allem rauszuhalten. Vielleicht, vielleicht, vielleicht. Mein Leben ist ein großes Vielleicht.
Ich beschleunige, bis die Häuser um mich herum zu einer grauen Mauer verschwimmen. Ich ziehe an einem Auto im Schritttempo vorbei und ignoriere die gehupten Vorwürfe. Heute ist der letzte Tag vor den Sommerferien. Heute ist alles egal. Selbst Straßenregeln und wütende Autofahrer.
Heute kann mich nichts aufhalten. Nichts bis auf den dumpfen Knall und das Quietschen eines Reifens, aus dem die Luft entweicht. Weiterfahren unmöglich.
Ich rette mich auf den Bürgersteig und beiße mir auf die Unterlippe, frage mich, ob das eines dieser Zeichen des Universums ist, von denen immer alle reden. Irgendwann gebe ich das Grübeln auf und schiebe das Rad neben mir her.
In der Stadt pulsiert das Leben. Menschen schlängeln sich an mir vorbei durch die schmalen Gassen, Gesprächsfetzen verschwimmen zu einem leisen Stimmenrauschen und die Hitze drückt auf den Asphalt wie eine schwere, dunkle Wolke. Es ist, als wäre die ganze Stadt auf den Beinen, um die letzten Besorgungen vor dem Sommer zu machen.
Ich weiche aus, biege rechts ab und dann links und wieder rechts, und plötzlich fällt mein Blick auf einen kleinen Laden mit grünen Fensterläden und zwei großen Fenstern, aus denen mir Schaufensterpuppen in Zwanzigerjahrekleidern entgegenlächeln. Darüber auf hellgrünem Gemäuer prangt der Name Madam Temperley’s in verblasstem Gold. Ich kann nicht glauben, dass mir dieser Laden noch nie aufgefallen ist. Er wirkt wie aus einer anderen Zeit. Elegant und schlicht zugleich. Wie eine Welt, die ich nur aus Büchern und alten Filmen kenne. Ich kann nicht anders als anzuhalten, mitten auf dem Bürgersteig. Fast so, als hätte ich selbst jetzt einen platten Reifen und nicht nur mein Fahrrad.
Ich spähe durch die Schaufenster, erhasche einen Blick auf Kleiderständer und Regale voll von der richtigen Sorte Kram. Kram, der Stunden füllen und Kummer vergessen lassen kann. Kram wie Retro-Uhren und antike Schnitzfiguren und bemalte Teller. Ich frage mich, wem der Laden gehört. Bestimmt einer älteren Lady mit Hut und Perlenkette à la Coco Chanel.
Madam Temperley’s befindet sich nicht in der angesagten Einkaufsgegend der Stadt. Dort, wo es hippe Geschäfte und moderne Ladenpassagen gibt, dort, wo man glauben könnte, dass man sich in einer Metropole wie Wien oder Berlin befindet und nicht in einer Kleinstadt. Dort, wo sich alles abspielt. Nein, dieser Laden hier könnte kaum versteckter sein. Mitten in einer gewöhnlichen Wohnstraße, mitten im Grau in Grau, fast schon verboten auffällig. Ist es überhaupt möglich, hier einfach so vorbeizugehen? Ich jedenfalls lasse mich für den Moment einfangen in einem Meer aus Grün-Gold.
Ich bin kurz davor hineinzugehen, doch letztendlich überlege ich es mir anders, weil die meisten Dinge nur aus einer gewissen Distanz schön sind. Auf die Nähe verliert alles seine Magie. Selbst dieser Laden.
Also mache ich mich wieder auf den Weg, lasse meinen Blick im Vorbeigehen noch einmal über das Gebäude gleiten. Da entdecke ich es: Ein kleines Schild neben der Türklinke. Schmale schwarze Buchstaben auf milchweißem Papier. »Aushilfe gesucht«. Und wenn ich vorhin über ein Zeichen des Universums nachgedacht habe, dann bin ich mir jetzt sicher. Das ist kein Zufall. Nicht heute, am Beginn des Sommers. Heute ist der Tag für universelle Zeichen. Der Tag, an dem die Welt endlich mit mir spricht.
Gut, so spektakulär ist ein Retro-Laden, der eine Aushilfe sucht, nun auch wieder nicht. Aber gemessen an dem, was das Leben sonst für mich bereithält, ist es zumindest ein Anfang.
Ein Anfang, aus dem ein Sommerabenteuer werden kann, vielleicht nicht so groß und schillernd wie in einem Hollywoodstreifen, aber wenigstens ein bisschen spannend. Der Gedanke lässt mich nicht mehr los, den ganzen Weg nach Hause nicht. Veränderung liegt in der Luft wie eine verlockende Duftnote, die sich in meiner Nase festsetzt. Verlockend und gut.
Ganz anders als die große Veränderung damals, als ich zwölf war, als Papa ausgezogen ist und die Tränen bei uns eingezogen sind wie alte Verwandte, die einem den Kühlschrank leer essen und es sich gemütlich machen, um ewig zu bleiben. Nein, das ist gut anders. Ein Job in einem Vintage-Laden … das klingt genau richtig. Richtig für jemanden, der viel zu viel geweint und zu wenig gelacht hat in den letzten drei Jahren.
Richtig für mich.
»Wie war es in der Schule?« Mama stochert in ihren Spaghetti herum, als wolle sie sie malträtieren und nicht essen. Ich glaube, sie hat Nudeln langsam satt. Seit sie so viel arbeitet und mehr Zeit in der Werbeagentur verbringt als zu Hause, gibt es hauptsächlich Nudeln, wahlweise mit Tomatensoße, Basilikum-Pesto oder Bolognese. Wenn ich koche, dann nur Spaghetti, weil ich nichts anderes kann als Spaghetti, und wenn sie kocht, dann nur Spaghetti, weil ihr die Zeit fehlt. Aber so ist das nun einmal, wenn man Miete für eine große Wohnung zahlen muss. Groß wie zweistöckig und mit Balkon. Hat sie damals mit Papa ausgesucht, zugeschnitten auf zwei Einkommen und vier Personen. Geworden sind es nur drei: Mama, Papa und ich. Keine Geschwister. Und geblieben sind nur zwei. Mama und ich.
»Es war … okay.« Ich schiebe mir eine Gabel Nudeln in den Mund.
»Und wie war es wirklich?« Sie zieht die Augenbrauen hoch.
»Paula fährt nach Asien«, sage ich, als wäre das eine Antwort. »Vietnam, China, Japan, Südkorea und dann Indonesien. Oder auch in einer anderen Reihenfolge.«
»Das klingt toll. Und was ist mit … wie hieß sie noch gleich?«
»Anne.« Ich zucke mit den Schultern. »Ich weiß nicht, ich schätze, sie fährt auch irgendwohin. Spanien oder so.«
Ich zucke zusammen, als Gabel und Teller mit einem Klirren aufeinandertreffen.
»Ophelia, es tut mir wirklich leid, dass wir diesen Sommer nicht verreisen können. Ich weiß, wie sehr du es dir gewünscht hast.« Mama wirft mir ein müdes Lächeln zu.
Sie hat recht, ich habe wochenlang nichts anderes getan, als Reiseangebote zu vergleichen, Ibiza all-inclusive versus London in fünf Tagen. Doch dann kam das Leben dazwischen. Das Leben und das Geld. Mama hat vor, viel zu arbeiten, und das auch im Sommer. Für die Wohnung, für später und für uns. Ich verstehe sie, klar, wie könnte ich auch nicht. Aber ich hätte alles gegeben für eine Reise, nur eine ganz kleine unspektakuläre Reise, die dem Ferientrott die Schwere nimmt. Zugeben würde ich das nie, vor allem nicht Mama gegenüber. Sie hat schon genug am Hals, wichtige Dinge nämlich, wie uns beide durchzufüttern und dafür zu sorgen, dass genug frische Klamotten in meiner Größe im Kleiderschrank hängen. Das ist ohne Papas Architektengehalt nämlich gar nicht so einfach.
»Ach, weißt du, zu Hause ist es doch sowieso am schönsten«, sage ich.
Sie nickt. »Du hast recht. Und wir werden natürlich trotzdem etwas unternehmen. Tagesausflüge, Theater, Museum und so. Klingt doch auch nicht schlecht, oder?«
Der Ausdruck in Mamas Augen fleht mich an, ihr zuzustimmen, ihr zu versichern, dass es okay ist, wie es ist. Ich glaube, sie zweifelt. An sich und an dem Ganzen hier. Am liebsten würde ich sie in den Arm nehmen, lang und noch länger, ihr das sagen, was schon seit einer Ewigkeit in meinem Kopf herumschwirrt. Dass sie die Beste ist, dass sie alles richtig macht, dass ich sie lieb habe, weil sie für mich da ist. Natürlich spreche ich es nicht aus. Etwas...
Erscheint lt. Verlag | 30.4.2024 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Kinder- / Jugendbuch |
ISBN-10 | 3-8458-5868-0 / 3845858680 |
ISBN-13 | 978-3-8458-5868-5 / 9783845858685 |
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