Schnabeltier Deluxe (eBook)

Jugendbuch ab 14 Jahre über Freundschaft und Erwachsenwerden

(Autor)

eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
208 Seiten
Fischer Sauerländer Verlag
978-3-7336-0649-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Schnabeltier Deluxe -  Sarah Jäger
Systemvoraussetzungen
14,99 inkl. MwSt
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen
Bevor diese Geschichte beginnt, fliegt eine Kaffeemaschine aus dem Fenster des Lehrerzimmers. Dann fliegt Kim. Und zwar von der Schule. Ihre Mutter schickt sie in ein Dorf im Nirgendwo, zu ihrem Exfreund René. Dort geht Kim zur Schule und arbeitet nebenbei an einer Tankstelle, wo sie Janne trifft, der süchtig nach Erdnussbutter-Schokoriegeln ist. Gegen ihren Willen werden Janne und Kim so etwas wie Freunde. Doch sie bleiben nicht lange zu zweit. Aus Janne, Kim und Alex(andra Sofie) entsteht ein Dreiergespann. Bald wissen sie nicht mehr so richtig, wer genau was für wen empfindet. Und wäre das nicht schon kompliziert genug, muss Kim immer wieder den Drang bekämpfen, alles zu zerstören, was ihr zu nahe kommt. Sarah Jäger erzählt klug, berührend und humorvoll von einer Dreierfreundschaft, die eigentlich zum Scheitern verurteilt ist.

Sarah Jäger lebt im Ruhrgebiet. Sie ist IHK-zertifizierte Call-Center-Agentin, ausgebildete Theaterpädagogin und umgeschulte Buchhändlerin. Ihr Jugendbuch «Die Nacht so groß wie wir» war für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert und wurde mit dem Hans-im-Glück-Preis ausgezeichnet.

Sarah Jäger lebt im Ruhrgebiet. Sie ist IHK-zertifizierte Call-Center-Agentin, ausgebildete Theaterpädagogin und umgeschulte Buchhändlerin. Ihr Jugendbuch «Die Nacht so groß wie wir» war für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert und wurde mit dem Hans-im-Glück-Preis ausgezeichnet.

Ich überquere den Dorfplatz und gebe die Adresse vom Ex-Freund in den Routenplaner ein. Er schickt mich links die Dorfstraße hoch, dann rechts in eine Seitenstraße. Rechts, links, rechts, die Verwirrungstaktik der Navigationssysteme, die bei mir immer funktioniert. Doch bevor mir schwindelig wird, erreiche ich schon das Haus, in dem der Ex-Freund wohnt. Es ist weiß verputzt, ein bisschen grau vielleicht.

Als meine Mutter und ich vor vielen Monaten im Dorf gewesen sind, haben wir das Haus gar nicht zu Gesicht bekommen. Wir haben uns mit dem Ex-Freund vor dem Supermarkt getroffen und sind in seinem Auto raus zu einem See gefahren, damit meine Mutter und der Ex-Freund noch mal ‹in Ruhe über alles reden› konnten. Ich blieb im Auto auf der Rückbank sitzen und würgte mir die Haferkekse rein, während die beiden um den See gingen und versuchten, nicht miteinander zu streiten. Irgendwann kamen sie zurück, beide mit verschränkten Armen, und der Ex-Freund fuhr uns in die Stadt zum Bahnhof. Warum wir den ganzen Aufwand betrieben hatten, mit den Umstiegen und Zügen und Bahnhöfen, und vor allem, warum ich hatte dabei sein müssen, wollte mir nicht so richtig einleuchten, schließlich hätten sie auch telefonieren oder schreiben können, aber ich sah das zerknüllte Taschentuch in der Hand meiner Mutter, sah ihre geröteten Augen, und deshalb sagte ich nur mit größtmöglicher Verachtung in der Stimme: «Nie wieder fahren wir da hin, die haben noch nicht mal Kekse mit Kokosraspeln», und war mir sicher, dass sie das ein wenig tröstete.

Nun stehe ich vor der Haustür, sie ist dunkelblau gestrichen, an manchen Stellen blättert die Farbe ab. Die Klinke wird von innen heruntergedrückt, und der Ex-Freund erscheint in der Türöffnung. Du bist aber klein geworden, denke ich erstaunt. Während er bei uns gelebt hat, ist er größer gewesen, zwei Handbreit mindestens. Entweder es liegt am Dorf, oder ich bin ihm schon jetzt über den Kopf gewachsen.

«Schön, dass du da bist», sagt er. Ich muss den Blick ein wenig senken, damit ich ihm in die Augen gucken kann, und in seinen Augen, da blitzt etwas auf, das Angst sein könnte. Wahrscheinlich ist ihm erst in diesem Moment klar geworden, worauf er sich eingelassen hat – und er weiß noch nicht einmal von der Sache im Treppenhaus.

So oder so, ist mir und dem Koffer egal. Denn er kann nicht mehr zurück, seine Tür steht uns offen. Ich stelle schnell einen Fuß auf die Schwelle und bemerke dabei die Filzpantoffeln.

Der Ex-Freund trägt ein gestreiftes Hemd und Jeans und einen Zehntagebart, so kenne ich ihn, aber die Filzpantoffeln an seinen Füßen, die sind mir neu. Und kaum habe ich sie bemerkt, deutet der Ex-Freund auch schon auf die Turnschuhe und fragt: «Könntest du vielleicht …?»

Wenn die Regeln immer die anderen machen, ist es doch kein Wunder, dass man sich ständig irgendwo stößt. Aber für den Augenblick bleibt mir nichts anderes übrig, als die Schuhe auszuziehen und nebeneinander vor die Haustür zu stellen.

Ich lehne die angebotenen Plüschpantoffeln ab, folge dem Ex-Freund auf Wollsocken durch den Flur.

Über hellbraune Fliesen laufen wir in das Wohnzimmer, vorbei an einem ovalen Esstisch mit sechs Stühlen, vorbei an braunen Ledermöbeln, und durch die Terrassentür gelangen wir schließlich in einen kleinen Garten.

Dort sitzt ein altes Wesen in grauer Stoffhose und weißer Seidenbluse, die bis oben hin zugeknöpft ist. Sitzt auf einem Gartenstuhl aus Plastik. Das ist sie also, die Tante. Neben ihr auf dem Tisch stehen eine Glaskanne mit Tee und eine kleine Porzellanschale. Mit Haferkeksen. Sie sieht mich mit gerunzelter Stirn von oben bis unten an, vielleicht wegen der kurzen Haare, vielleicht wegen des Pickels neben dem linken Mundwinkel, vielleicht wegen des Eisteeflecks auf dem grellgrünen T-Shirt, und zum zweiten Mal an diesem Tag denke ich an Luca, denn sie hat auch immer Flecken auf dem T-Shirt gehabt. Seit ein paar Tagen, seit dem Blaulichtgewitter vor unserem Haus, muss ich ohnehin oft an sie denken.

Als die Tante die Wollsocken sieht, eine rot gepunktet, eine orange, zieht sie ihre Augenbrauen hoch.

«Tja. Das ist sie also», sagt sie und betrachtet wieder den Eisteefleck.

«Schön, dich kennenzulernen», erwidere ich und bin überrascht, wie freundlich meine Stimme klingen kann, wenn ich mir nur Mühe gebe.

«Sie.» Die Tante hingegen gibt sich keinerlei Mühe. Weder ist sie freundlich noch verständlich.

«Ich?», frage ich deshalb lieber nach.

«Nein, ich.»

«Ach, du.»

«Sie», sagt die Tante noch einmal, und bevor ich wieder «Ich?» fragen kann und wir im Kreis fahren wie der Bus auf der Dorfstraße, schiebt sie «Schön, Sie kennenzulernen» hinterher. «Du sagst bitte Frau Geissler zu mir.» Die Plüschpantoffeln sind wohl nur der Anfang gewesen.

Doch ich habe mir fest vorgenommen, dass ich das hier nicht vermasseln werde. Ich werde die Turnschuhe ausziehen und brav nebeneinanderstellen, ich werde die Tante ‹Frau Geissler› nennen, wenn sie das will, und ich werde sogar noch einmal Haferkekse essen und «Mmh, köstlich» sagen. Ich werde das hier nicht vermasseln. «Bitte benimm dich, wenn du bei ihnen bist», hat mich meine Mutter angefleht, und ich werde ihr und mir beweisen, dass die Sache im Treppenhaus wirklich ein Unfall gewesen ist, dass der Mensch vom Schulamt unrecht gehabt hat und dass es für mich nicht nur Türen aus Holz und Metall gibt. Ich werde beweisen, dass ich das hinbekomme, wenn ich mich nur genug anstrenge. Das Papierkügelchen im Bus ist ein letzter Ausrutscher gewesen, eine misslungene Generalprobe. «Sie haben wirklich einen schönen Garten, Frau Geissler», sage ich und bewundere gemeinsam mit dem Ex-Freund die blühenden Rosensträucher, gehe in Socken über die gemähte Rasenfläche, streiche mit der Hand ganz sanft über den Schnittlauch im Hochbeet und rieche am Lavendel, ich strenge mich mächtig an – während die Tante ausdruckslos auf ihrem Gartenstuhl sitzen bleibt.

Bevor ich eine Stunde später dem Ex-Freund und der Tante ins Wohnzimmer folge, knicke ich eine der Rosen ab und werfe sie auf die Erde. Ihre Blätter sind an den Rändern schon braun gewesen, sie wäre ohnehin bald verwelkt, deshalb zählt das nicht wirklich. Aber ab jetzt zählt es richtig, sage ich mir, ab jetzt wird nichts mehr vermasselt.

Die Tante sitzt nun auf dem braunen Ledersofa, und ich überlege noch, ob ich mich neben sie setzen soll, da sagt sie zu dem Ex-Freund: «Du kannst ihr jetzt das Zimmer zeigen.»

Wieder folge ich dem Ex-Freund durch das Wohnzimmer und den Flur. Er greift sich den großen Koffer, und wir steigen die hölzerne Treppe hinauf in den ersten Stock, wo keine Fliesen mehr liegen, sondern ein hellbrauner Korkboden. «Rechts ist das Bad», der Ex-Freund deutet auf eine Tür. «Links ist das Schlafzimmer meiner Tante. Und hier …», er öffnet die Tür in der Mitte, «… hier kannst du schlafen.»

Der Blick fällt sofort auf die grauen Metallregale, die vor den hellblau gestrichenen Wänden stehen. Ein Regal ist vollgestellt mit leeren Konservengläsern in verschiedenen Formen und Größen. In den drei anderen Regalen stehen die Gläser kopfüber auf ihren Schraubverschlüssen und sind mit farbigen Flüssigkeiten gefüllt. Auf einem Tapeziertisch vor dem Fenster liegen kleine Tierfiguren aus Hartgummi und Plastik. Drei Schritte sind es von der Tür bis zum Tisch. Ich nehme eine der Figuren in die Hand, es ist ein kleiner Pinguin, der mit seinen Flügeln einen glitzernden Stern hält.

«Das ist das Bastelzimmer meiner Tante. Schneekugeln macht sie», erklärt der Ex-Freund, «und Beruhigungsgläser.»

Ich stelle den Pinguin zurück auf den Tisch neben ein grinsendes Alpaka. Schneekugeln mit kleinen Pinguinen, grinsenden Alpakas und tanzenden Flamingos sind viel zu nett für die Tante, da hätte ich in den Gläsern eher menschliche Körperteile in Formaldehyd-Lösungen erwartet, eine abgetrennte Hand oder einen abgeschlagenen Fuß oder ein herausgerissenes Herz. Ein ausgestopftes Eichhörnchen mit vor Schreck aufgerissenen Augen, so etwas hätte ich erwartet. Aber Glitzersterne und die zugeknöpfte Seidenbluse gehören für mich definitiv nicht in den gleichen Gedanken. Sie ist mir ein Rätsel, die Tante. Und das soll auch so bleiben, denn ich habe nicht vor, dieses Wesen, das da unten auf dem Ledersofa sitzt, näher an mich heranzulassen. Schließlich will ich es nicht vermasseln.

«Das Sofa kannst du ausklappen», der Ex-Freund deutet auf eine violette Couch, die an der rechten Wand steht, «und Bettwäsche …», er sieht sich suchend um, «Bettwäsche bringe ich dir gleich.»

Er lässt mich allein, nachdem er noch gesagt hat: «Du machst es dir erst mal gemütlich, nicht wahr?» Dabei hat er auf die vier leeren Regalfächer gedeutet, die für das nächste Jahr offensichtlich mir gehören sollen.

Ich setze mich auf das Sofa und denke, dass es voll in Ordnung wäre, ja, vielleicht sogar richtig normal, wenn ich jetzt zu heulen anfange. Ich atme mehrmals tief ein, aber ich fühle die Tränen nicht, nur ein leichtes Ziehen irgendwo zwischen Herz und Schlüsselbein, und immer noch diese großen Hände, die gegen die oberen Rippen drücken, deshalb lasse ich es bleiben, stopfe stattdessen die Klamotten aus dem Rollkoffer in die vier Regalfächer. Wenigstens leuchten sie jetzt in allen Neonfarben des Regenbogens.

Ich höre die lauten Stimmen von dem Ex-Freund und der Tante, nur in Fetzen dringen die Worte zu mir.

Ex-Freund: … Du …

Tante: … Auf keinen...

Erscheint lt. Verlag 13.2.2024
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Kinder- / Jugendbuch Jugendbücher ab 12 Jahre
Schlagworte aufwachsen auf dem Land • Bücher ab 14 • Bücher für Jugendliche • Bücher für Jungs • Bücher für Mädchen • Coming of Age • Deutscher Jugendliteraturpreis • Die Nacht • Dreieckbeziehung • Erste Liebe • Erwachsenwerden • Freundschaft • John Green • Jugendbücher • Jugendbücher ab 14 • jugendbuch jungen ab 14 • jugendbuch mädchen ab 14 • Jugendbuchpreis • Jugendbuch Schule • Jugendliebe • Jugendliteratur • Jugendliteraturpreis • Jugendroman • Kinderbuch ab 14 • Kinderliteratur • Kleinstadt • nach Süden • nach vorn • Schnabeltier • Schulverweigerung • so groß wie wir • Systemsprenger • Tankstelle
ISBN-10 3-7336-0649-3 / 3733606493
ISBN-13 978-3-7336-0649-7 / 9783733606497
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
EPUBEPUB (Wasserzeichen)
Größe: 4,8 MB

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich