Calidragos 2. Auf den Spuren der Bestie (eBook)
288 Seiten
Verlag Friedrich Oetinger
978-3-96052-351-2 (ISBN)
Viktoria Etzel hat ihren Traum, täglich von den schönsten Geschichten umgeben zu sein, zum Beruf gemacht. Nach dem Studium der Germanistik und Philosophie arbeitet sie nun als Bibliothekarin.
Viktoria Etzel hat ihren Traum, täglich von den schönsten Geschichten umgeben zu sein, zum Beruf gemacht. Nach dem Studium der Germanistik und Philosophie arbeitet sie nun als Bibliothekarin.
Kapitel 2
Ich starrte einen langen Moment auf die Zeilen, bevor ich mich schlagartig abwandte und das zerknitterte Blatt Papier zwischen den Seiten meines Notizbuches verschwinden ließ.
»Echt jetzt? Schon wieder der Brief?«, fragte Lou. Gähnend rollte sich der blau geschuppte Drache auf den Rücken und streckte alle vier Beine in die Luft. Wie ein Welpe reckte er mir seinen Bauch entgegen.
»Nee, Quatsch. Nur Hausaufgaben«, log ich reflexartig und stopfte das Notizbuch in meinen Rucksack, der unter dem Schultisch stand. Noch waren wir allein im Klassenzimmer, und Lou musste sich nicht verstecken. Er setzte sich auf die Hinterbeine und funkelte mich so misstrauisch an, dass ich meine kleine Lüge direkt bereute.
Vor einem Drachen etwas zu verbergen, war zwecklos … vor allem, wenn man mit besagtem Drachen eine magische Bindung eingegangen war.
»Als ob«, maulte Lou.
Ich erwiderte nichts, bis er mir mit seinem spitzen Schwanzende gegen den Oberarm pikste. »Hör auf! Ich hab nur noch mal was nachgesehen!«, versuchte ich mich zu verteidigen … und machte es damit nur schlimmer.
»Ja klar, was nachgesehen … Verarschen kann ich mich auch selbst«, murrte Lou und verdrehte die Augen. »Du musst die blöden Zeilen doch inzwischen auswendig können.«
Ich presste meine Lippen aufeinander. Was konnte ich dafür, dass mich die handgeschriebenen Worte nicht loslassen wollten und jedes Mal ein mieses Gefühl in meinem Bauch hinterließen, wenn ich über sie nachdachte? Seit fast zwei Monaten spukte der geheimnisvolle Brief in meinem Kopf umher, und an allem war nur diese verfluchte Gilde schuld. Alles, was ich von ihr kannte, war ihr Siegel, das einen wasserspeienden Drachen zeigte. Ein Siegel, das musste man sich mal vorstellen … Wer verwendete denn bitte heutzutage noch so was? Und verschickte dann auch noch so abstruse Gedichte? Das war so was von mittelalterlich.
Die Verse handelten von einer mächtigen Bestie, von Schicksal und noch mehr mystischem Blödsinn, der überhaupt keinen Sinn ergab. Aber am unheimlichsten war der Titel: Aliento de Sangrelis. Das bedeutete Atem des Blutes. Ich wollte es erst nicht glauben, als ich die Worte nachgeschlagen hatte, aber jeder Onlineübersetzer hatte dasselbe Ergebnis ausgespuckt. Mir kroch es eiskalt den Rücken hinunter, wenn ich zu lange darüber nachdachte, welche tiefere Bedeutung der Titel haben könnte. Hätte diese Gilde nicht einfach direkt schreiben können, was sie von mir wollte, anstatt mir dieses sonderbare Gedicht zu schicken?
Wochenlang hatten Lou und ich uns zusammen mit Ellie, Mango und Anton den Kopf darüber zerbrochen, was die Verse bedeuten könnten, aber wir waren zu keinem Ergebnis gelangt. Mango war felsenfest davon überzeugt, dass das Gedicht eine Prophezeiung war (gruseliger Gedanke!). Ellie tippte auf ein Rätsel, und Anton glaubte, da würde sich jemand einen dummen Scherz mit mir erlauben.
Bevor mein Paps und ich nach Bonfire Bay gezogen waren, hätte ich vermutlich sofort Antons Theorie zugestimmt. Aber seit wir in einer Stadt lebten, in der es von magischen Wesen nur so wimmelte und ein leibhaftiges Exemplar vor mir auf dem Tisch saß, war ich mir da nicht mehr so sicher. Ich hatte das dumpfe Gefühl, dass in Bonfire Bay niemals etwas zufällig passierte, und dass ich diesen Brief erhalten hatte, schon mal gar nicht! Es war offensichtlich, dass das Gedicht irgendetwas mit den Calidragos zu tun hatte. Das Siegel der Gilde zeigte schließlich einen Wasserdrachen!
Wie so oft in letzter Zeit wanderten meine Gedanken weiter zu meinem Großvater Henry. Er hätte mir bei dieser Sache sicher helfen können. Er hatte nicht nur über die Calidragos Bescheid gewusst, nein, er hatte sogar einen Drachen an seiner Seite gehabt – genau wie ich! Er hatte sein Wissen zwar vor Paps und mir verborgen, aber er hätte mich nicht im Stich gelassen … oder? Ich hasste das quälende Gefühl, dass Opa so viele Geheimnisse gehütet hatte und dass ich quasi nichts über die Vergangenheit meiner Familie wusste.
Die Einzige, die mir vielleicht etwas über Opa Henrys geheimes Leben erzählen konnte, war Camille. Sie wusste immerhin auch über die Gilde Bescheid. Aber kurz nach dem Ende der Sommerferien war sie spurlos verschwunden. Keine Abschiedsworte, keine Nachricht – nichts! Ihr Souvenirshop stand leer, und es gab null Hinweise darauf, was mit ihr und ihren magischen Haustieren, dem Basilisken Serpio und dem Hippokamp Medeia, passiert war. Camilles Verschwinden konnte kein Zufall sein und bestärkte nur meinen Verdacht, dass Opa Henry und die Gilde in irgendeiner Verbindung zueinander standen. Und ich war ja auch nicht der Einzige, der das dachte …
Ricarda, oder besser gesagt La Primera, die Kriminelle, die wir diesen Sommer gemeinsam besiegt hatten, hatte mich erst auf die Idee gebracht. ›Der alte Henry hat euch beide nicht auf die Welt der Calidragos vorbereitet. Er hat seinen Platz in unseren Reihen zu Recht aufgegeben‹ … Das waren ihre Worte gewesen. In unseren Reihen … In meinem Bauch rumorte ein Verdacht, von dem ich mich nicht traute, ihn mit Lou zu teilen.
»Ich weiß, dass du dir Sorgen machst«, fügte Lou mitfühlend hinzu und riss mich damit aus meinen Gedanken. »Aber du musst mich deswegen nicht belügen. Nicht mich.« Er grub seine Krallen in die Tischplatte.
Sofort gesellte sich zu dem unguten Gefühl das schlechte Gewissen. Ich wollte Lou nicht aufregen. Er war ein großer Fan von der Wir-haben-keine-Geheimnisse-voreinander-Nummer, aber etwas in mir sträubte sich dagegen. Nur weil wir zusammengehörten, mussten wir doch nicht wirklich ALLES teilen, oder?
»Lass das! Ich bekomm noch Ärger deswegen!«, grummelte ich in einem durchschaubaren Versuch, das Thema zu wechseln. Auffordernd stupste ich gegen seine Krallen. Als ob es irgendjemanden interessieren würde, wenn die vollgekritzelten und von Macken übersäten Schultische ein paar Kratzer mehr bekämen. »Du bekommst auch was Süßes«, fügte ich unfairerweise hinzu, denn mit dem Zauberwort hatte man einen Drachen spielend leicht in der Hand.
Sofort spitzte Lou seine Ohren und gab seine angespannte Haltung auf. Er lockerte den Druck seiner Krallen und richtete sich auf. »Was hast du denn dabei?« Seine Schnauze zuckte schnuppernd.
Grinsend beugte ich mich unter den Schultisch und zog eine Tafel Schokolade aus meinem Rucksack hervor. Wenn man einen Drachen an seiner Seite hatte, brauchte man immer einen Vorrat an Süßkram. Lous Augen weiteten sich begierig. Es war eine von seinen Lieblingssorten, die mit dem flüssigen Karamellkern in jedem Stück. Ich öffnete die Tafel und brach ihm eine Rippe ab. Stürmisch klaubte er sie mir aus den Fingern, biss eine Ecke ab und schleckte das Karamell heraus. Während Lou sich genüsslich über die Schokolade hermachte, wanderte mein Blick zum Fenster hinaus. Wir hatten Anfang Oktober, und es war jetzt schon ziemlich düster morgens – passte perfekt zu meiner Stimmung.
»Vielleicht solltest du den Brief einfach wegwerfen«, schlug Lou auf einmal zögernd vor.
Ich blinzelte ihn verwundert an, denn ich hatte gar nicht bemerkt, dass sein Schmatzen verstummt war. Es war ihm wohl ziemlich ernst, wenn nicht mal Schokolade ihn lange ablenken konnte.
»Das kann ich nicht«, sagte ich abwehrend. »Ich denke, der Brief bedeutet etwas. Keine Ahnung, was, aber …«
»Ich glaub, du steigerst dich da rein«, unterbrach Lou mich. »Wenn dieser Brief wirklich eine tiefere Bedeutung hätte, dann hätten wir doch längst davon erfahren, oder nicht? Vielleicht sollten wir die Sache einfach vergessen.«
Ich antwortete nicht. Ich konnte Lou einfach nicht von meiner Befürchtung erzählen, dass der Brief nicht nur etwas mit Opa Henry, sondern auch mit Ricarda zu tun haben könnte. Wir hatten die Verschwörung gegen die Calidragos zwar aufgedeckt und aufgehalten, aber mir wurde immer noch schlecht, wenn ich daran zurückdachte, wie Ricarda mit ihrem Teufelsgebräu auf Lou gezielt hatte, um ihm seine magischen Kräfte zu nehmen. Sie hatte ihn zwar zum Glück verfehlt, aber es war knapp gewesen … zu knapp.
Außerdem war die Sache nicht für alle von uns gut ausgegangen. Denn anstelle von Lou hatte Ricarda den Wasserdrachen Cyndra getroffen, der sich daraufhin in einen normalen Axolotl verwandelt hatte. Cyndra … sie war der letzte lebende Wasserdrache gewesen. Ob das hinter dem Brief steckte? Machte die Gilde mich dafür verantwortlich, dass ihr Wappentier nun endgültig ausgestorben war? Aber Ricarda war doch schuld an Cyndras Verwandlung, nicht ich! Wer weiß, was Ricarda dieser Gilde über mich erzählt hatte? Ihre Warnung klang mir noch immer in den Ohren: ›Das wirst du noch bereuen. Warte nur, bis die Gilde hiervon erfährt, dann kannst du dich von deinem geliebten Drachen verabschieden.‹ Mein Magen verknotete sich jedes Mal schmerzhaft, wenn ich über ihre Worte nachdachte.
»Hallo? Noch da? Woran denkst du?« Lou wedelte mit seiner Schwanzspitze vor meiner Nase herum.
»An Cyndra«, gab ich zu. Eigentlich wollte ich Lou nicht beunruhigen, aber Ricardas Andeutungen über Opa Henry gingen mir nicht mehr aus dem Kopf. Wenn Ricarda Teil dieser ominösen Gilde war und sie über den Zaubernapf und sogar die Geheimnisse meiner Familie Bescheid wusste, dann mussten wir mit dem Schlimmsten rechnen. »Was, wenn der Brief doch wichtig ist, was, wenn …«, ich zögerte, fasste mir dann aber doch ein Herz, »… was, wenn du und Mango und der Rest der Calidragos in Gefahr...
Erscheint lt. Verlag | 2.2.2024 |
---|---|
Reihe/Serie | Calidragos | Calidragos |
Illustrationen | Vanessa Glieneke |
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Kinder- / Jugendbuch ► Kinderbücher bis 11 Jahre |
Schlagworte | ab 10 • Bösewicht • Drache • dunkles Geheimnis • Entführung • Fabelwesen • Fantasy • Freunde • Greif • Jagd • Kinderbuch • magische Kreaturen • Magisches Haustier • Rettungsmission • Schildkröte • Spannung • Tierschutz |
ISBN-10 | 3-96052-351-3 / 3960523513 |
ISBN-13 | 978-3-96052-351-2 / 9783960523512 |
Informationen gemäß Produktsicherheitsverordnung (GPSR) | |
Haben Sie eine Frage zum Produkt? |
![EPUB](/img/icon_epub_big.jpg)
Größe: 1,2 MB
DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasserzeichen und ist damit für Sie personalisiert. Bei einer missbräuchlichen Weitergabe des eBooks an Dritte ist eine Rückverfolgung an die Quelle möglich.
Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belletristik und Sachbüchern. Der Fließtext wird dynamisch an die Display- und Schriftgröße angepasst. Auch für mobile Lesegeräte ist EPUB daher gut geeignet.
Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise
Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.
aus dem Bereich