Über kurz oder lang (eBook)

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2024 | 1. Auflage
224 Seiten
Fischer Sauerländer Verlag
978-3-7336-0767-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Über kurz oder lang -  Marie-Aude Murail
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WASCHEN, SCHNEIDEN, LEBEN »Mir egal« ist das Motto des vierzehnjährigen Louis. Doch in einem Pariser Friseursalon lernt er, sein Leben mit ganz neuen Augen zu sehen. Um seinen karrierebewussten Vater zu schockieren, entscheidet sich der vierzehnjährige Louis für ein Schülerpraktikum bei der Friseurin seiner Oma: sieben Tage Haare zusammenfegen im Salon Marielou. Lust dazu hat er eigentlich nicht, aber als er anfängt, ist ihm auf einmal gar nichts mehr egal. Er will sein eigenes Leben leben. Auch gegen den Willen seines Vaters. Mit ihrem umwerfenden Humor, mit viel Sympathie und Herzenswärme erzählt Marie-Aude Murail von den skurrilen Figuren und dem prallen Leben in einem französischen Friseursalon, in dessen Mitte Louis seine Begabung entdeckt. »Ein humorvolles und dennoch ernstes Buch über die Dinge im Leben, die wirklich wichtig sind.« Simone Leinkauf, BuchMarkt Von der Autorin von Simpel, der mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis (Jugendjury) ausgezeichnet wurde.

Marie-Aude Murail stammt aus einer Schriftstellerfamilie aus Le Havre, Frankreich, und studierte Philosophie an der Sorbonne. Sie zählt zu den beliebtesten zeitgenössischen Kinder- und Jugendbuchautorinnen Frankreichs und wurde mit zahlreichen Preisen geehrt. Für ihr Gesamtwerk erhielt sie 2022 die höchste internationale Auszeichnung für Kinder- und Jugendliteratur, den Hans Christian Andersen-Preis. Ihr Roman ?Simpel? wurde mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet. Ihre Jugendbücher erscheinen auf Deutsch exklusiv bei Fischer. Literaturpreise: Gesamtwerk: Hans-Christian Andersen-Preis 2022 ?Simpel? Ausgezeichnet mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis 2008 (Jugendjury) Empfehlungsliste des Katholischen Kinder- und Jugendbuchpreises 2008 Jugendbuchpreis 2008 der Jury der Jungen Leser (Altersstufe 13/14) ?Das ganz und gar unbedeutende Leben der Charity Tiddler? Die besten 7 Bücher, Januar 2012 ?Vielleicht sogar wir alle? Auswahlliste des Heinrich-Wolgast Preises ?Ein Ort wie dieser? Platz 3 Landshuter Jugendbuchpreises 2015

Marie-Aude Murail stammt aus einer Schriftstellerfamilie aus Le Havre, Frankreich, und studierte Philosophie an der Sorbonne. Sie zählt zu den beliebtesten zeitgenössischen Kinder- und Jugendbuchautorinnen Frankreichs und wurde mit zahlreichen Preisen geehrt. Für ihr Gesamtwerk erhielt sie 2022 die höchste internationale Auszeichnung für Kinder- und Jugendliteratur, den Hans Christian Andersen-Preis. Ihr Roman ›Simpel‹ wurde mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet. Ihre Jugendbücher erscheinen auf Deutsch exklusiv bei Fischer. Literaturpreise: Gesamtwerk: Hans-Christian Andersen-Preis 2022 ›Simpel‹ Ausgezeichnet mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis 2008 (Jugendjury) Empfehlungsliste des Katholischen Kinder- und Jugendbuchpreises 2008 Jugendbuchpreis 2008 der Jury der Jungen Leser (Altersstufe 13/14) ›Das ganz und gar unbedeutende Leben der Charity Tiddler‹ Die besten 7 Bücher, Januar 2012 ›Vielleicht sogar wir alle‹ Auswahlliste des Heinrich-Wolgast Preises ›Ein Ort wie dieser‹ Platz 3 Landshuter Jugendbuchpreises 2015 Tobias Scheffel, 1964 in Frankfurt am Main geboren, studierte Romanistik, Geschichte und Geographie an den Universitäten Tübingen, Tours (Frankreich) und Freiburg. Seit 1992 arbeitet er als literarischer Übersetzer aus dem Französischen und lebt in Freiburg im Breisgau. 2011 wurde er für sein Gesamtwerk mit dem Sonderpreis des Deutschen Jugendliteraturpreises ausgezeichnet. Literaturpreise: 2011: Deutscher Jugendliteraturpreis, Sonderpreis für das Gesamtwerk als literarischer Übersetzer

1 Das Praktikum


»Ein Praktikum!«, rief Monsieur Feyrières. »Was sind das denn schon wieder für Erfindungen? Die Kinder können keine drei korrekten Sätze aneinanderreihen, aber müssen ein Praktikum machen. Und überhaupt: Was für ein Praktikum?«

Er wandte sich seinem Sohn am anderen Ende des Tisches zu.

»Weiß ich doch nicht«, brummelte Louis. »Is’ unser Problem, hat die Lehrerin gemeint.«

»›Is’ unser Problem‹«, äffte sein Vater ihn nach. »Geh zu den Straßenkehrern, da werden sie dich nehmen. Nein, nicht Straßenkehrer, heute heißt das ja bestimmt Pfleger des öffentlichen Raumes

Monsieur Feyrières lachte höhnisch. Er selbst war Chirurg. Ein stattlicher Mann mit kräftiger Stimme, der schon ganz allein das Esszimmer ausfüllte. Und doch saßen da noch vier weitere Personen am Tisch: Floriane, sieben, Louis, vierzehn, Madame Feyrières sowie Großmama.

»Wenn es nur um eine Woche geht, könnte ich vielleicht etwas für ihn auftreiben«, sagte diese.

Monsieur Feyrières setzte seiner Schwiegermutter gegenüber eine Grimasse auf, die ein ermutigendes Lächeln sein sollte.

»Meine Friseurin nimmt Lehrlinge«, fuhr Großmama fort. »Ein Praktikant ist doch im Grunde auch nichts anderes.«

Monsieur Feyrières riss die Augen auf.

»Ein Friseurpraktikum? Für Louis?«

»Oh jaa! Super!«, flüsterte Floriane. »Ich will Friseurin werden, wenn ich groß bin.«

Madame Feyrières warf ihrer Jüngsten, die ihren schulfreien Mittwoch damit verbrachte, ihre Rapunzel-Barbie zu frisieren, einen nachsichtigen Blick zu. Dann wandte sie sich an ihre Mutter.

»Weißt du, Mama, ich weiß nicht recht, was Louis in einem Friseursalon tun sollte.«

»Kein Beruf ist schlechter als der andere«, erwiderte Großmama, die mit sechzehn im Backgewerbe angefangen hatte.

»Das wäre doch phantastisch«, schnaubte Monsieur Feyrières und tat, als bewundere er ein Ladenschild auf der gegenüberliegenden Wand: »LOUIS, Damenfriseur.«

Aber da niemandem eine andere Idee für ein Praktikum einfiel, versprach Großmama, mit Marielou darüber zu sprechen, der Chefin des Friseursalons.

»Ist dir das auch nicht unangenehm?«, fragte Madame Feyrières besorgt.

»Mir egal«, knurrte Louis.

 

Als sie im Schlafzimmer waren, fürchtete Madame Feyrières einen Wutanfall ihres Mannes. Bestimmt würde er sich über die verrückten Ideen von Großmama beklagen.

»Im Grunde ist so ein Praktikum keine schlechte Sache«, sagte er, während er sich seiner Krawatte entledigte. »Louis wird lernen, was Arbeit bedeutet, er wird fegen, aufräumen, stundenlang stehen. Ich mach dir keine Vorwürfe, Véra, aber du verwöhnst den Jungen zu sehr. Es wird Zeit, dass er die Realität kennenlernt!«

Monsieur Feyrières redete laut und mit weit ausholenden Gesten, als wäre er umringt von seinen Studenten.

»Eine handwerkliche Arbeit hat auch ihre Tugenden«, bemerkte seine Frau mit leiser Stimme.

Monsieur Feyrières warf ihr einen mitleidigen Blick zu: »Ja, nämlich die große Tugend, dass man begreift, wie wichtig es ist, etwas für seine Schulbildung zu tun.«

 

An eben diese Schulbildung dachte Louis in seinem Zimmer. Er kam in Mathe kaum mit, begriff nicht, was die Französischlehrerin eigentlich von ihm wollte, schlief im Deutschunterricht ein. Von Zeit zu Zeit gab er sich einen Ruck, ein bisschen aus Selbstachtung, ein bisschen, weil er Angst vor seinem Vater hatte. Er verstaute die Hausaufgaben und Kopien in den Tiefen seines Rucksacks. Dann versank er wieder in einem Sumpf aus Träumen und unklaren Gedanken.

 

Der Tag war noch nicht richtig angebrochen, als Louis sich am nächsten Morgen zur Schule aufmachte. Er hatte Lust, einen Umweg durch die Fußgängerzone zu gehen. Großmamas Friseur, der Salon Marielou, lag in der Rue de la Cerche, gegenüber einer Bäckerei. Als er vor dem Schaufenster vorbeikam, ging Louis langsamer. 9.00 bis 20.00 Uhr stand als Öffnungszeit am Eingang, aber im Inneren blinkte bereits ein blasses Neonlicht. Eine Frau in Pantoffeln wischte mit einem Lappen den Fliesenboden. Sie richtete sich auf, eine Hand im Rücken, und blickte auf die Straße hinaus. Louis sah, dass sie ihn gesehen hatte. Er wurde rot und verdrückte sich. Diese von der Erschöpfung überwältigte Frau verfolgte ihn den ganzen Vormittag. War sie Marielou, die Besitzerin des Friseursalons?

»Ich hab einen Praktikumsplatz bei Radio Vibrations gefunden«, erzählte Ludovic stolz in der Schulkantine. »Der Moderator ist endcool, du kannst die Stars sehen und so. Letzte Woche hatten sie L5 im Studio.«

Der Vater von Ludovic Janson war Anästhesist und arbeitete häufig mit Monsieur Feyrières zusammen. Dieser hatte daher beschlossen, dass Louis und Ludovic Freunde sein sollten und dass Floriane und Melissa, die beiden jüngeren Schwestern, sich vergöttern würden. Durch einen glücklichen Zufall waren Ludovic und Louis (wie ähnlich doch schon ihre Vornamen waren!) dieses Jahr in dieselbe neunte Klasse gekommen.

»Was machst du als Praktikum?«

Louis sah seinen Klassenkameraden an und knackte mit den Fingern.

Er begriff immer noch nicht, warum Ludovic sich im Unterricht neben ihn und in der Kantine ihm gegenübersetzte. Manchmal hatte er das Bedürfnis, ihm zu sagen: Ach, übrigens, weißt du was? Du bist mir scheißegal.

»Mir scheißegal«, knurrte Louis.

Und er entlockte seinen Fingergelenken ein klangvolles Knacken.

»Ja, aber was sagst du dann der Französischlehrerin?«

Ludovic war ein guter, leicht gestresster Schüler.

»Ich mach ein Praktikum in einem Friseursalon«, erklärte Louis, um die Wirkung zu testen.

»Willst du mich verarschen?«

Louis dachte ja und antwortete:

»Nein.«

»Hast du keine Angst? Friseure sind doch alle schubidubidu …«

Ludovic setzte ein feminines Gesicht auf und schlenkerte mit dem Handgelenk.

»Täuschend echt«, gratulierte Louis. »Aber im Salon Marielou gibt’s nur Friseurinnen.«

In Gedanken sah er wieder die Frau mit dem Scheuerlappen vor sich.

»Da ist eine, eine Blondine, wenn die sich zum Haarewaschen vorbeugt, siehst du alles.«

Ludovic war für den Rest des Tages sprachlos.

 

Als Louis um sechs Uhr abends aus der Schule kam, legte der Tag sich bereits wieder in ein schönes kleines Federbett aus Nebel. Hier und da leuchteten die Schaufenster der Geschäfte auf übernatürliche Weise aus der Ferne und drangen durch das Halbdunkel. Erneut fühlte Louis sich vom Salon Marielou angezogen. Er blieb einen Moment auf dem Bürgersteig stehen. Es war nicht mehr derselbe Ort. Der Salon war in goldenes Licht getaucht, das aus muschelförmigen Schalen drang. Inmitten von Shampoos, Pflegeshampoos und Volumenshampoos thronte an der Kasse die echte Madame Marielou, eine etwas kräftige Dame, die geschminkt war wie ein Farbkasten. Sie unterhielt sich mit einer Kundin und hatte ihr vertrauensvoll die mollige Hand auf den Arm gelegt. Sie wirkten, als wären sie seit Jahren befreundet. Die Kundin verließ den Laden, verfolgt von dem zärtlichen Lächeln der Chefin, die sich dann einer anderen Dame zuwandte, die gerade ihr Scheckheft hervorzog. Louis begriff, dass Madame Marielou sie genauso lieben würde wie die vorangegangene, und er tauchte mit dem Blick tiefer ins Innere des Salons ein.

Drei Frauen saßen in einer Reihe unter Haartrocknern und blätterten die Klatschpresse durch, um zu erfahren, ob der Mann von Prinzessin Caroline wirklich ein Schläger war (bisher noch ungeklärt), wie viel die Suite für Boris Beckers Hochzeit kostete (2842 Euro pro Nacht) und was es mit dem Krankenhausaufenthalt von Penélope Cruz auf sich hatte (offenbar eine Bandscheiben-Operation, wir hoffen das Beste für den Star).

Ein nicht gerade großer junger Mann in weißem Hemd mit sehr weit geöffnetem Kragen wirbelte um eine alte Dame herum, ein bisschen Frisieren hier, ein bisschen Psschhht Haarlack dort, »Jetzt den Spiegel, den Spiegel bitte!« Er rief nach einem Mädchen in weißem Kittel, die mit einem runden Spiegel herbeigelaufen kam, damit die Kundin ihre Frisur aus allen Blickwinkeln bewundern konnte.

Der Friseursalon verfügte über ein Zwischengeschoss. Während Louis sich den Hals verrenkte, um die obere Etage zu sehen, glaubte er, die Blondine, die er ausschließlich für Ludovic erfunden hatte, würde Gestalt annehmen. Auf Stilettoabsätzen, so spitz, wie man sie nur sehr spät auf verschlüsselten Sendern sieht, stiefelte sie die Treppe herunter. Ein weißes T-Shirt mit einem Salon-Marielou-Schriftzug brachte ihren Oberkörper zur Geltung, und ihre herrlichen Brüste bahnten ihr wie die Galionsfigur eines Schiffes den Weg. Louis verspürte das Bedürfnis, den Kopf zwischen ihnen zu vergraben, und er streckte die Stirn vor. Doing! Er stieß ans Schaufenster. Hart, wenn man die Realität kennenlernt.

 

Zu Hause sah er seine kleine Schwester im Wohnzimmer. Sie spielte mit ihren Barbies, während sie im Fernsehen Charmed sah. Louis setzte sich auf den Teppich und begann, Rapunzel zu bearbeiten. Er merkte, dass ihre langen blonden Haare sich verknotet hatten, und fing an, sie mit der Bürste, die immer auf dem Sofa lag, auszubürsten.

»Bist du zurück, Louis?«, rief plötzlich die Stimme seiner Mutter.

Der Junge warf die Puppe beiseite. Strahlend trat Madame Feyrières ins Wohnzimmer.

»Ich habe eine gute Nachricht wegen deines Praktikums. Ich habe mit Nadine gesprochen.«

Nadine...

Erscheint lt. Verlag 2.5.2024
Übersetzer Tobias Scheffel
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Kinder- / Jugendbuch Jugendbücher ab 12 Jahre
Schlagworte Alltagsgeschichten • Coming of Age • emotionale Bücher • Erwachsenwerden • erwachsen werden buch • Familie • Frankreich • Freundschaft und Liebe • Friends & Family • Friseur • Friseursalon • Frisör • Gewalt • Humor • Jugendbuch • Jugendbücher ab 12 • Louis • Louis Feyrières • Lust & Liebe • Orléans • Praktikum • Schulalltag • Schule • Schülerpraktikum • Schule und Ferien • schullektüre klasse 9 • Selbstfindung • spannendes Jugendbuch • Trauriges Jugendbuch • Vater-Sohn-Konflikt • witziges Jugendbuch
ISBN-10 3-7336-0767-8 / 3733607678
ISBN-13 978-3-7336-0767-8 / 9783733607678
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