Ein Jahr ohne Juli (eBook)
336 Seiten
Fischer Sauerländer Verlag
978-3-7336-0754-8 (ISBN)
Als Liz Kessler im Alter von neun Jahren ihr erstes Gedicht veröffentlichte, hatte sie sich nicht träumen lassen, dass sie einmal eine der erfolgreichsten Autorinnen der Welt werden würde. Ihre Kinderbücher über das Meermädchen ?Emily Windsnap? und die Feenfreundin ?Philippa? sind internationale Bestseller und haben sich weit über sechs Millionen Mal verkauft. Für ihren Roman ?Als die Welt uns gehörte? wurde sie mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis 2023 (Jugendjury) ausgezeichnet.
Als Liz Kessler im Alter von neun Jahren ihr erstes Gedicht veröffentlichte, hatte sie sich nicht träumen lassen, dass sie einmal eine der erfolgreichsten Autorinnen der Welt werden würde. Ihre Kinderbücher über das Meermädchen ›Emily Windsnap‹ und die Feenfreundin ›Philippa‹ sind internationale Bestseller und haben sich weit über sechs Millionen Mal verkauft. Für ihren Roman ›Als die Welt uns gehörte‹ wurde sie mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis 2023 (Jugendjury) ausgezeichnet. Eva Riekert ist nach längerer Verlagstätigkeit als freischaffende Übersetzerin und Lektorin, vor allem in den Bereichen Kinder- und Jugendliteratur und Junge Erwachsene, tätig. Sie lebt in der Nähe von Husum. Für ihre Übersetzung von »Als die Welt uns gehörte« von Liz Kessler wurde sie mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis 2023 (Jugendjury) ausgezeichnet.
1
»Halt an!«
»Was?« Dad dreht sich im Fahrersitz um. Das Auto macht einen Schlenker.
»Pass doch auf, Tom!«, kreischt Mum, hält sich an der Armlehne fest und zieht einen Packen Kleenextücher aus ihrer Handtasche.
»Halt an!«, wiederhole ich. Gleich ist es zu spät. Ich reiße Mum die Tücher weg und halte sie Craig vor den Mund.
Dad fährt gerade noch rechtzeitig an den Straßenrand, und Craig stürzt aus seinem Sitz, rennt zu der Kiesböschung und beugt sich vornüber.
Es stinkt nach Kotze, als wir weiterfahren.
Ich rümpfe demonstrativ die Nase. »Mmm, riecht mal die frische Landluft!«
Craig kneift mich. »Dabei hab ich doch gar nicht mal ins Auto gespuckt, Jenny«, schimpft er leise, als ich das Fenster runterlasse und meinen Kopf raushalte.
Willkommen bei den Familienferien der Greens! Green wie Grün, sehr passend, wenn man das Gesicht meines kleinen Bruders anschaut. Mum sieht auch nicht viel besser aus. Aber schließlich ist sie im achten Monat; sie hat also eine Ausrede, etwas empfindlich zu sein – vor allem, weil Dad am Steuer sitzt.
Echt, ich könnte diese Fahrt mit geschlossenen Augen kommentieren. Es ist jedes Jahr das Gleiche: Dad, der zu schnell die kurvigen Bundesstraßen entlangrast, Mum, die ihn mindestens zehnmal bittet, langsamer zu fahren, Craig, der mindestens einmal spuckt, dann drei Stunden Stau auf der Autobahn, zusammen mit Millionen anderer Familien, die ebenfalls keine Zeit verlieren wollen und sich am ersten Tag der Sommerferien auf den Weg gemacht haben.
Dann kommen wir in unserer Ferienwohnung an, die genauso aussieht wie jedes Jahr und genauso wie alle anderen Apartments in Riverside Village: großer offener Wohnbereich mit angeschlossener Küche in Creme und Beige, makellos sauber und aufgeräumt. Keine schmutzigen Flecken auf dem braunen Ledersofa. Keine Fingerabdrücke auf dem Fernseher. Mikrowelle, kleiner Grill zum Überbacken von Sandwiches, Abtropfgestell, Obstschüssel – alles aufgezählt und in der Inventarliste vermerkt und präzise an seinem Platz. Genau an demselben Platz wie immer, wenn wir in der ersten Juliwoche in die Wohnung kommen. Jedes Jahr – so weit ich zurückdenken kann.
Aber wir mögen es so. So ist das mit meiner Familie. Wir mögen Ordnung; wir wollen zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein. Veränderungen und Überraschungen mögen wir nicht sehr. Wahrscheinlich haben wir deshalb diese Timesharing-Wohnung und buchen sie jedes Jahr zur gleichen Zeit; damit wir genau wissen, was uns erwartet. Jedes Jahr dasselbe. Ich könnte euch sogar sagen, auf welcher Wiese welche Blumen blühen. Es sind immer dieselben. Jedes Jahr.
»Perfekt«, sagt Dad mit zufriedenem Nicken, als er in die Auffahrt fährt. »Vierzehnhundert Uhr.« Also zwei Uhr für normale Leute. Genau der Zeitpunkt, zu dem wir das Apartment beziehen dürfen.
»Ganz pünktlich«, sagt Mum mit einem Lächeln. »Gut gemacht, Liebling.«
Das mögen sie, meine Mum und mein Dad: pünktlich sein.
Eine eigenartige Zufriedenheit macht sich breit, als wir das Auto ausräumen und uns einrichten. Ein bisschen wie im Winter, wenn man die flauschigen Pullover auspackt, an die man das ganze Jahr nicht gedacht hat; einem aber plötzlich klarwird, wie sehr man sie liebt und sich darauf freut, sie mal wieder anziehen zu können.
In der Mitte des Wohnraums steht ein riesiger Fernseher, drehbar in alle Richtungen, damit man von überall fernsehen kann. Und es gibt ein Bett, das man aus der Schrankwand klappen kann und das man nie bemerken würde, wenn man nicht wüsste, dass es da ist; ein bisschen wie aus einem James-Bond-Film. Nicht dass wir es jemals benutzen – aber einfach die Tatsache, dass es da ist, fühlt sich ein bisschen extravagant und geheimnisvoll an. Und zur Begrüßung steht ein Teller mit Süßigkeiten auf dem Tisch. Ich überlasse die Süßigkeiten Craig und bringe lieber schnell meine Taschen in unser gemeinsames Zimmer, damit ich mir das bessere Bett am Fenster reservieren kann.
Ich kann es nicht leiden, das Zimmer mit Craig teilen zu müssen. Erstens schnarcht und grunzt er die ganze Nacht, und wenn ich ins Bett gehe, muss ich im Dunkel herumtasten, damit ich ihn nicht wecke. Morgens überschüttet er mich dann immer mit lauter dummem Zeug und erzählt mir, dass er von Monstern geträumt hat, die aus Wackelpudding sind. Und zweitens …
»Mach Platz, Schwester.«
Wie aufs Stichwort kommt das kleine Monster reingestürmt, schmeißt seinen Rucksack auf das andere Bett und fängt an, seine Sachen herauszuzerren.
Ungefähr dreißig Sekunden später sind sein Bett und der halbe Fußboden total begraben unter einem Berg Klamotten, einem kleinen Haufen Legosteine, fünf Tüten Süßigkeiten, drei Paar schmutzigen Turnschuhen und ungefähr fünfzig Modellautos, Bussen und Treckern.
»Fertig!«, sagt er, schiebt seinen Rucksack unters Bett und verschränkt die Arme.
»Fertig?«, sage ich. »Fertig mit was?«
»Auspacken«, erwidert er nur. Er greift sich eine Handvoll Legosteine und geht zur Tür.
Als er raus ist, betrachte ich den Bombenkrater, den er hinterlassen hat, und hole tief Luft.
Wie schon gesagt, ich kann es nicht leiden, mit Craig das Zimmer zu teilen.
Ich glaube, dass ich ziemlich reif für mein Alter bin. Behaupten zumindest alle. »Zwölf, mit großen Schritten auf zwanzig zu«, sagt mein Vater immer. Ich bin die Älteste in meiner Klasse und das älteste Kind in unserer Familie. Manchmal nervt es, immer die Älteste und die Vernünftige sein zu müssen – aber so ist es eben.
Vom Flur her höre ich es trampeln – wumm, wumm, wumm –, und Craig taucht wieder im Zimmer auf.
Er schnappt sich noch ein paar Legosteine, dann durchwühlt er verschiedene Jeanstaschen, bis er eine Tüte mit Süßigkeiten findet, die schon wer weiß wie viele Äonen von Jahren alt ist. Er zieht ein Zitronenbonbon heraus und reicht es mir. Ich starre es an und überlege, was dieses Bonbon wohl schon alles hinter sich hat, während er sich einen Lutscher auspackt.
»Was macht Ha, ha, plätscher?«, liest er von dem Einwickelpapier ab.
»Weiß ich doch nicht«, sage ich.
»Jemand, der sich vor Lachen ausschüttet.«
Er verstummt und überlegt, was der Witz bedeutet. Eine Sekunde später lässt er sich vornüber auf sein Bett fallen und bricht in sein unvergleichliches halbersticktes, halb hyänenhaftes Gewieher aus, über das ich lächeln muss, auch wenn ich genervt bin.
So ist das mit Craig. Er ist der einzige Mensch, der es schafft, mich so auf die Palme zu bringen, dass ich schreien könnte, aber dann kann er mich auch wieder so zum Lachen bringen, dass mir die Tränen kommen. Die einzige andere Person, die das kann, ist Juli. Sie ist die lustigste Person der Welt und auch die klügste und schlaueste und überhaupt die tollste! Und sie ist meine beste Freundin!
Dad steckt den Kopf zur Tür herein. »Kleiner Spaziergang, Jenny-Bär?«
»Ja, warum nicht?«, antworte ich, auch wenn ich mich ein bisschen über den Spitznamen ärgere, den er mir verpasst hat, als ich ungefähr drei war. Ich bringe es nicht übers Herz, ihn zu bitten, mich nicht mehr so zu nennen. Das würde ihn nur verletzen – da ertrage ich doch lieber diesen Babynamen.
Ich werfe meine letzten Sachen in eine Schublade und stecke meinen Rucksack in den Schrank. Auf dem Weg nach unten binde ich meine Haare mit einem Gummi zu einem Pferdeschwanz zusammen. Sie machen mich zurzeit verrückt. Wenn ich sie nicht zurückbinde, fallen sie mir in kringeligen Locken über das ganze Gesicht.
»Willst uns wohl mal wieder deine wunderbaren Locken vorenthalten?«, sagt Dad augenzwinkernd, als ich zu ihm und Mum ins Wohnzimmer trete. Wenn es nach ihnen ginge, würde ich meine Haare bis zu den Knien wachsen lassen. Aber ich bin wild entschlossen, sie abzuschneiden, sobald ich meine Eltern überzeugt habe, dass das nicht das Ende der Welt bedeutet. Sie haben Angst, dass es der Anfang von allen möglichen unguten Entwicklungen werden könnte. Ich habe versucht, ihnen zu erklären, dass ein neuer Haarschnitt nicht automatisch gleichbedeutend ist mit zwei Zentimeter dickem Make-up, unzähligen Piercings und einem Tattoo auf dem Nacken, aber irgendwie sind sie schwer von Begriff. Also lächle ich nur und ziehe mein Gummi heimlich noch etwas fester.
Craig liegt ausgestreckt im Wohnzimmer auf dem Boden und baut einen kompliziert aussehenden Roboter aus seinen Legosteinen. Mum hat sich mit einer Tasse Tee und einer Zeitschrift auf das Sofa gelegt.
»Ruh dich aus«, sagt Dad, beugt sich über sie, gibt ihr einen Kuss auf die Stirn und tätschelt ihren Acht-Monats-Bauch.
Er fährt Craig im Vorübergehen durch die Haare. »Bis später, Kleiner«, sagt er. Craig sieht nicht mal auf. Die Zungenspitze im Mundwinkel, hat er nur noch Augen für seinen Roboter.
Auf dem Kiesweg nimmt Dad meine Hand. Ich bremse mich und ziehe sie nicht weg und halte ihm auch nicht vor, dass ich keine fünf mehr bin. Stattdessen gehe ich eine Minute so mit ihm weiter, dann tue ich so, als müsste ich mir die Nase kratzen, damit ich ihn loslassen kann.
Wir schlendern am zweiten Trakt der Ferienwohnanlage vorbei. Zusammen mit unserem bilden die beiden Gebäude den modernen Teil von Riverside Village. Sie sind erst vor ungefähr zehn Jahren errichtet worden. Die anderen beiden Gebäude stehen schon fast hundert Jahre. Eines davon, das mit der Empfangshalle, liegt vor uns. Es ist ein lang gestrecktes und üppig mit Efeu überwuchertes Landhaus mit einem Reetdach. Das Gebäude, in dem Juli wohnt, liegt dem Empfangsgebäude fast genau...
Erscheint lt. Verlag | 2.5.2024 |
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Übersetzer | Eva Riekert |
Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Kinder- / Jugendbuch ► Kinderbücher bis 11 Jahre |
Schlagworte | Abenteuer • antolin 3. klasse • Antolin Lesebuch • Beste Freundin • England • Familie • Fantasy • Ferien • Ferienanlage • Freundschaft • Freundschaftsgeschichte • für 10 jährige • Hotel • Koma • liz kessler bücher • Mädchenbücher ab 10 • Pferde • Reiten • Schicksal • Schule • spannendes Kinderbuch • Unfall • Wunder • Zeitreise • Zurück in die Zukunft • Zusammenhalt |
ISBN-10 | 3-7336-0754-6 / 3733607546 |
ISBN-13 | 978-3-7336-0754-8 / 9783733607548 |
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