Anmerkungen des Autors Die Geschichte eines kleinen Jungen

Es war einmal ein kleiner Junge, der lebte in einem fernen Land namens Clovis in Kalifornien. Eines Abends im Jahr 1997 lag der Junge noch wach, obwohl längst Schlafenszeit war. Er hatte sich mit einer Taschenlampe, einem Bleistift und einem Skizzenheft unter seiner Bettdecke versteckt und lauschte auf Schritte seiner Eltern im Flur. Der Junge zeichnete fleißig und ohne, dass jemand etwas davon ahnte, an einer Landkarte – allerdings von keinem Ort, den er je besucht hatte. Das, was diese Karte zeigte, existierte nur in seiner Phantasie.

Es war nämlich so: Jeden Abend vor dem Schlafengehen las die Mutter dem kleinen Jungen Geschichten aus einem dicken Märchenbuch vor. Die wundersamen Abenteuer und farbenfrohen Illustrationen weckten die Wissbegierde des kleinen Jungen und füllten seinen Kopf mit unzähligen Fragen.

»Wer ist der Mann im Spiegel der bösen Königin?«

»Gibt es mehr als einen Märchenprinzen?«

»Wieso ist Jack die Bohnenranke hochgeklettert?«

»Was ist aus Goldlöckchen geworden, nachdem sie die drei Bären getroffen hatte?«

»Leben all diese Leute im selben Königreich?«

Er wollte immer noch mehr wissen, und mit der Zeit wurde seine Neugier regelrecht anstrengend. Zum Bedauern des kleinen Jungen konnte seine Mutter keine einzige der Fragen beantworten. Darum ermunterte sie ihn, seine eigenen Erzählungen zu schreiben und so die Geheimnisse zu lüften, die ihn derart umtrieben.

Ehe er sich allzu sehr in die Beweggründe und möglichen Vorgeschichten der Figuren vertiefte, hielt es der kleine Junge für das Beste, sich ein Bild davon zu machen, wo sie lebten. Er durchkämmte akribisch sämtliche Märchen auf der Suche nach Hinweisen, wie die Landschaft und Umgebung aussehen mochten, und erstellte eine Karte dieses magischen Landes.

Schneewittchens Mutter starb, während draußen ein Schneesturm tobte – also schloss der kleine Junge daraus, dass ihre Geschichte irgendwo im Norden angesiedelt war. Der königliche Ball mit Cinderella und ihren Stiefschwestern fand an einem warmen Sommerabend statt, somit spielte ihre Geschichte wohl im Süden. Dornröschen schlief mehr als einhundert Jahre lang, ehe sie durch einen Kuss geweckt wurde, darum ging der kleine Junge davon aus, dass ihr Königreich sehr abgelegen sein musste, zum Beispiel ganz weit im Osten.

Außerdem fiel dem kleinen Jungen auf, dass in den meisten Märchen ein gefährlicher Wald erwähnt wurde, deshalb fügte er seiner Karte im Westen ein ausgedehntes Waldgebiet hinzu – mit Lebkuchenhäuschen, Zwergenminen und Höhlen. Viele Märchenfiguren hatten unangenehme Begegnungen mit Wölfen; das brachte den kleinen Jungen auf die Idee, genau in der Mitte der Karte ein Königreich einzuzeichnen, das von einer hohen Mauer umgeben war, die die Einwohner schützte. Trolle und Kobolde wurden in den Geschichten stets als schelmische und boshafte Wesen beschrieben, und so verbannte der kleine Junge sie alle in ein unterirdisches Revier, wo sie niemanden belästigen konnten.

Nachdem die Grenzen gezogen waren, überlegte sich der kleine Junge, wie die einzelnen Schlösser und Paläste aussehen sollten, und gestaltete sie nach Vorbildern, die er in Büchern und Filmen gesehen hatte. Als die Karte fertig war, verbrachte er täglich viele Stunden damit, sie zu betrachten. Er verlor sich in Tagträumen und malte sich all die Abenteuer aus, die er so gern zusammen mit seinen liebsten Märchenfiguren erleben wollte. Doch ganz allein in seiner Welt unterwegs zu sein, erschien ihm ein wenig einsam. Deshalb erfand er sich eine Freundin – eine Zwillingsschwester, um genau zu sein – und nahm sie fortan mit auf seine Phantasiereisen.

Der kleine Junge fand, dass diese ausgedachte Welt einen Namen verdiente, und er grübelte lange und angestrengt darüber nach, wie er sie nennen sollte. Der Name sollte magisch klingen, er sollte beeindruckend klingen, und jeder, der ihn hörte, sollte ihn sofort als einladend empfinden. Zuerst kam er auf »Storyland«, aber so hieß bereits ein Freizeitpark ganz in der Nähe, also taufte der kleine Junge seine Karte stattdessen »Land of Stories«.

Etwa zur selben Zeit lernte der kleine Junge lesen. Er wurde besser und besser darin, und schon bald bekam er erste richtige Bücher mit mehr Text als Bildern geschenkt. Er liebte Geschichten über junge Zauberer, verwunschene Inseln, magische Kleiderschränke und einen Außerirdischen in der sechsten Klasse. Die Kinderbuchabteilung der örtlichen Buchhandlung war sein Paradies, und je mehr Zeit er zwischen den Regalen verbrachte, desto leidenschaftlicher wünschte er sich, eigene Geschichten zu schreiben.

Im Alter von gerade einmal sieben Jahren setzte sich der kleine Junge vor den Computer seiner Eltern und versuchte, »Land of Stories« in ein Kinderbuch zu verwandeln. Er wählte die gleiche Schriftart wie in seinen Lieblingsbüchern und ließ zwischen den Absätzen Platz für Illustrationen. Bald aber musste er feststellen, dass es sich wesentlich langwieriger gestaltete, ein Buch zu schreiben, als er erwartet hatte – vor allem mit dem Wortschatz eines Zweitklässlers. Trotzdem: Der kleine Junge war viel zu entschlossen, um einfach aufzugeben.

Jedes Mal, wenn er ein Kapitel (das in der Regel zwei Seiten mit doppeltem Zeilenabstand umfasste) abgeschlossen hatte, schwang er sich auf sein Fahrrad und radelte quer durch sein Heimatstädtchen, um das Geschriebene seiner Großmutter zu zeigen. Seine Großmutter las das Kapitel und korrigierte alle Rechtschreib- und Grammatikfehler, die sie fand. Und wenn ihr gefiel, was er geschrieben hatte, legte sie es auf einem Stapel auf dem Küchentisch ab – wenn nicht, dann knüllte sie es zusammen und warf es in den Papiermüll.

»Christopher, das kannst du besser«, sagte sie an solchen Tagen zu ihm.

Das war ein ziemlich schmerzhaftes Lektorat, und manchmal brach der kleine Junge in Tränen aus, aber immer spornte die Kritik ihn dazu an, besser zu werden. Also arbeitete der kleine Junge immer härter, und dank der liebevollen Strenge seiner Großmutter wurde er von Tag zu Tag zu einem besseren Schriftsteller.

Je älter er wurde, desto schwieriger wurde das Leben des kleinen Jungen. Seine jüngere Schwester wurde krank und musste mehrmals pro Woche ins Krankenhaus. Ihre Pflege verlangte seinen Eltern all ihre Aufmerksamkeit ab, und das wenige Geld, das sie verdienten, wurde für Arztrechnungen und Medikamente ausgegeben. Außerdem wurde der kleine Junge in der Schule schikaniert, weil er anders war als die anderen Jungen. Seine Mitschüler machten sich lustig darüber, wie er redete, wie er lief und wie er sich anzog. Sie klebten ihm gemeine Sprüche auf den Rücken, stellten ihm im Schulflur ein Bein und brüllten ihm üble Schimpfwörter hinterher, wenn sie ihn sahen.

Der kleine Junge wurde traurig und einsam, und er begann, die Realität zu hassen. Immer öfter flüchtete er sich in Tagträume über das magische Land, und die Tatsache, dass er diese andere Dimension hatte, die nur ihm gehörte, rettete ihm das Leben. Denn sich die Phantasiewelt auszumalen, die er selbst erschaffen hatte, bereitete ihm die größte Freude, die er je empfunden hatte – und er wünschte sich, diese Freude mit Kindern zu teilen, die so waren wie er und ebenfalls eine Ausflucht aus der Wirklichkeit brauchten. Also schwor er sich, dass er eines Tages – wenn er einen größeren Wortschatz zur Verfügung hätte – ein Buch über das magische Land schreiben und veröffentlichen würde.

Der kleine Junge malte immer weiter an der Karte des magischen Landes. Er hängte sie an die Wand seines Kinderzimmers, und jeden einzelnen Tag betrachtete er das Bild und erneuerte das Versprechen, das er sich selbst gegeben hatte. Und schließlich, viele Jahre später, als der kleine Junge zum jungen Mann herangewachsen war, hatte er endlich die Möglichkeit – und den Wortschatz –, seinen Traum zu verwirklichen.

Der junge Mann musste sich anhören, wie albern es wäre, dass er schrieb. Die Leute sagten ihm, er würde seine Zeit verschwenden und die Welt wäre nicht bereit dafür, dass »jemand wie er« ein Kinderbuch schrieb. Doch nach jedem entmutigenden Kommentar rief der junge Mann sich den Schwur ins Gedächtnis, den er als Kind geleistet hatte. Und obwohl er so oft zu hören bekam, dass er es lassen solle und ohnehin nicht schaffen würde, fand der junge Mann irgendwie den Antrieb, trotzdem daran zu glauben.

Im Jahr 2012, nachdem er zwei Jahre lang geschrieben hatte, wurde endlich der erste Band von Land of Stories veröffentlicht. Der junge Mann war so nervös, dass er kaum einen Bissen hinunterbrachte. Er hatte panische Angst vor vernichtenden Besprechungen, er fürchtete, das Buch würde sich schlecht verkaufen, und er sorgte sich, alle, die ihn verhöhnt hatten, würden recht behalten. Bald hatte er sich erfolgreich eingeredet, dass die Geschichten über das magische Land zum Scheitern verurteilt waren. Aber immerhin hatte er sein Kindheitsversprechen eingelöst, und das tröstete ihn.

Zum Glück irrte sich der junge Mann. Zu seiner riesigen Verblüffung wurde Land of Stories: Die Suche nach dem Wunschzauber nicht nur mit begeisterten Kritiken überhäuft, sondern setzte sich auch sofort an die Spitze der Bestsellerliste der New York Times. In den folgenden Jahren wuchs Land of Stories zu einer Reihe mit über einem Dutzend zugehöriger Bücher an, wurde in mehr als dreißig Sprachen übersetzt und weltweit millionenfach verkauft. Die Menschen liebten die Geschichten des jungen Mannes und zwar mehr, als er es je für möglich...