Parsafé (eBook)
252 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7583-5697-1 (ISBN)
Arnhild Lensch wurde 1960 in Nordhessen geboren. Seit 1979 veröffentlicht sie verschiedene Erzählungen und Kurzgeschichten und nahm bereits erfolgreich an mehreren Kultur- und Schreibwettbewerben teil.
Die unüberlegte Flucht
Wie oft hatte Aljona sich schon fort gewünscht aus dem muffigen, stickigen Klassenzimmer mit den verblichenen, gelben Wänden, und den eintönigen , hölzernen Tischreihen, die an allen Teilen zerkratzt oder bemalt waren.
Aber heute tut sie es ganz besonders! Weil sie sich so fremd fühlt unter ihren Klassenkameraden, so ausgegrenzt. Und das wird nicht besser. Meistens wird sie ausgelacht, wenn sie etwas sagt, und sogar die Lehrer belächeln sie oft , wie ihr scheint, oder schauen über sie hinweg, als wäre sie Luft.
Aljona. Den Namen haben ihr die Eltern gegeben. Fremd klingt er in Deutschland.
Und in Alexandrowka, dem kleinen Dorf in Russland, wäre es da anders? Sie weiß es nicht. Aljona war noch klein, als die Eltern mit ihr hierher kamen. Fünf vielleicht oder sechs. Aber sie kann sich noch an vieles erinnern. Jetzt ist sie elf. Und ihr Vater hat vor zwei Jahren die kleine Familie verlassen.
Draußen schneit es. Dicht und sanft fällt der Schnee und deckt alles zu.
Aljona beginnt zu träumen, mit den Augen zeichnet sie bunte Häuser in das Weiß hinein mit Dächern aus Holz und manche auch aus Stroh, oder kleine, zeltförmige Jurten, in einer weiten, hügeligen Landschaft mit tiefem, schwerem Himmel ähnlich den Bildern, die sie in der Ausstellung von Kindern einer russischen Malschule vor ein paar Wochen gesehen hat.
„Today it snows“, sagt die Lehrerin und deutet nach draußen. „Repeat these words... Aljona please!“
Aljona hört ihren Namen rufen wie aus weiter Ferne, über Felder und Gras hinweg, immer näher kommt der Ruf, bis..... Die Lehrerin vor ihr steht. Sie deutet noch einmal nach draußen.
„What is it doing?“, fragt sie jetzt eindringlicher. Durch die 5b geht ein verhaltenes Kichern. Aljona schweigt, starrt vor sich hin und vergräbt die Finger ineinander. Stille...... Warten...... Die Lehrerin vor ihr wächst ins Riesenhafte, das Schweigen vergrößert sich, bis es endlich in Lachen zerplatzt. Das Lachen schwillt zu einem einzigen, großen Wogen an, schließlich lacht auch die Lehrerin mit. Aljona lacht nicht. Sie drückt die Hände zu Fäusten zusammen, so dass die Finger ins Fleisch graben, bis es schmerzt.
„Na, Aljona , wenn du so weiter machst, kriegst du noch den Schweigeorden“, sagt die Lehrerin. Aljona wird es heiß und kalt. Wie so oft in ihrem elfjährigen Leben wird sie wieder einmal ausgelacht und ist das schwarze Schaf. So heißt es doch. Aber irgendwo müsste es noch andere geben. Und dann könnten sie zusammen eine kleine Herde von schwarzen Schafen bilden, und sie wäre nicht mehr allein.
Kevin stößt sie von der Seite an, neigt seinen blonden Schopf herüber und flüstert: „Lach doch einfach mit!“
Aljona schluckt. Das fehlte noch! Mitlachen soll sie, sich selber auslachen!
Sie fühlt sich so, als sollte der Teil von ihr, den die anderen nicht verstanden, einfach weg gelacht werden, bis er vor lauter Lachen verschwunden ist! Aber so leicht will sie es ihnen nicht machen! Endlos dehnt sich das Lachen um sie her; wiehernd, kichernd, herausfordernd... Aljona steht auf. So ruckartig und entschlossen, wie es ihr die anderen nie zugetraut haben würden, erhebt sie sich. Das Lachen mündet in Verblüffung und Erstaunen, als sie zur Türe läuft.
Auch die Lehrerin findet kein Wort, um Aljona zurückzuhalten. Das Öffnen und Schließen der grünen Tür passiert wie ohne eigenes Zutun. Aljona hastet über den Gang, reißt ihren Mantel vom Haken, stolpert bereits die breite Steintreppe herunter - und steht auf dem Schulhof. Soll sie heute ihren monatelangen Traum vom Fortlaufen Wirklichkeit werden lassen? Es kommt ihr vor, als habe sie mit der Büchertasche auch den Alptraum des Ausgelacht-Werdens hinter sich gelassen.
Im Rücken die Blicke der ganzen Klasse, die oben am Fenster steht, und ein Ruf der Englischlehrerin, den Aljona schon nicht mehr hört. Vor ihr den Biologielehrer, der mit einem Stapel blauer Hefte den Schulhof betritt. Auch das, was er sie fragt, hört Aljona nicht mehr . Sie spürt nur die Erleichterung, des Laufens, das sie immer weiter von der Schule entfernt. Vorbei am Central-Kino mit dem bunten Schaukasten am vereisten Brunnen, vorbei am geschlossenen Kiosk, durch den verlassenen Stadtpark. Ohne sich im Klaren zu sein, wohin, läuft sie weiter. Nach Hause? Aber wo ist das? Die Mutter kommt ohnehin erst abends zurück. Und dann ist sie müde von ihrer Arbeit in der Wäscherei. Es gibt kein Zuhause, denkt Aljona .Zuhause war in Alexandrowka. Da war die Mutter nie allein. Sie kochte und backte mit den anderen Frauen und morgens fuhren sie gemeinsam in die Molkerei zur Arbeit. Und wie oft wurde gesungen, immer waren Lieder da, die sie begleiteten, bei der Arbeit im Haus und im Garten. Aber dann wollten die Eltern fort. Andere waren auch gegangen. Zu ihren Verwandten nach Deutschland. Doch als sie ankamen, gab es keine Verwandten mehr. Nur noch eine Großtante, die allein in einer kleinen Wohnung lebte und sehr verwirrt war. Nein, bei ihr konnten sie nicht wohnen. Und so gehörten die Holzhäuser und die kunstvoll geschnitzten Zäune oder mit Spitzen geklöppelten Vorhänge der Vergangenheit an. Ein paar von den Vorhängen bedecken zwar hier die Fenster in der Hochhaus-Wohnung, aber das ist nicht das Gleiche. Jedes Mal, wenn Aljona hinausschaut, wundert sie sich, dass die Dorfstraße jetzt so weit unten ist. Doch dann fällt ihr ein, dass es keine Dorfstraße gibt und dass sie im sechsten Stock leben. Es gibt kein richtiges Zuhause mehr und in die Schule geht sie nicht mehr zurück. Der Gedanke erschreckt sie kein bisschen. Sie hat so lange und so oft ans Fortlaufen gedacht, dass es ihr jetzt nur natürlich und richtig erscheint.
Es hat aufgehört, zu schneien. Der liegen gebliebene Schnee ist pappig und nass. An einer Bushaltestelle gerät Aljona in das Gedränge der einsteigenden Fahrgäste und steht plötzlich vor dem Fahrer.
„Wohin?“, fragt er, die Hand schon am Automaten, der die Karte ausspucken soll. Sie starrt ihn an. Hinter ihr drängen sich die anderen Fahrgäste. „Also, wohin?“ fragt der Fahrer noch einmal. „Zur Endstation“, sagt sie schnell, ohne sich weiter zu besinnen, sucht das Geld zusammen und bekommt ihre Fahrkarte
Dann sitzt sie im Bus, das Schaukeln und die Wärme machen schläfrig. Schnee fällt wieder in dichten, nassen Flocken auf die Scheiben und verwischt die Landschaft draußen. Graue und braune Flächen ziehen vorüber. Jetzt sind sie schon außerhalb der Stadt und der Bus schwankt in dumpfem Gleichmaß über die Landstraße.
....In der Jurte wird es warm. Die Frauen haben ein Feuer angemacht. So ein Feuer können nur Frauen miteinander zustande bringen. Sie sitzen in ihrer bunten Kleidung davor und verteilen Suppe mit einer alten, verbeulten Schöpfkelle....
„Aufwachen! Endstation“ - Vor ihr steht der Busfahrer, ringsum die meisten Sitze sind schon leer. Noch trunken vom Schlaf erhebt Aljona sich langsam und tastet die Reihe der Metallgriffe entlang zur Tür. Dann steigt sie in die Kälte hinab. Sie steckt die Hände in die Manteltaschen und findet links zwei verklebte Hustenbonbons und ein zerknülltes Taschentuch; rechts einen abgebrochenen Bleistift. und einen Euro. Ein Euro? Der reicht ja nicht mal für die Rückfahrt. Sie blickt sich suchend um.
Da sind auf einmal zwei helle Augen in einem lachenden Jungengesicht. Seine Haare leuchten rot und er ist ziemlich dick. Alles an ihm lacht. Das hat ihr noch gefehlt! Aljona verzieht keine Miene und wendet sich ab. Sie hebt den Kopf, macht ein paar Schritte um den Bus herum und liest auf einem Schild, das nach rechts zeigt die Aufschrift Blauenstraße.
„Die blaue Straße führt in eine Stadt, die Rowinda heißt, da will ich auch hin. Wenn du möchtest, können wir zusammen gehen.“ Der rothaarige Junge steht neben ihr. Aljona sieht ihn nachdenklich an. „Rowinda?!“, sagt sie halblaut. „Nie gehört...“ Der Junge scheint nicht so viel vom Nachdenken zu halten. Er wird bereits ungeduldig, aber das Lachen bleibt in seinem Gesicht. „Was gibt´s denn da zu überlegen? Komm doch einfach mit, dann wirst du schon sehen!“ Zwei Pferde ziehen einen Schlitten mit dick eingepackten Leuten vorbei. Wie seltsam, eine Kutsche hier an der Stadtgrenze von Grauwinkel, denkt Aljona. Der Junge neben ihr schüttelt sich vor Lachen. Die Leute auf dem Schlitten blicken sich wie ertappt um. „Weshalb lachst du denn diese Leute aus?“, fragt Aljona mit vorwurfsvollem Unterton. Der Junge sieht sie verwundert an. „Auslachen? Was ist das?“
Jetzt ist Aljona sich sicher: Der ist ein bisschen beschränkt. Unwillkürlich muss sie lächeln. Der Junge fasst dies als
Aufforderung auf, sie nun endlich hinüber zu ziehen auf die Blauenstraße. „Wirst sehen, Rowinda wird dir auch gefallen. Da hört das Lachen nie auf. Es ist die Stadt der Lachenden. Wenn einer lacht, lachen alle mit, auch unser König Ranzenpuffer.“
Nach diesen Worten kann Aljona ihr Grinsen nun...
Erscheint lt. Verlag | 4.12.2023 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Kinder- / Jugendbuch ► Jugendbücher ab 12 Jahre |
Schlagworte | Fantasyy • Jugendbuch • Modernes Märchen • Mystik • Phantasie |
ISBN-10 | 3-7583-5697-0 / 3758356970 |
ISBN-13 | 978-3-7583-5697-1 / 9783758356971 |
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